Die wichtigsten Antworten auf die Chat-Fragen zur Orientierungslosigkeit bei Schulabgängern

Wie können junge Menschen bei der Berufswahl unterstützt werden. Dr. med Frank Köhnlein und Katharina Oßwald geben Antworten

Eine Jugendliche mit roten langen Haaren, Lederjacke und Chucks, sitzt lässig auf einer Bank und schaut in sich gekehrt in ihr Smartphone
Jugendlichen fällt es mitunter schwer, sich für einen Ausbildungsberuf oder Studiengang zu entscheiden © praetorianphoto/Getty Images

Ob Jonas mit dem Einser-Abitur oder Mara mit der durchschnittlichen mittleren Reife: Viele junge Menschen wissen nicht, wie es nach der Schule weitergehen soll. Ihre Eltern beobachten dann besorgt, wie das Kind erst mal ein halbes Jahr chillt oder ein Studium anfängt, nach zwei Semestern abbricht und in der Eisdiele jobbt. Woher kommt es, dass vielen jungen Menschen die Entscheidungen über die Zukunft so schwer fallen? Und was können die Eltern dann tun? In unserem digitalen Live-Event sprach Psychologie Heute-Chefredakteurin Dorothea Siegle mit Kinder- und Jugendlichenpsychiater und -psychologe Frank Köhnlein und Diplom-Psychologin Katharina Oßwald über Ängste, Erwartungen - und was jungen Menschen hilft. Nicht alle Fragen der Teilnehmenden konnten dabei beantwortet werden, wir haben sie zusammengefasst und den Experten im Nachgang gestellt. Hier sind die Fragen und Antworten:

Entwicklung in der Pubertät und Adoleszenz

Die Bedeutung der Eltern wurde mehrfach angesprochen. Ein Teilnehmer fragt: In der Adoleszenz geht es auch um Ablösung, ist der Einfluss der Eltern tatsächlich so groß, wie Sie es darstellen?

Köhnlein: Aufgrund meines tiefenpsychologischen Hintergrunds kann ich nur sagen, der Einfluss der Eltern ist wahnsinnig groß. Und zwar bis ans Lebensende der Kinder. Das ist per se nichts Schlechtes. Die Eltern stecken tief in ihren Kindern als etwas, das wir in der Psychologie Introjekte nennen. Der Teilnehmer oder die Teilnehmerin, die diese Frage gestellt hat, kann ja mal überprüfen, wie oft er oder sie denkt: da hätte mein Vater oder meine Mutter dies oder jenes gesagt oder getan. Oder man misst seine eigenen Entscheidungen an den Wertvorstellungen und Maßstäben der eigenen Eltern und sieht dann, ob man deren Hoffnungen und Erwartungen größtenteils erfüllt hat. Natürlich schwindet der Einfluss der Eltern bei den Jugendlichen zugunsten der Peers, der Freunde. Zum guten Glück, möchte man sagen, denn die Gleichaltrigen wissen ja auch vieles besser als die Elterngeneration. Dennoch kommen wir aus der Nummer, dass die Eltern uns zutiefst beeinflussen und prägen, nicht raus. Selbst wenn wir uns gegen ihre Erwartungen stellen und mit unserem Leben das Gegenteil von dem anfangen, was sie wollten, ist das eine Entscheidung gegen das Phantasma der Eltern. Meine tiefe Überzeugung als Therapeut ist: Wir tragen die Eltern in uns, selbst wenn es schlechte, versagende oder gar toxische Eltern waren. Entlastend ist zu sagen, für eine gelungene Kindheit reicht es, gute Eltern zu sein. Der englische Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald Winnicott sprach von good enough mother, nicht von perfect mother.

Eine Teilnehmerin fragt, wie sie sich die Nachreifung des Gehirns bei Jugendlichen vorstellen kann. Besonders im Zusammenhang mit der Transitionspsychiatrie.

Köhnlein: Mittlerweile geht die Neurowissenschaft davon aus, dass das Gehirn bis etwa zum 25. Lebensjahr heranreift. Die Adoleszenz ist sozusagen formal bis zum 21. Lebensjahr abgeschlossen, die Hirnreife hingegen bei Weitem noch nicht. Der Begriff Nachreifung ist daher nicht richtig. Wir wissen, dass die biologische, soziale, kognitive Reifung einen immer breiteren Bereich einnimmt und nicht gleichzeitig stattfindet. Die Reifung geht vom 11., 12. bis zum 21. respektive 25. Lebensjahr. Was die Transitionspsychiatrie betrifft, schließt diese die Lücke zwischen Kinder- und Jugendpsychiatrie und Erwachsenenpsychiatrie, sie ist für Patientinnen und Patienten gedacht, die an der Bruchstelle zwischen jugendlich und plötzlich erwachsen sein psychisch straucheln. Auf meine Frage, ob sie sich als Kind, Jugendliche oder Erwachsene empfinde, antwortete mir eine 19-jährige Patientin: Alles davon. Sie fühle sich endlich erwachsen, da sie gerade ihre erste Wohnung sucht, aber inmitten ihrer chaotischen Familie noch wie ein überfordertes Kind.

Abklärung von psychischen Erkrankungen

Ein Kind hat ein sehr gutes Abitur, verzweifelt an der Vielzahl den Studien- und Ausbildungsoptionen und hat große Angst, eine falsche Entscheidung zu treffen. Im Resultat trifft es keine Entscheidung und tut nichts. Die Eltern sind verständnisvoll und erklären, dass auch ihre Berufswege nicht geradlinig verlaufen sind, ohne Erfolg. Was raten Sie diesen Eltern?

Köhnlein: Zuerst sollte hier eine Abklärung erfolgen, ob bei dem jungen Menschen eine psychische Erkrankung vorliegt. Studien zufolge leidet ja immerhin jedes fünfte Kind und jeder fünfte Jugendliche an einer psychischen Störung. Es gibt Störungsbilder, die mit Entscheidungsschwäche, -unvermögen und Ängsten einhergehen. Bei der Autismus-Spektrum-Störung etwa denken die Betroffenen alle Möglichkeiten endlos durch, weil sie fälschlicherweise davon ausgehen, es gäbe objektiv richtige und falsche Entscheidungen. Zwangsstörungen machen es den Betroffenen ebenfalls unmöglich, zu einem Entschluss zu kommen und diesen dann in die Tat umzusetzen. Das betrifft dann nicht nur die Berufswahl, sondern zieht sich durch alle Lebensbereiche. Wer unter Depressionen leidet, hat ebenfalls Schwierigkeiten, sich zu entscheiden. Da müssten sich die Eltern fragen, ob das schon immer so war oder ob das erst seit geraumer Zeit so ist. Auch eine Cannabis-Abhängigkeit führt zu Einschränkungen der Planungs- und Handlungsfähigkeit.

Wenn keine psychische Störung vorliegt, können die Eltern erklären, dass Probleme mit Lebensentscheidungen Teil unserer menschlichen Existenz und daher völlig normal sind. Schon die Steinzeitmenschen waren mit einem Dilemma konfrontiert: Verlasse ich die Höhle, um zu jagen, oder bleibe ich am Feuer sitzen? Die Konsequenz der Wahl bestand darin, entweder vom Säbelzahntiger gefressen zu werden oder zu verhungern. So etwas nennt man in der Psychologie „Vermeidungs-Vermeidungs-Konflikt“. Der Unterschied zu heute besteht darin, dass wir andauernd vor sehr vielen Optionen stehen, es gibt beispielsweise allein 22.000 Studiengänge in Deutschland. Entlastend können die Eltern versichern, dass die Entscheidung für ein Studium oder einen Ausbildungsgang umkehrbar ist. Das ist das Gute: Im Falle einer Fehlentscheidung haben junge Menschen mehr denn je das Recht einen neuen, passenderen Weg einzuschlagen.

Wir hatten beim Live-Event schon über die fear of missing out unter Jugendlichen gesprochen, die Angst, dass wenn man sich für eine Sache entscheidet, sich zwangsläufig gegen andere Optionen entscheidet. Die verpasst man dann. Deshalb sollten die Eltern ihnen Mut machen. Man kann da ein ganz anschauliches Bild verwenden: „Da draußen gibt es viele Schätze, die darauf warten, von uns zu gefunden zu werden. Es ist nicht klar, wo sie liegen. Die Gefahr, keinen zu finden, besteht natürlich – aber eins ist ganz sicher: Wenn wir nicht losgehen, werden wir garantiert keinen finden.“ Wenn man einen Berufsberater, eine Psychotherapeutin, einen Coach oder eine gute Lehrerin zur Unterstützung hat, wird es etwas einfacher, einen Schatz zu finden. Also: „Bediene dich der Schatzkarten, die es gibt.“

Darf ich noch etwas Ergänzen, was ich beim Live-Event versäumt habe?

Bitte doch.

Investieren Sie heute in Ihre Kinder! Geben Sie – sofern es Ihnen wirtschaftlich möglich ist – Ihr Geld jetzt für die Gesundheit, schulische und berufliche Laufbahn ihrer Kinder aus und vererben Sie es nicht erst in vielen Jahren. Wenn Sie das tun, haben Sie Ihren Kindern die besten Voraussetzungen für ein gelingendes Leben geschaffen. Dann brauchen sie das Erbe nicht mehr.

Umgang der Eltern mit eigenen Ängsten

Im Chat äußerten zahlreiche Eltern die Sorge, dass ihr Kind eine Laufbahn einschlägt, die nicht krisensicher ist und auch keine gesicherte Existenz bietet. Etwa, wenn der Sohn einen sehr exotischen Studiengang wählt oder die Tochter freischaffende Künstlerin werden möchte. Wie gehen Eltern mit eigenen Sicherheitsbedürfnissen und Ängsten um?

Oßwald: Wir müssen uns klarmachen, dass es Sicherheit heute nicht mehr gibt. Selbst in vermeintlich sicheren Berufen ist es angesichts der aktuellen Wirtschaftslage recht unrealistisch, dass man damit in die Rente gehen wird. Die Eltern gehören einer Generation an, die derlei Gegebenheiten noch erlebt hat. Diese Realität sollten sie akzeptieren. Gleichzeitig kann man ganz anders auf das Kind blicken, denn es verfügt über eine wichtige Ressource, die es ihm ermöglicht, trotz der wirtschaftlichen Unsicherheit seine eigenen Ziele und Wünsche zu erfüllen. Das ist doch etwas sehr Positives! Offenbar gibt es neben einer großen Gruppe von ängstlichen Jugendlichen auch eine Gruppe, die sehr resilient und wenig ängstlich ist. Die Eltern müssen sich bewusst werden, dass es ihre eigenen Ängste und Zweifel sind und es folglich ihre Aufgabe ist, einen Umgang damit zu finden. Möglicherweise können sie dabei von ihren Kindern lernen.

Die Eltern sollen Vertrauen in ihr Kind haben und es ermutigen, seinen eigenen Weg zu gehen – wo immer der auch hinführen mag. Deshalb liebe Eltern: Bitte seid nicht diejenigen, die eurem Kind Angst machen und seine Pläne sabotieren. In meiner Arbeit als systemische Therapeutin habe ich in den letzten Jahren festgestellt, dass die großen Krisen der Gegenwart die älteren Generationen manchmal stärker verunsichern als die jüngeren. Gerade von älteren Personen in der Beratung höre ich häufig den Satz: „Ich bin froh, so alt zu sein, dass ich mich in dieser Welt nicht mehr durchschlagen muss.“

Wir stellen uns vor, mit der Zukunftsplanung verhalte es sich wie mit einem Navi. Wir geben das gewünschte Ziel ein, bekommen eine genaue Wegbeschreibung, die uns dann genau dort hinführt, wo wir ankommen wollen. Doch diese Annahme ist falsch. Wir leben in einer Welt des permanenten Wandels, in der nicht nur die Ziele nicht mehr so klar sind, sondern sich auch der Weg dahin verändert. Deshalb müssen wir unsere Vorstellungen anpassen und akzeptieren, dass wir mitunter erst auf dem Weg erkennen, wo wir eigentlich hinwollen.

Schwierige Gespräche zwischen Eltern und Kind

Im Chat wollten mehrere Eltern wissen, wie sie ihr volljähriges Kind unterstützen, wenn es nach dem Schulabschluss lange Pausen des Nichtstuns einlegt. Oder wenn es das Studium nicht verfolgt, weil es doch nicht das richtige ist. Wie redet man mit dem Sohn oder der Tochter über die Zukunft, wenn jeder Gesprächsversuch abgeblockt wird?

Oßwald: Entscheidend ist die Beziehungspflege mit dem Kind. Dabei muss das Thema Zukunftsplanung erst mal außen vor bleiben. Dazu braucht es Momente und Begegnungen, die unbeschwert sind und bei denen klar ist, das schwierige Thema kommt jetzt nicht auf den Tisch. Der Sohn oder die Tochter soll sich nicht in Lauerstellung befinden müssen, sondern das Gefühl haben, dass die Situation safe ist. Die Eltern könnten beispielsweise fragen, ob das Kind Lust hat, eine Pizza essen zu gehen und versichern, dass dabei nicht über die berufliche Zukunft gesprochen wird. So kann man herausfinden, was das Kind sonst noch so beschäftigt, was es umtreibt und so den Kontakt intensivieren.

Obwohl der Sohn oder die Tochter nicht mehr alles mit den Eltern teilt, signalisiert man: Du bist mir nach wie vor wichtig und ich interessiere mich dafür, wie es dir geht, auch wenn du auf dem Papier volljährig bist. Es stärkt die Beziehung, wenn Vater und Mutter sich für die Themen des Kindes interessieren. Engagiert sich die Tochter etwa in der Umweltbewegung, kann man nachfragen: Warum berührt dich dieses Thema? Was sind deine Werte? Einfach neugierig sein und offen für das, was da kommt. Nur unter der Voraussetzung, dass Eltern die Beziehung zum Kind ausreichend und unabhängig vom Zukunftsthema pflegen, kann parallel das Problemfeld berufliche Zukunft angesprochen werden. Am besten kündigt man dieses Anliegen und den Rahmen vorher an. Idealerweise haben Eltern ein Gefühl, woran es liegen kann, dass sich der eigene Nachwuchs so schwertut, den Einstieg ins Berufsleben zu schaffen. Eltern sollten sich dennoch nicht scheuen, ihre Erwartungen klar zu formulieren und beispielsweise sagen: „Dieses Semester finanzieren wir dich noch, aber wenn du dein Studium weiterhin nicht ernst nimmst, musst du sehen, wie du künftig das Geld für dein WG-Zimmer verdienst. Wir können über alles sprechen, gemeinsam finden wir eine Lösung, wie es für dich weitergehen kann.“ Auf diese Weise erkennt das Kind, worum es den Eltern konkret geht, dann ist das kein abstraktes Problem mehr, sondern es geht darum, dass man als Kind den Eltern nicht ewig auf der Tasche liegen kann. Dann hat der junge Mensch manchmal auch eigene Ideen, was sich ändern muss und wie es weitergehen kann.

Viele teilnehmende Eltern interessierte, was sie tun können, wenn ihr Kind eine psychologische Beratung oder Therapie benötigt, sich professioneller Hilfe verweigert und jedes Gespräch abblockt.

Köhnlein: Dass sich die Jugendlichen zunächst verweigern, ist die klassische Problemstellung in der Kinder- und Jugendpsychotherapie. Ich würde meinem Sohn oder meiner Tochter dann sagen: „Leider weißt du nicht, wie sexy Therapie ist und wie viel Freude sie machen kann! Selbst wenn sie mühsam und anstrengend ist.“ Vielleicht können die Eltern, sofern sie selbst in Therapie waren, über ihre eigenen Erfahrungen sprechen. Ich habe viele Jugendliche in meiner Praxis, die mir sagen, wie gerne sie kommen, obwohl sie belastet sind und Therapie natürlich auch mühsam ist. Es sei einfach cool, über alles, was sie umtreibt, mit jemandem reden zu können. Ein Jugendlicher sagte mal: „Jedes Mal, wenn ich bei Ihnen rausgehe, geht es mir beschissener als vorher. Aber es bringt voll was.“ Natürlich hat Therapie Nebenwirkungen, aber der Jugendliche hat gemerkt, dass die Therapie vielleicht der einzige Ort ist, an dem er sich und anderen nichts mehr vorzumachen braucht. Hier kann er ausprobieren, wie es ist, offen zu sich zu sein.

Ändert sich an der ablehnenden Haltung nichts, hilft nur, das oben Genannte zu wiederholen und dem Kind möglichst vorwurfsfrei zu erklären, wie sehr es von einer Therapie profitieren würde. Das ist allerdings Elternpflicht! „Ich weiß, ich nerve dich, aber ich kann gar nicht anders als dir wieder zu sagen, dass Therapie etwas sehr Nützliches für dich wäre – und dass es dir sogar Spaß machen könnte.“

Wenn das nicht fruchtet, könnten die Eltern selbst einen Therapeuten aufsuchen, um mit ihm über die Probleme des Kindes zu sprechen. Wir hätten dann einen leeren Stuhl in der Therapie und würden darüber reden, wie das Kind die Aussagen der Eltern finden würde. Als Therapeut rege ich die Eltern zu einer Perspektivübernahme an und frage: „Was würde Ihre Tochter darauf sagen, wenn sie jetzt hier sitzen würde?“ „Wie schätzen Sie folgendes Problem ihres Sohnes ein?“ „Und was könnten Sie als Eltern unterstützend tun?“ Die Eltern gingen dann in Vorleistung. Das kann schmerzlich und auch freudvoll sein. In jedem Fall erweitert es den Horizont der Eltern. Und es könnte beim Kind vielleicht sogar irgendwann das Gefühl auslösen, etwas zu verpassen – da hätten wir dann eine positive fear of missing out.

Wer keinen Therapeuten aufsuchen will, kann auch zu einer Familien-Beratungsstelle gehen. Davon, den Willen des Kindes und Jugendlichen zu brechen und ihn oder sie zu einem Psychotherapeuten zu schleppen, rate ich dringend ab. Die Eltern müssen leider einen langen Atem haben und notfalls bereit sein, ohne ihr Kind Hilfe in Anspruch zu nehmen. Manchmal dauert es, bis bei den Kindern und Jugendlichen der Leidensdruck den Störungsgewinn überwiegt. Auch dürfen Eltern den Leidensdruck erhöhen, indem sie es nicht akzeptieren, dass ihr Kind etwa das Zimmer oder das Bett nicht mehr verlässt. Sie sollten klar sagen, dass es so nicht weitergeht und dass – wenn schon ihr Vorschlag mit Beratung und Therapie so bescheuert ist – der Jugendliche wenigstens einen besseren Vorschlag machen soll. Eltern sollten auch den Gewinn durch die Störung nicht vergrößern, indem sie das Kind von allem entlasten. Wenn man das alles als liebevollen Grundgedanken beherzt, kann man nicht viel falsch machen.

Eltern schließen bestimmte Berufe aus

Eine Person, die in der Beratung arbeitet, würde gerne wissen, wie sie mit Eltern umgeht, die ihren Kindern gewisse Berufe nicht erlauben. Einige der Eltern haben einen Migrationshintergrund. Sollten die Jugendlichen dahingehend beraten werden, sich anzupassen oder sollten sie ermutigt werden, ihren eigenen Weg zu gehen und damit in Konfrontation zu ihrem Elternhaus?

Oßwald: Um darauf zu antworten, fehlen mir wesentliche Informationen, etwa in welchem Kontext die Fachperson arbeitet. Davon hängt ab, wie weit sie sich in der Beratung aus dem Fenster lehnen kann. Und: Wer ist hier der Auftraggeber? In welcher Situation befindet sich die Familie? Wir in der Kinder- und Jugendhilfe konzentrieren uns auf die Bedürfnisse des Kindes, dabei holen wir unter Einverständnis der Kinder oder Jugendlichen auch die Eltern mit ins Boot. In so einem Fall würden wir herausfinden, weshalb ein Jugendlicher einen bestimmten Berufsweg einschlagen will. Und wie die Eltern ihre Ablehnung begründen. Ein Szenario, das ich mir vorstellen könnte, wäre, dass das Kind studieren will und die Eltern nicht über die nötigen finanziellen Mittel verfügen. Dann könnte ich sie bei der Suche nach Ansprechpartnern für Finanzierungsmöglichkeiten wie etwa BAföG, Studienkredite oder ähnliches unterstützen. Ich bin systemische Therapeutin und nähere mich den Menschen mit einer Vielzahl Fragen. Ratschläge zu geben, ist nicht zielführend. Vielmehr unterstützen wir bei der Abwägung von Argumenten, die Entscheidung treffen die Klientinnen und Klienten in der Regel allein. Unser Ansatz ist, hilfesuchende Personen wertneutral und wertschätzend dabei zu unterstützen, innere Blockaden zu erkennen, diese aufzulösen, um dann Lösungsansätze zu erarbeiten.

Welchen Stellenwert hat der Beruf

Welche Grundannahme steckt dahinter, einen Beruf dreißig Jahre lang zu machen? Ist berufliche Geradlinigkeit weiterhin ein Wert?

Köhnlein: Ui, das ist eine sozio-philosophische Frage. Ich tue mich hier mit einer Antwort schwer, da ich kein Philosoph oder Sozialwissenschaftler bin. Aus meinen Gesprächen mit jungen Menschen habe ich den Eindruck, dass sie nicht die Vorstellung haben, einen Beruf zu erlernen und diesen dann bis zur Rente auszuüben. Die Heranwachsenden sind offener und weniger festgelegt als die Eltern-Generation. Von meinen Patienten höre ich Sätze, wie „Ich will etwas mit Medien machen“. Oder auch, „Ich mache jetzt erst mal eine Ausbildung zum KFZ-Mechatroniker und überlege dann, zu studieren“.

Die Frage weist womöglich auf etwas anderes hin: Traue ich meinem Kind zu, seinen eigenen Weg zu finden, egal wohin der führen mag und auch egal, wo er anfängt? Bin ich der Meinung, mein Sohn oder meine Tochter ist ein sehr zartes Pflänzchen, könnte ich sagen: „Ich kenne dich jetzt so und so viele Jahre und muss dir sagen, das ist ein harter Weg, den du dir da ausgesucht hast. Aber nicht, weil ich ihn für mich hart finde, sondern für dich. Ich habe die Sorge, dass du da zerrieben wirst.“ Meiner Erfahrung nach treten die meisten Jugendlichen nicht mit konkreten Berufswünschen an. Sie sagen vielmehr: „Ich weiß, was mich interessiert. Was ich daraus mache, wird sich ergeben.“ Nebenbei bemerkt: In einer fluiden Gesellschaft ist es ja heute auch nicht mehr das höchste oder zumindest nicht das einzige mögliche Adelsprädikat, dass man seinen Stiefel 30 Jahre lang durchzieht – nein, es ist doch auch ein Ausdruck von Intelligenz, Wege zu finden, sich bei Bedarf neu zu erfinden, die Richtung zu ändern, Kompromisse einzugehen.

Der Anspruch an den Beruf geht heute weit über das Geldverdienen hinaus. Gerade jüngere Menschen wollen, dass er etwas mit ihren Werten und ihrer Persönlichkeit zu tun hat und zudem interessant ist. Wird es dadurch schwerer, seinen eigenen Weg zu finden?

Oßwald: Ja, das macht es super schwierig. Wir hören in der Beratungsstelle von Studiengängen, bei denen wir nicht wissen, worum es inhaltlich geht. Viele Berufszweige und Studiengänge haben sich differenziert, was mitunter sinnvoll ist, nur haben sich dadurch die Wahlmöglichkeiten stark vervielfacht. Was das Prestige betrifft, ist mein Eindruck, dass Eltern darauf größeren Wert legen als Kinder. Ein Beispiel aus meiner Praxis: Das Kind will Literaturwissenschaft studieren, die Eltern befürchten, dass es damit später wenig Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt hat, vielleicht kann es Lektor oder Journalist werden. Die Eltern ängstigt, dass aufgrund der wenigen Stellen auf diesem Gebiet der Sohn oder die Tochter höchstwahrscheinlich in der Arbeitslosigkeit landen wird und sagen: „Literaturwissenschaft ist eine brotlose Kunst, willst du nicht lieber etwas Ordentliches studieren, damit du sicher einen Job findest?“ Die jungen Menschen haben eher andere Werte, ihnen ist es vielleicht wichtig, in einem guten Team zu arbeiten oder ob ihr Job mit Nachhaltigkeit zu vereinbaren ist. Das Außenbild ist ihnen meiner Erfahrung nach weniger wichtig als den Eltern.

Berufliche Orientierung an den Schulen

Müssten die Schulen junge Menschen nicht besser auf die berufliche Zukunft vorbereiten? Wäre es nicht sinnvoll, mehr Schulpsychologen zu haben, die Programme durchführen und beraten?

Oßwald: Meiner Ansicht nach sollte die Schule generell reformiert werden, aber das führt an dieser Stelle zu weit. Ja, auch die Schule ist hier gefordert. Bei der beruflichen Orientierung geht es darum, dass junge Menschen herausfinden, wer sie sind, was ihnen wichtig ist, welche Bedürfnisse und welche Werte sie haben. Sich seiner eigenen Werte bewusst zu werden, ist Teil der Identitätsentwicklung. Neben den Eltern und der Peer-Group spielt hier auch die Schule eine wichtige Rolle. Dafür muss dort der Raum vorhanden sein, diese Themen zu erkunden, sei es im Ethikunterricht oder in Projektwochen. Ich glaube nicht, dass man dafür spezielles Personal anstellen muss. Der Schwerpunkt sollte aus meiner Sicht weg vom Lehrplan der reinen Wissensvermittlung und mehr in Richtung soziale emotionale Entwicklung gehen.

Tipps der Experten:

Die Onlineberatung der bke (Bundeskonferenz für Erziehungsberatung ). Hier findet man sowohl die bke-Elternberatung als auch die bke-Jugendberatung (wichtig: unter „Jugend“ fallen auch junge Erwachsene):

https://www.bke-beratung.de/

Eine Buchempfehlung für Eltern, die auf der Suche sind nach Ideen, wie man aus typischen „Konfliktspiralen“ wieder aussteigt: Heim Omer, Philipp Streit: Neue Autorität: Das Geheimnis starker Eltern, Vandenhoeck & Ruprecht 2016

Praktische Empfehlungen aus der Redaktion:

Die Bundesagentur für Arbeit bietet auf planet-beruf.de ein umfangreiches Angebot an Informationen zu einzelnen Berufen, Ausbildungswegen und Tests (etwa Check-u), die das individuelle Kompetenzprofil ermitteln:

https://planet-beruf.de/schuelerinnen

Studienwahl.de gibt einen Überblick über alle Studienfelder und Studiengänge und erklärt, wie man sich für ein Studium bewirbt. Betrieben wird das Portal („Der offizielle Studienführer für Deutschland“) mit vielen Suchfunktionen von der Stiftung für Hochschulzulassung.

Auf Berufenavi gibt es eine Elternfibel, die die wichtigsten Punkte zu Ausbildungsberufen erklärt: https://www.ja-zur-ausbildung.de/faq/

Der Herausgeber, das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB), widmet sich zudem speziellen Themen wie etwa: FAQ für Personen mit Migrationshintergrund, Freiwilliges Soziales Jahr oder Praktikum: https://www.berufenavi.de/

„Welches Studium/Welche Ausbildung passt zu dir?“ Ein Orientierungstest auf Stuzubi.de gibt darüber Auskunft. Auf der Website der IHK findet sich zudem eine Vielzahl an Informationen auch zu speziellen Themen wie Berufsausbildung mit mittlerem Schulabschluss, und sie erklärt einzelne Berufsbilder:

https://stuzubi.de/

Ein weiterer Service der Bundesagentur für Arbeit ist Abi.de, der sich mit Studiengängen und Ausbildungsberufen für Abiturientinnen und Abiturienten beschäftigt. Hier finden sich thematisch relevante Blogs, Videos, Games und Chats. Die Zielgruppe sind neben Schulabsolventen auch Eltern und Lehrer:

https://abi.de/

Ein umfangreiches Lexikon der Berufe gibt es auf Berufenet. Erklärt werden auch die Besonderheiten bestimmter Berufsgruppen wie etwa der MINT-Berufe und deren Ausbildungswege: https://web.arbeitsagentur.de/berufenet/

Die Arbeitsagentur unterhält deutschlandweit zahlreiche Berufsinformationszentren (BiZ), in denen auch Beratungstermine angeboten werden. Die Anlaufstellen stehen zudem für Recherchen und Eignungstests am Computer zur Verfügung sowie für Unterstützung bei der Bewerbung: https://www.arbeitsagentur.de/bildung/berufsinformationszentrum-biz

https://www.osa-portal.de/

Die Experten:

  • Dr. med Frank Köhnlein ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie mit eigener Praxs in Basel

  • Diplom-Psychologin Katharina Oßwald arbeitet im evangelischen Beratungszentrum München e.V. und unterstützt unter anderem Schülerinnen und Schüler, Eltern und Lehrkräfte bei ihren Fragen und Anliegen

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