Eine Welt im Spektrum

Razvan ist neun und hat die Autismus-Spektrum-Störung. Seine Eltern müssen meist raten, was er braucht. Mitten im Alltag einer besonderen Familie.

Ein Junge mit Autismus-Spektrum-Störung ist auf einem Spielplatz und hält sich an einem Spielgerüst fest
Razvan hat die Autismus-Spektrum-Störung. Er mag gerne Smarties, Chips und seine Regenbogenspirale. © Anne Schönharting für Psychologie Heute

So, wie Oxana Berestean auf die Fragen der Ärztin antwortet, merkt man, wie viel Routine sie darin hat, ihren Sohn in Symptomen zu beschreiben. Es fällt auf, wie genau sie hinsieht, um jede noch so kleine Veränderung zu registrieren, die etwas darüber aussagen könnte, wie sich Razvan seit dem letzten Termin entwickelt hat.

Die 32 Jahre alte Frau mit den weichen Gesichtszügen und dem glatten, hellbraunen Haar sitzt in einem Behandlungszimmer des Sozialpädiatrischen Zentrums der Berliner Charité. „Wie kann er…

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Haar sitzt in einem Behandlungszimmer des Sozialpädiatrischen Zentrums der Berliner Charité. „Wie kann er sich verständigen?“, fragt die Ärztin, während sie durch die Unterlagen blättert. „Mama und Papa sagt er oft – eigentlich immer, wenn er etwas braucht“, sagt Oxana. Sie spricht leise und konzentriert, während Razvan laut quietscht. Er ist aufgeregt, die Ärztin kennt er noch nicht, sein behandelnder Arzt ist kürzlich auf eine andere Station gewechselt.

Er läuft im Kreis, klettert auf die Fensterbank, springt herunter, rollt sich über den Boden. Er schüttelt seine Hände, als hätte er sich gerade an einer heißen Herdplatte verbrannt. Er wirft sich auf seine Mutter und drückt seine Nase in ihr Haar. Er stöhnt, schüttelt sich, schaut mit hochgezogenen Augenbrauen um sich. Seine großen, hellblauen Augen sind weit geöffnet, aber er scheint nichts anzusehen. Er greift zu der Wasserflasche, die seine Mutter für ihn bereitgestellt hat, nimmt einen Schluck. Dann dreht er sich um und lässt das Wasser aus seinem Mund auf den Teppich tropfen.

„Razvanelu!“, ruft ihn Oxana bei seinem Kosenamen, mit einem weichen R, einem weichen Z und einem weichen N. „Nu se poate“, sagt sie auf Rumänisch, ihrer Muttersprache. „Das darfst du nicht.“ „Nicht, dass er zu viel trinkt“, sagt die Ärztin. „Ich verstecke das Wasser“, sagt die 32-Jährige, „und wenn er Durst hat, bringt er mich in die Küche.“ – „Haben Sie Unterstützung? Einzelfallhilfe?“ – „Nein. Wir mussten uns entscheiden zwischen Einzelfallhilfe und Autismus-Therapie-Zentrum.“– „Gibt es Symptome, die Ihnen Sorgen bereiten?“ – „Die Unruhe“, sagt Oxana. „Ich muss ihn immer im Auge behalten.“ – „Würde er sonst weglaufen?“ – „Nicht weit, aber ja.“ – „Betreuen Sie Razvan oder auch der Papa?“ – „Beide, aber der Papa arbeitet sehr viel.“ – „Haben Sie sonst jemanden, der Sie unterstützt?“ – „Die Oma. Aber ich habe auch Angst, ihn bei anderen zu lassen. Es ist eine große Verantwortung.“

Testen, wie das Deo schmeckt

Mit fünf Jahren hat Razvan die Diagnose Frühkindlicher Autismus bekommen, nach der mittlerweile überholten, aber übergangsweise immer noch gültigen zehnten Fassung des ICD, der Standardklassifikationsliste für Erkrankungen. Heute fasst man die verschiedenen Ausprägungen der Entwicklungsstörung als Autismus-Spektrum-Störung (ASS) zusammen. Razvan ist in diesem Spektrum stärker betroffen: Er kann nicht sprechen, lernt langsamer und entwickelt sich später als neurotypische Kinder, wenn auch nicht in jeder Hinsicht: Laufen hat er mit elf Monaten gelernt, Fahrradfahren mit sechs Jahren. Mit schlafwandlerischer Sicherheit klettert er an Türen hoch oder hangelt sich an Klettergerüsten auf dem Spielplatz entlang. Allein aufs Klo zu gehen hat er hingegen erst mit sechs gelernt, mit Besteck isst er seit zwei Jahren. In der Therapie von Kindern mit ASS wird ihre Entwicklung anhand eines standardisierten Fragebogens erfasst. Razvans Therapeutin zufolge ist der Neunjährige sozial und emotional auf dem Stand eines Zweijährigen ohne ASS.

Die Familie Berestean, Razvan, Mutter Oxana, Vater Nicolai und Großmutter Tatiana, wohnt in einem Neubau-Block in Reinickendorf, im Norden Berlins. 2017 zogen sie aus Moldawien hierher, Nicolai hatte einen Job als Tapezierer angeboten bekommen. 2019 kam Oxanas Mutter als Unterstützung im Alltag dazu, um Razvan von der Schule und der Therapie abzuholen, zu kochen und zu putzen. Vor drei Jahren hat Oxana begonnen, wieder zu arbeiten, als sozialpädagogische Fachkraft in einer Klinik.

Die Wohnung liegt im Erdgeschoss, drei Zimmer und Balkon. Sehr sauber ist es hier, reduziert, ohne persönliche Gegenstände. Nur Details verraten, dass hier ein Kind mit Autismus lebt. Die Türen sind zugesperrt, ihre Schlüssel hängen an kleinen Nägeln oben am Rahmen. Im Bad sind Klopapier und Seife im Schrank versteckt. An den Wänden sind auf Höhe der Lichtschalter überall kleine Flecken und Dellen. An den Wohnzimmermöbeln sind Bildkarten mit Klett befestigt: eine Regenbogenspirale, Smarties, Chips, ein Aloe-Vera-Drink, Salzstangen – Dinge, die Razvan gerne mag.

Wenn die Türen offen wären, würde Razvan in den Zimmern die Schränke ausräumen. Er würde testen, wie das Deo schmeckt und die Seife für die Hände. Die Dellen sind von dem Spielzeug, das er häufig gegen die Wand schlägt. Mithilfe der Bildkarten lernt er gerade, seine Bedürfnisse mitzuteilen, damit kann er nach seinen Lieblingsspeisen und einzelnen Gegenständen fragen.

In der Schule am Park

Die Autismus-Spektrum-Störung zeichnet sich durch Symptome wie sich wiederholende Verhaltensweisen aus oder eine veränderte Interaktion mit anderen Menschen. Aber ihre Ausprägung ist bei jedem Betroffenen anders. Manche fügen sich unauffälliger ein, sind „hochfunktional“. Andere können kaum an sozialen Situationen teilnehmen, weil es ihnen schwerfällt, Worte oder Emotionen einzuordnen. Razvan bewegt sich oft stereotyp, er trommelt mit den Fingern über sein Gesicht oder Wände. Er schleudert gerne Gegenstände im Kreis. Er hat keine Berührungsangst Fremden gegenüber, betrachtet sie aus wenigen Zentimetern Abstand oder steckt seine Nase in ihr Haar. Er trägt am liebsten Kleidung ohne Knöpfe und wenn sie nach dem Waschen hart vom Kalk ist, muss seine Großmutter sie weich rubbeln. Er befühlt, erriecht und erschmeckt gerne die Welt.

Ein Mittwochmorgen im Juli an der „Schule am Park“ in Berlin-Wittenau, einer Förderschule mit eigener Autismus-Ambulanz. In einem hellgelb gestrichenen Klassenzimmer singen Razvans Mitschülerinnen und Mitschüler ein Lied im Morgenkreis. In seiner Klasse betreuen drei Fachkräfte, eine Sonderschullehrerin, eine pädagogische Unterrichtshilfe und ein Betreuer, sieben Kinder. Außer Razvan sind noch zwei weitere Kinder im Autismus-Spektrum, die übrigen haben eine kognitive Beeinträchtigung, können zum Teil nicht sprechen oder verfügen zusätzlich über eine körperliche Behinderung. Während die Klasse singt und klatscht, wickelt sich Razvan in eine rote Decke und wieder heraus, lässt eine Barbie an ihren Haaren im Kreis fliegen. Es ist warm an diesem Tag, die Glastür zum Schulhof steht weit offen, ein Holzgitter verhindert, dass eines der Kinder in einem unbeobachteten Moment hinausläuft. Vor dem Gitter setzt sich Razvan in den Schneidersitz, seufzt und stützt den Kopf in die Hand. Er sieht nach draußen. „Razvan“, ruft die Lehrerin. Sie sortieren im Kreis gerade die Wochentage, die als laminierte Karten an der Tafel hängen. Er steht auf. „Guck mal, ob du den Mittwoch findest“, sagt Frau Wenzel. Er greift den Mittwoch, sie zeigt mit dem Finger auf die Stelle, wo er die Karte platzieren soll. „Findest du auch den Freitag?“ Er findet auch den Freitag.

Eine Mutter spielt an einem Tisch mit ihrem Sohn, der die Autismus-Spektrum-Störung hat
Sind sie nur zu zweit, fällt es Razvan leichter, sich zu konzentrieren. Er erlernt Inhalte, indem er sie immer wieder wiederholt.
Eine Mutter spielt an einem Tisch mit ihrem Sohn, der die Autismus-Spektrum-Störung hat
Sind sie nur zu zweit, fällt es Razvan leichter, sich zu konzentrieren. Er erlernt Inhalte, indem er sie immer wieder wiederholt.

Lange zu sitzen ist schwierig

Während der Mathe-Stunde geht eine Lehrkraft mit Razvan in den Schulflur. Hier hat er in einer Ecke einen Arbeitsplatz. Razvan geht seit drei Jahren in die Schule. Seitdem übt er Zuordnen und Sortieren: Welche Farbe passt auf diesen Stapel? Welches Bild zeigt eine Kuh? Welches Muster passt wohin? Seit diesem Schuljahr lernt er zudem bis fünf zu zählen. In seinem Schülerzeugnis stehen kleine Bilder, daneben Sätze wie „Du beobachtest viel“ oder Du kannst schon gut mit Gabel und Löffel essen“. Wenn er eine Aufgabe kennt, macht er meistens mit. Aber lange zu sitzen und sich zu konzentrieren ist für ihn schwer, immer wieder steht er auf, läuft über den Flur, bewegt sich. Er braucht diese Pausen, um sich zu regulieren.

Neben ASS wurden bei Razvan auch die Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS) diagnostiziert sowie Epilepsie. Beide Erkrankungen sind typische Begleitdiagnosen von ASS und haben zum Teil ähnliche Ursachen oder zumindest Risikofaktoren. Bei Razvan liegt zum Beispiel eine sogenannte zerebelläre kortikale Dysplasie vor, das heißt, dass sich bei ihm noch vor der Geburt Gehirnzellen anders geordnet und so möglicherweise ASS und Epilepsie verursacht haben. Auch bei ADHS überlappen sich die genetischen Risikofaktoren (siehe Kasten unten).

Bei Razvans Eltern gibt es keine Hinweise auf eine Mutation, auf die sich die Störung ihres Sohnes zurückführen lässt. Sie wissen nicht, warum Razvan betroffen ist. Die epileptischen Anfälle hat er seit etwa zwei Jahren, meist wöchentlich, über wenige Minuten. Er sitzt dann ganz still und ist nicht ansprechbar, der Blick geht geradeaus. Danach ist er völlig erschöpft. Razvans Eltern und Betreuungspersonen tragen immer ein krampflösendes Medikament bei sich, das sie ihm im Notfall in den Mund spritzen.

Traurigkeit oder Stress?

Wenige Monate zuvor, an einem Samstagvormittag sitzt Razvan inmitten Ballons und Papiergirlanden. Die Luft steht dick zwischen den Hüpfburgen, auf denen andere Kinder mit hochroten Köpfen toben. Seit er drei Jahre alt ist, besucht die Familie am Wochenende diesen Indoor-Spielplatz in ­Marzahn, sie versuchen die gemeinsame Zeit nachzuholen, die vor allem Nicolai unter der Woche fehlt. Razvan rennt los in Richtung Trampolin. Eilig gehen ihm seine Eltern nach, er kann nicht allein bleiben, falls er einen Anfall bekommt oder einem Kind die Trinkflasche wegnimmt. Nebeneinander setzen sich Oxana und Nicolai an den Rand des Trampolins, sammeln umherliegende Plastikbälle und werfen sie sich zu, lachen, necken sich – nicht ohne Razvan aus den Augen zu verlieren, der, umgeben von einem hohen Netz, auf und ab springt.

Plötzlich laufen ihm Tränen übers Gesicht, er bleibt kurz stehen, wischt sie mit dem Ärmel weg, hüpft dann wieder. „Mamamama“, sagt er und drückt sich an seinen Vater. Er vergräbt seine Nase in dessen Ohr, streicht mit den Fingern übers Ohrläppchen und hüpft dann weiter. „Ich weiß nicht, was mit ihm los ist“, sagt Oxana. „Aber er ist eher gestresst als traurig.“ Nicolai legt sich auf das Trampolin, wiegt es mit seinem Körper. Razvan kugelt neben ihn. Kurz liegen beide so da, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, die Beine von sich gestreckt, wie auf einer Sommerwiese. Dann geht Razvan wieder ins Getümmel.

Die Familie Berestean ist ein eingespieltes System, die Überforderung der ersten Jahre ist Routine gewichen. Doch selbst für Razvans Eltern ist es manchmal schwierig zu entschlüsseln, was in ihrem Sohn vorgeht. Wenn er etwas braucht, nimmt er sie bei der Hand und führt sie. Manches wissen sie aus Erfahrung, weil sich seine Tonlage in typischer Weise verändert, wenn er Hunger hat, oder weil seine Bewegungen hektischer werden, wenn er gestresst ist. So wie jetzt, als ­Nicolai Razvan zur Toilette führt, weil er weiß, dass dieser Angst vor dem automatischen Handföhn hat und nicht freiwillig geht.

„Viele Zeichen habe ich erst später erkannt“

Als die Familie 2017 nach Deutschland kam, war Razvan noch keine zwei Jahre alt und ohne Diagnose. Oxanas Gefühl sagte ihr, dass etwas anders war, obwohl Razvan ihr erstes Kind war und sie keinen Vergleich hatte. Er wollte nicht mit ihr spielen, reagierte nicht auf Aufforderungen. Er interessierte sich nicht für Gute-Nacht-Geschichten oder die Brust seiner Mutter beim Stillen. Wenn sie ihn zum Einschlafen auf dem Schoß wiegte, musste sie streng den Rhythmus einhalten, sonst wachte er wieder auf. In Moldawien hatte sie noch gehofft, die Auffälligkeiten würden sich mit der Zeit legen.

„Viele Zeichen habe ich erst später erkannt“, sagt die 32-Jährige, die vor Razvans Geburt Psychologie studiert hat. Als sie schon wusste, dass Razvan ASS hat, und Bücher las, um mehr darüber zu erfahren, ging sie im Kopf seine ersten Lebensjahre durch und setzte Haken, wenn ihr ein Symptom bekannt vorkam. „Vor Razvan habe ich noch nie ein Kind mit Autismus gesehen“, sagt sie.

In Deutschland wurden die Symptome auffälliger. Als seine Eltern versuchten, ihn in der Kita anzumelden, erhielten sie eine Absage: Es gebe keine Kapazitäten für ein Kind mit solchen Bedürfnissen. Nicolai arbeitete viel, sie brauchten das Geld. Oxana blieb mit Razvan zu Hause, sie kannte niemanden in der Stadt. Sie meldeten ihn im Sozialpädiatrischen Zentrum der Charité an, es folgten Hörtest, Intelligenztest, ein Test zum Sozialverhalten. Sie hatten mehrere Gespräche mit einem Kinderpsychiater. Damals konnte Oxana noch kaum Deutsch und musste für jeden Termin einen Übersetzer engagieren. Die Schreiben von damals, die sie Wort für Wort entschlüsselte, die Arztbriefe, die Mitteilungen vom Amt – sie alle hat Oxana fein säuberlich abgeheftet. Auch die Visitenkarten der Ärzte, Therapeutinnen, Beratungsstellen sind wie Sammelkarten in Folien aufgereiht.

Als sie knapp zwei Jahre später zum Diagnosegespräch fuhren, ahnte sie, was die Ärztinnen sagen würden. Trotzdem brauchte sie eine Weile, um die Diagnose zu akzeptieren. „Wir haben Razvan immer geliebt, so wie er ist“, sagt sie. „Wir haben nie daran gedacht, dass wir ein anderes Leben haben könnten.“ Trotzdem sei es ein Schock gewesen – „kein großer“, beeilt sich Oxana hinterherzuschieben. „Aber es ist etwas anderes, ob man eine Vermutung hat oder sie von einer Ärztin bestätigt bekommt und weiß: Das gilt für immer.“ Ihr erster Gedanke: Was wird mit Razvan, wenn sie einmal nicht mehr sind?

Im Auto auf dem Weg nach Hause sagt sie: „Nach Deutschland zu kommen war das Beste, was wir hätten machen können.“ Wären sie zwei oder drei Jahre später gekommen, hätte Razvan wichtige Therapiejahre verpasst. Ohne Frühförderung im Kleinkindalter lassen sich bestimmte Entwicklungsschritte bei Kindern mit ASS, wie zum Beispiel die Fähigkeit zu sprechen, kaum noch aufholen.

Pairing und Prompts

Ein Mittwochnachmittag in Pankow, das Autismus-Therapie-Zentrum (ATZ) von „Der Steg“, einer gemeinnützigen Gesellschaft zur Förderung von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen, liegt in einem Hinterhof. Seit fast vier Jahren kommt Razvan zweimal die Woche für zwei Stunden her. Die gute Beziehung zu den Kindern, sagt seine Therapeutin Christina Berchner, ist entscheidend für den Erfolg der Therapie. In diesem Fall heißt das, dass die Kinder sich selbständiger durch den Alltag bewegen und besser verständlich machen können. Die ersten sechs bis acht Wochen der Behandlung dienen nur dem sogenannten Pairing, der Beziehungsarbeit mit den kleinen Klienten und ihren Eltern. Denn das Umfeld muss ebenso geschult und in die Therapie einbezogen werden wie das Kind selbst.

Als Razvan hereinkommt, zieht er die Schuhe aus und geht auf Toilette, er lässt die Klotür offen und vergisst dann zu spülen. Berchner geht ihm nach und zeigt auf die Taste. In der Verhaltenstherapie am ATZ arbeiten sie mit sogenannten Prompts, das heißt, sie fordern die Kinder auf, etwas zu tun, indem sie es ihnen sagen, sie mit leichter Berührung führen oder auf etwas deuten. Damit die Kinder nicht abhängig von der Anweisung werden, versuchen sie immer den Prompt zu geben, der am leichtesten wieder auszuschleichen ist – wie die Geste, auf die Spültaste zu zeigen. Erst wenn das nicht greift, fordern sie die Kinder sprachlich oder durch körperliche Impulse auf. Das Ziel ist, dass die Kinder es irgendwann allein schaffen.

Aufhören, an Leuten zu riechen

Jede Therapieeinheit besteht aus kleinen Schritten, die Razvan lernt, indem er sie immer wieder wiederholt. So auch das Händewaschen: Ärmel hochkrempeln, Wasserhahn andrehen, Seife nehmen, Hände waschen, Wasserhahn zudrehen, abtrocknen. Kein Schritt erklärt sich von selbst, weder dass der Hahn laufen muss, um sich waschen zu können, noch dass Hände, die nicht abgetrocknet werden, nass bleiben. Deswegen lobt ihn Berchner dabei enthusiastisch, um ihn zu motivieren. Manchmal hat er wochen- oder monatelange Lernstopps, in denen er nichts Neues abspeichern kann, oder verlernt sogar Dinge, die er schon konnte.

Im ATZ, wo es nicht viel Ablenkung gibt und sie allein sind, fällt es Razvan leichter, sich zu konzentrieren. Trotzdem gibt es zwischendurch Spielpausen. In einem abgedunkelten Raum mit einer beleuchteten Wassersäule und Kissen auf dem Boden stürzt sich Razvan in Berchners Arme, dann auf den Boden – er möchte gekitzelt werden. Sie kitzelt ihn. Er lacht und kreischt, strampelt mit den Beinen. Zwischendurch hält er ihren Kopf fest, drückt sein Gesicht an ihren Hals.

„Wenn er größer wird, kann er nicht einfach zu Leuten gehen und an ihnen riechen, da kriegt er Probleme“, sagt Berchner später. Unangemessenes Verhalten versucht sie in der Therapie „umzuleiten“: Die Pädagogin hat eine Bildkarte gebastelt, auf der ein Kopf abgebildet ist und eine Nase. „Darf ich an deinem Hals riechen?“, steht darauf. Wenn er näherkommt, um das zu tun, zeigt sie ihm seit kurzem die Karte, damit er diese mit der Aktivität verbinden und danach fragen kann – und bietet ihm als alternative Begrüßungsmöglichkeit ein high five an. „Ich weiß nicht, ob das klappen wird“, sagt sie. „Es ist ein Versuch, weil wir Angst haben, dass er damit irgendwann aneckt oder weggeschubst wird.“

In wenigen Monaten läuft die Therapie aus. Mit etwas zeitlichem Abstand könnten Razvans Eltern noch einmal vier Jahre Autismustherapie beantragen. Die Warteliste am ATZ ist allerdings lang – Kinder mit der Diagnose „frühkindlicher Autismus“ warten bis zu drei Jahre auf einen Platz. Christina Berchner wird der Abschied schwerfallen. Sie ist gespannt, wie Razvan sich entwickelt. „Keine Ahnung, was die Pubertät mit ihm macht, wie er dann wird, das ist wirklich schwer einzuschätzen“, sagt sie. „Aber ich denke, er wird immer Hilfe brauchen oder zumindest jemanden, der in der Nähe ist.“

„Das bin ich, das mag ich, das will ich.“

Ein Abend im September. Razvan sitzt zu Hause, auf seinem Platz am Kopfende des Esstischs. Seine Füße balancieren – wie immer, wenn er zu Hause isst – auf einem Fußball, während er mit der Gabel in den Nudeln mit Lachs stochert, die seine Mutter gekocht hat. Zwischendurch lässt er die Gabel liegen, spielt mit den Fingern an seiner Zungenspitze. Die Bewegung ist neu, vor einem halben Jahr hat er sie noch nicht gemacht. „Nu se poate“, sagt Oxana. Und dann: „Manchmal würde ich gerne für eine Stunde in seinen Kopf schauen, um zu verstehen, wie er denkt und was er braucht.“

Oxana mag, wer sie ist, seit Razvan auf der Welt ist. Früher, sagt sie, hätte sie danach gelebt, was andere von ihr erwarten. Ihr Sohn habe ihr beigebracht, sich abzugrenzen: „Das bin ich, das mag ich, das will ich.“ Über die Zukunft aber denkt sie nicht gern nach. Sie macht ihr ein bisschen Angst, sagt sie. Wie wird sich Razvan entwickeln? Wird er selbständig leben können? Nicolai ist sich sicher, dass Razvan für immer bei ihnen bleiben wird. Wenn Oxana darüber spricht, treten ihr Tränen in die Augen. Weil sie sich wie eine schlechte Mutter fühlt, sagt sie, wenn sie sich bei dem Wunsch ertappt, dass ihr Sohn irgendwann auszieht, sein eigenes Leben lebt – und sie das ihre.

Nach dem Essen gibt sie Razvan Lamotrigin gegen die Epilepsie und Melatonin, damit er besser schläft. In der Wanne duscht sie ihn im Stehen, hält seinen Nacken, wäscht sein Gesicht. Razvan spielt mit seinen eingeseiften Händen, versteckt sich vor dem Wasserstrahl. Sie putzt ihm die Zähne, er zieht immer wieder den Kopf zurück. Dann ist er fertig und läuft nackt ins Wohnzimmer, das Handtuch über den Schultern. Oxana reicht ihm eine Unterhose, er steigt falschherum hinein. Als sie ihm das T-Shirt über den Kopf zieht, streicht er über die Knopfleiste und schnaubt.

Dann nimmt er seine Mutter bei der Hand, führt sie zu dem Schrank, in dem sein Bettzeug verstaut ist. Weil Razvan nur auf dem Sofa schläft, räumt Oxana seine Decke und sein Kissen tagsüber beiseite. Sie klappt das Sofa aus, zieht ihm noch eine Windel an und gibt ihm eine Tablette Intuniv gegen die Unruhe. Dann deckt sie ihn zu und legt sich neben ihn. Razvan greift nach ihrem Arm, er seufzt. Sie sieht ihn an. Langsam fallen ihm die Augen zu.

Zum ersten Mal an diesem Tag ist er ganz ruhig.

Was ist Autismus? Die Geschichte einer Diagnose

Der Begriff Autismus tauchte erstmals Mitte des 20. Jahrhunderts in der diagnostischen Beschreibung von Patient-innen und Patienten auf. In den ­ersten beiden Fassungen des ­Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM), dem ­internationalen Klassifikationswerk zur ­Diagnose psychischer Erkrankungen, von 1952 und 1968 wurde die Störung jedoch noch als „kindliche Schizophrenie“ geführt. Erst im DSM-III von 1980 hielt der „kindliche ­Autismus“ als eigen-ständige Diagnose Einzug.

Die International Statistical ­Classification of Diseases and ­Related Health Problems (ICD) zur ­Klassifikation von Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation WHO unterschied ab 1993 in der zehnten ­Fassung zwischen dem „frühkindlichen Autismus“, dem „atypischen Autismus“ und dem „Asperger-syndrom“ – und fasste die verschiedenen Ausprägungen als „tief-greifende Entwicklungsstörungen“ ­zusammen. Da die einzeln auf-geführten Störungsbilder jedoch ­charakteristische Gemeinsam-keiten aufweisen, spricht die ICD in ­ihrer Version von 2022 ­stattdessen – ebenso wie das DSM in der fünften Fassung von 2013 – von „Autismus-Spektrum-Störungen“ unter dem Überbegriff der „neuromentalen Entwicklungsstörungen“. Zusätzlich unterteilt die ICD-11 nach Intelligenzent-wicklung und Beeinträchtigung der funktionellen Sprache.

Autismus ist zum Großteil genetisch bedingtZwillingsstudien haben gezeigt, dass die Vererbbarkeit bei etwa 80 Prozent liegt. Bei 233 Genen ist es bereits belegt, dass eine Mutation mit nahezu 100-prozentiger Wahrscheinlichkeit zu einer ASS-Erkrankung führt. Diese Genmu-tationen sorgen über verschiedene Wege für eine veränderte Zell-funktion – das betrifft auch die Nervenzellen und ihre Schaltkreise im ­Gehirn.

Etwa zwei Drittel der von ASS betroffenen Personen haben Symptome von mindestens einer, im Schnitt sogar zwei bis drei weiteren Erkrankungen. Das sind neben ADHS und Epilepsie auch Angststörungen oder Zwangserkrankungen. Teilweise werden sie durch ähnliche Faktoren verursacht: Bei ADHS überlappen sich beispielsweise die genetischen Risikofak­toren. Andere Komorbiditäten wie Angststörungen können darüber hinaus auch durch die Ausgrenzung entstehen, die Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung erfahren.

Umwelteinflüsse können – in der Kombination mit einer genetischen Prädisposition – die Wahrscheinlichkeit für ASS erhöhen: Beispielsweise ist gut belegt, dass Valproat, ein Antiepileptikum, während der Schwangerschaft ASS verursachen kann. Weitere Risikofaktoren, die untersucht wurden, sind ein höheres Alter der Eltern, Übergewicht oder Diabetes. Auch die Belastung durch Feinstaub und Umweltgifte während der Schwangerschaft steht offenbar in einem Zusammenhang mit einem erhöhten ASS-Risiko, wenn die Mutter ein genetisches Grundrisiko mitbringt. Der Effekt dieser Umwelteinflüsse ist allerdings sehr gering.

Seit der Jahrtausendwende beobachten Forscherinnen und Forscher weltweit einen Anstieg der Prävalenz der Autismus-Spektrum-Störung. Aktuell geht man davon aus, dass etwa einer von einhundert Menschen betroffen ist, bei Kindern liegt die Zahl etwas höher, wobei ASS deutlich häufiger bei Jungen diagnostiziert wird. Die Störung ist immer besser erforscht, erfährt mehr öffentliche Aufmerksamkeit und auch Ärztinnen und Ärzte sind besser geschult. Zudem werden die Kriterien genauer und erlauben im Zweifelsfall früher eine Diagnose.

Text: Helena Weise, Redaktion und Fachexpertise: Eva-Maria Träger

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Quellen

Georg Theunissen (Hg.): Autismus verstehen. Außen- und Innensichten. Kohlhammer 2020 (2., aktualisierte Auflage)

Inge Kamp-Becker, Sven Bölte: Autismus. UTB 2021 (3., vollständig überarbeitete Auflage)

Gee Vero: Das andere Kind in der Schule. Autismus im Klassenzimmer. Kohlhammer 2020

Gee Vero: Autismus – (m)eine andere Wahrnehmung. Books on Demand 2023

Christine M. Freitag u.a.: Genetische Risikofaktoren und ihre Auswirkungen auf die neurale Entwicklung bei Autismus-Spektrum-Störungen. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 50/3, 2022, 187–202

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2025: Ich entscheide, was ich fühle