Robust, fröhlich, gut organisiert – diese Begriffe fallen in der Regel, wenn Freundinnen und Freunde, Nachbarn oder Arbeitskolleginnen über Annette Brandt sprechen. Die 48-jährige Architektin, die in Wirklichkeit anders heißt, hätte solchen Beschreibungen bis vor einiger Zeit selbst zugestimmt. Als berufstätige Mutter von zwei Töchtern im Grundschulalter gelang es ihr trotz aller Verpflichtungen, sich mit Freundinnen zu treffen, mit ihrem Mann gelegentlich ins Theater und regelmäßig joggen zu gehen.
Doch…
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mit Freundinnen zu treffen, mit ihrem Mann gelegentlich ins Theater und regelmäßig joggen zu gehen.
Doch in den letzten Jahren fühlte sich Brandt häufig dumpf und leer. Ohne richtig zu begreifen, was mit ihr los war. Situationen, die sie vorher erfreut hätten, ließen sie kalt: „Ich konnte mich beim Laufen nicht mehr an der Schönheit der Landschaft erfreuen, fühlte nichts mehr“, erinnert sie sich. Dennoch schob sie die Niedergeschlagenheit weg, versorgte die Kinder, ging arbeiten, stürzte sich in schöne Freizeitaktivitäten. Doch irgendwann sei alles eine Pflichtübung gewesen.
Als sich dann bei einem Bauprojekt im Job die Pannen häuften, fühlte sich Brandt von Resignation überwältigt, zog sich innerlich zurück. Die optimistisch-zupackende Fassade bröckelte, sie meldete sich krank. In dieser Zeit beschloss sie, eine Psychotherapie anzufangen. Die ersten Fragen, die dort aufkamen: Warum hatte sie ihre depressive Stimmung so lange ignoriert? Und wie war sie überhaupt in ihre missliche Lage gekommen?
Außen engagiert, innen deprimiert
Diese Fragen können für viele Menschen hilfreich sein. Denn es scheint eine Tendenz zu geben, Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit vor anderen, aber auch vor sich selbst zu verbergen – und einfach weiterzumachen. In den letzten Jahren ist das Muster der verdeckten Depression in der Fachpresse, Ratgeberliteratur und auf den Websites von Krankenkassen häufig beschrieben worden. Oft wird der Begriff „hochfunktionale Depression“ genutzt, bei der Menschen nach außen hin weiter funktionieren, sich innerlich jedoch teilnahmslos und verzweifelt fühlen.
Ein ähnliches Syndrom nennt sich „versteckte Depression“; die amerikanische Psychotherapeutin Margaret Robinson Rutherford beschreibt es in ihrem gleichnamigen Buch (siehe Rezension in Heft 3/2024). Sie schildert ihre Erfahrung mit Patienten, die verantwortungsvoll, engagiert und oft auch erfolgreich sind, sich unter der Oberfläche aber depressiv fühlen, bis hin zur Suizidalität. In fast allen Fällen spielt dabei die innere Überzeugung eine Rolle, dass man keine Fehler machen darf, die Kontrolle behalten muss, anderen nicht zur Last fallen sollte. Auch hier wird die seelische Krise verborgen.
Permanent am Rande der Erschöpfung
Ein dritter Begriff aus dem Umfeld der Depression ist burn on (siehe Psychologie Heute 3/2022). Er bezeichnet, dass Menschen sehr leistungsorientiert sind und ständig in Aktion, obwohl sie sich längst im roten Bereich der Verausgabung befinden. „Wir wissen im Moment nicht, ob es sich um eine Vorstufe von Burnout handelt oder ob das Leute sind, die permanent am Rande der Erschöpfung leben, ohne je ganz zusammenzubrechen“, sagt der Psychotherapeut Timo Schiele.
Zusammen mit dem Psychiater Bert te Wildt hat er ein Buch zum Thema geschrieben, das zahlreiche Fallbeispiele aus dem Berufsalltag der beiden einbezieht. Sie arbeiten in der Psychosomatischen Klinik Kloster Dießen am Ammersee. Die Resonanz auf das Buch ist groß, in den Schilderungen finden sich viele Menschen wieder.
„Wir sollten uns stets verdeutlichen, dass es sich bei all diesen Beschreibungen nicht um offizielle Diagnosen oder wissenschaftlich erforschte klinische Begriffe handelt“, sagt Eva-Lotta Brakemeier, Direktorin des Zentrums für Psychologische Psychotherapie an der Universität Greifswald. „Diese Beschreibungen werden allerdings in den sozialen Medien häufig diskutiert, Menschen fühlen sich davon offenbar angesprochen. Das sollten wir ernst nehmen.“
In den letzten Jahren, erklärt die Psychotherapieforscherin, habe sich herausgestellt, dass Depressionen in ihrem Erscheinungsbild heterogener seien als angenommen. Wenn neue Beschreibungen von depressiven Zuständen auftauchen, die von der Bevölkerung aufgegriffen werden, können möglicherweise behandlungsbedürftige Depressionen eher erkannt werden. Das bietet eine Chance, Krisen erfolgreicher zu behandeln. Denn je früher Depressionen erkannt werden, desto besser können Therapien in der Regel wirken. Auch das Risiko einer Chronifizierung der Symptome ist dann geringer. Das legt etwa eine Metastudie des Neurowissenschaftlers Christoph Kraus von der Medizinischen Universität Wien nah.
Zwischen Depression und Perfektionismus
Fest steht außerdem, dass psychische Erkrankungen wie Ängste oder Depressionen in den letzten zwanzig Jahren zugenommen haben, nicht erst seit der Pandemie. Einer Studie des Robert-Koch-Instituts aus dem Jahr 2017 zufolge berichteten 9,7 Prozent der Frauen und 6,3 Prozent der Männer, innerhalb der letzten zwölf Monate eine entsprechende Diagnose erhalten zu haben. Klinische Depressionen sind durch drei Leitsymptome gekennzeichnet: gedrückte Stimmung, Interessenverlust/Freudlosigkeit und Antriebsmangel. Damit eine leichte oder eine mittlere Depression diagnostiziert wird, müssen zwei Symptome vorhanden sein, bei schweren Depressionen alle drei.
Eva-Lotta Brakemeier vermutet, dass ein Begriff wie „hochfunktionale Depression“ vor allem Menschen hellhörig macht, die in einer seelischen Krise sind, sich traurig, belastet und freudlos fühlen, sich aber im klassischen Bild von depressiver Antriebslosigkeit nicht wiederfinden – ihr Alltag ist einfach zu betriebsam. Doch dass man trotzdem depressiv sein kann, zeigen nicht zuletzt Studien, die einen Zusammenhang zwischen Depression und Perfektionismus belegen.
Psychotherapeutin Margaret Rutherford beschreibt Menschen, die ihre Depression verstecken, in zehn Punkten, unter anderem spielen eine Tendenz zum Perfektionismus, starke Leistungsorientierung und die Überzeugung, „dankbar sein zu müssen“, eine Rolle. Das Verbergen der eigenen Belastung ist also kein Vorsatz oder gar eine bewusste Täuschung anderer: Wenn Menschen ihre seelischen Schwierigkeiten verbergen, denken sie laut Rutherford, dass es anderen schlechter geht, dass sie sich zusammenreißen müssen, dass sie schlicht nicht zeigen dürfen, was los ist, um andere nicht zu belasten.
Versteckspiel ist ein Teil des Problems
So ging es Annette Brandt. Jahrelang hatte sie das Gefühl, eigentlich ein schönes Leben zu führen und deshalb nicht jammern zu dürfen. Ihr Konzept, mit Leistung und Optimismus den Status quo aufrechtzuerhalten und die innere Leere wegzudrücken, schien lange aufzugehen. Erst in der Therapie merkte sie, dass ihre Ansprüche an sich selbst viel zu hoch waren, sie beispielsweise ihrem Mann und ihren Freundinnen gegenüber kaum Schwächen zeigte, sie sich nicht die Blöße geben wollte, irgendetwas nicht gut zu machen.
„Als ich mir eingestanden habe, dass ich nicht mehr kann, war es auch eine Erleichterung“, erzählt Brandt. Ein weiterer wichtiger Schritt sei gewesen, anzuerkennen, dass sie schon eine Weile in einer Krise war, das aber nicht sehen konnte und wollte. „Im Grunde war das Verstecken Teil des Problems“, sagt sie heute.
Sich anderen öffnen
Andersherum gilt aber auch: Aus der Deckung zu kommen und sich zu zeigen kann ein Schlüssel zur Veränderung sein. Das betont Psychotherapeutin Rutherford: „Wenn Sie sich eingestehen, dass Sie sich angewohnt haben, einen wesentlichen Teil von sich vor anderen zu verbergen, und dann allmählich ein Gefühl dafür entwickeln, wie befreiend und erfullend es sein kann, sich in Ihrer Gesamtheit zu akzeptieren, sind zwangsläufig tiefgreifende Veränderungen die Folge.“
Ob man seelische Leiden zeigt oder versteckt, ist also ein wichtiger Faktor im Genesungsprozess. Wäre es dementsprechend sinnvoll, einen Begriff wie „hochfunktionale Depression“ in offizielle Diagnosemanuale aufzunehmen? Hier gibt es kritische Stimmen: „Ich glaube nicht, dass es zielführend ist, darüber zu spekulieren, ob wir noch weitere Diagnosen rund um die Depression brauchen“, sagt Thorsten Padberg, niedergelassener Psychotherapeut in Berlin.
In seinem Buch Die Depressions-Falle vertritt er die These, dass die Diagnose der Depression ohnehin seit Jahren ausgeweitet werde, oft auf wenig hilfreiche Weise. „Die Grenze zwischen dem Gefühl Traurigkeit und der Erkrankung Depression wurde willkürlich gezogen. In der Diagnostik wird oft nicht berücksichtigt, ob es für die schlechten Gefühle einen guten Grund gibt. Dadurch werden viele psychische Notlagen heute als Krankheiten angesehen“, so Padberg.
Es geht ihm darum, nicht jede offene oder verborgene Niedergeschlagenheit, Leere oder Erschöpfung sofort auf eine mögliche klinische Depression hin abzuklopfen, nicht zuletzt weil mit einer Diagnose nicht nur Entstigmatisierung und Erleichterung, sondern auch Stigmatisierung und Belastung verbunden seien.
Ein Gesicht für die Arbeit und eins für Zuhause
Die Verwässerung des Depressionsbegriffs wird auch von den Psychologen Nick Haslam und Yu Xiao von der University of Melbourne thematisiert. Sie belegen in einer aktuellen Studie, dass immer mehr seelische und emotionale Zustände und Befindlichkeiten mit dem Begriff Depression in Verbindung gebracht werden. Ein solcher concept creep, also die Ausweitung und Verallgemeinerung eines Erklärungskonzepts führt zu einem inflationären Gebrauch, die Erklärungskraft lässt nach und die Gefahr von vorschnellen Diagnosen entsteht.
Laut Padberg ist es auch erst mal gar nicht pathologisch, Traurigkeit und Niedergeschlagenheit zu verbergen. „Es ist heute oft durchaus vernünftig, nicht permanent Gefühle zu zeigen. Die Verdichtung der Arbeit ist hoch. Wir treffen beruflich und privat viele unterschiedliche Menschen, die wir oft nicht gut kennen“, sagt Padberg und zitiert den Schriftsteller Milan Kundera, der einmal von einem „Gesicht für die Arbeit“ gesprochen hat, das wir manchmal vergessen abzunehmen, wenn wir nach Hause gehen. Das passt gut zu der Beschreibung der verdeckten Depression, bei der man einfach weitermacht, auch wenn man sich verzweifelt fühlt.
„Wir leben in einer Gesellschaft, in der es gute Gründe dafür gibt, möglichst zu funktionieren“, sagt auch der Psychotherapeut Timo Schiele. Viele Menschen tragen ein ausgeprägtes Leistungsethos in sich. Das kann die Angst fördern, abgehängt zu werden. Auch deshalb fühlen sich Menschen mit Burn-on angetrieben, laufen wie im Hamsterrad weiter. Manche arbeiten irgendwann extrem ineffektiv – verbringen aber immer mehr Zeit mit der Arbeit. Das Gefühl, auf keinen Fall nachlassen zu dürfen, bestimmt dann alles. Schiele erzählt von einem seiner Patienten, einem Familienvater, der schließlich auch am Wochenende arbeitete, gar keine Zeit mehr mit Frau und Kindern verbrachte. Er merkte nicht, dass sein Verhalten schädlich war, registrierte nur, dass er sich erschöpft fühlte. Und machte weiter.
Entlastung im Kopf, Entlastung im Umfeld
Es würde sich also lohnen, gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen es leichter wird, sich auch mal mit Schwäche oder Müdigkeit zeigen zu können, findet Timo Schiele. „In therapeutischen Gruppen in der Klinik herrscht oft eine wohlwollende Stimmung. Die Patienten können ausprobieren, wie es ist, sich mit ihrer Ratlosigkeit, Erschöpfung oder Traurigkeit zu zeigen“, erzählt er.
Viele Menschen trauen sich in diesem geschützten Rahmen oft erstmals bewusst, sich anderen zuzumuten. Oft mit der Angst, dass sie dann als „nicht wertvoll“ oder „egoistisch“ erscheinen könnten. Wenn sie in der Gruppe die Erfahrung machen, dass oft sogar mehr Verbundenheit entsteht, wenn man nicht nur seine Schokoladenseiten, sondern auch Zweifel und Traurigkeit teilt, können viele das mit in den Alltag nehmen. Sie zeigen dann auch dort eher Seiten, die sie vorher versteckt haben.
Thorsten Padberg findet es dennoch wichtig, dass Menschen in der Krise ausloten, welche äußeren Umstände stärken und welche belasten. Wer etwa alleinerziehend sei oder unter prekären Bedingungen arbeite, habe oft schlicht zu wenig Rückhalt, sich vorbehaltlos zu zeigen. Manchmal sei dann eine Entlastung der psychosozialen Situation hilfreicher als eine Psychotherapie, findet Padberg. Wenn es zum Beispiel möglich ist, weniger zu arbeiten. Gleichzeitig lohnt es natürlich, im Umfeld zu gucken, welche Orte, Umstände und Beziehungen dennoch stärken.
„Wenn Betroffene eine psychische Krise verbergen, ist eine Verbundenheit mit der Familie, den Freunden, engen Bezugspersonen besonders wichtig“, sagt Timo Schiele. Die Liebsten sind dann nicht nur als Stütze, sondern auch als Korrektiv gefragt. Zum Beispiel bei dem bereits erwähnten Familienvater, der trotz Erschöpfung immer mehr arbeitete. Erst als seine Frau ihm sagte, dass sein Verhalten sie extrem belaste, sie mit der kompletten Kinder- und Hausarbeit allein sei und bald selbst zusammenbreche, konnte er wirklich realisieren, wie groß sein Problem war – und er versuchte, etwas zu ändern.
Zugang zur eigenen Innenwelt
Am schwersten fällt es Betroffenen allerdings oft, die Gefühle von Belastung, Erschöpfung oder Niedergeschlagenheit vor sich selbst zuzugeben. Margaret Rutherford hat beobachtet, dass Menschen, die zu perfekt versteckter Depression neigen, Emotionen wie Wut, Traurigkeit oder Ohnmacht nicht zulassen. In der Psychotherapie sei es deshalb wichtig, den Patientinnen einen „Zugang zur eigenen Innenwelt zu ermöglichen“.
Sie erzählt von einer Patientin, die berichtete, dass sie schmerzhafte Gefühle in eine Box wegschließe und für sich beschlossen habe: „Wenn mein Schmerz zu groß für die Box wird, nehme ich eben eine größere.“ Diese Art der „Kompartmentalisierung“ – also der strikten inneren Abtrennung bestimmter Gedanken und Emotionen – ist laut Rutherford typisch für Menschen mit versteckter Depression. Im Prozess gehe es dann darum, die Box zu öffnen und Gefühle von Trauer oder vermeintlicher Unzulänglichkeit zuzulassen. Dabei helfe zum Beispiel die Übung „Blick in die verborgene Gefühlskammer“, mit der man lernt, versteckte Gefühle und Erinnerungen wahrzunehmen, die Kisten, in die sie gepackt wurden, zu beschriften und ausgewählte Emotionen genauer anzuschauen.
Es hilft, dort anzufangen, wo man sich nicht überfordert – zum Beispiel bei einer kleinen Niederlage im Beruf –, und die damit verbundenen Gefühle bewusster zu spüren und anzunehmen. Dass die Akzeptanz unangenehmer Gefühle und Zustände depressive Episoden lindern kann, ist in der Forschung rund um die Akzeptanz- und Commitmenttherapie belegt worden.
Was hat nebeneinander Platz?
Eigene Emotionen zu akzeptieren ist aber nur einer von mehreren Ansätzen, aus einer verborgenen Niedergeschlagenheit herauszufinden. Wichtig ist laut Timo Schiele auch, ein Verständnis für die Vielfalt der inneren Anteile zu entwickeln. Es gehe darum, bewusst wahrzunehmen, wie viele sich scheinbar widersprechende Emotionen, Impulse und Bedürfnisse eigentlich gut nebeneinanderstehen können.
Für Burn-on-Patienten sei es oft eine wichtige Entdeckung, dass neben dem starken Bedürfnis, etwas zu leisten – das sich zum Beispiel in der Überzeugung „Ich darf keine Pause machen“ ausdrückt –, auch ein gegenläufiger innerer Anteil existiert, der sagt: „Ich brauche eine Pause.“ In dem Therapieprozess gehe es dann darum, verschiedene Anteile immer bewusster wahrzunehmen und der „Ich brauche eine Pause“-Stimme immer dann Raum zu geben, wenn es wichtig und möglich ist. Die Vorstellung, dass beide Anteile ihren Platz haben können und man keinen bekämpfen muss, ist für viele Menschen entlastend – es wird dann leichter, eine Balance zwischen Leistung und Loslassen zu finden.
"Ich darf Fehler machen!"
Ist der Impuls, die Traurigkeit zu verstecken, sehr hartnäckig, liegen die Gründe oft auch in der Biografie. Laut Margaret Rutherford haben Menschen, die depressive Episoden verstecken, oft bereits in der Kindheit funktionieren müssen, nicht selten für Geschwister oder Eltern gesorgt, oder sie wuchsen mit Härte, Unerbittlichkeit oder starken Leistungsidealen auf. Wenn es für Kinder ein Risiko ist, sich mit ihren Bedürfnissen oder Schwächen zu zeigen, lernen sie schnell, dass perfektes, klagloses Funktionieren ein Schutz sein kann.
Mit Betroffenen arbeitet Rutherford deshalb in der Psychotherapie alte Prägungen auf und schafft ein Bewusstsein dafür, dass die Überlebensstrategie, eigene Gefühle zu verbergen, in der Kindheit rettend war – heute aber keinen Sinn mehr ergibt. Es ist dann wichtig zu verstehen, dass Regeln wie: „Wenn ich keine Fehler mache, passiert mir nichts“, oder: „Ich bin pflegeleicht und falle niemandem zur Last“, jetzt nicht mehr gebraucht werden. Schließlich ist man erwachsen, kann sich selbst helfen und lebt oft auch mit anderen Menschen zusammen als früher.
Diesem Prozess schließt sich ein praktischer und freudvoller Schritt an: Patientinnen stellen neue Regeln auf, die für sie passen, zum Beispiel: „Ich darf Fehler machen, das ist okay.“ Oder: „Ich mute mich anderen auch mal zu.“ Dadurch entstehen Freiheiten.
Schon seit der Kindheit nicht mehr traurig
Damit sich innere Überzeugungen verändern, ist es allerdings oft wichtig, dass man neue Beziehungserfahrungen macht und konkret spürt, dass man sich ausgewählten Bezugspersonen tatsächlich anvertrauen kann. „Besonders chronisch depressive Menschen, die zum Teil schon seit ihrer Kindheit und Jugend mit Depression zu tun haben, helfen diese oft heilsamen Beziehungserfahrungen während einer Psychotherapie“, sagt die Psychologieprofessorin Eva-Lotta Brakemeier.
Gemeinsam mit Kolleginnen hat sie die CBASP-Therapie im deutschsprachigen Raum etabliert. Diese integrative, störungsspezifische Psychotherapiemethode ermöglicht chronisch Depressiven, sich in der Therapeutin-Patient-Beziehung ganz konkret angenommen, beschützt und geborgen zu fühlen.
Brakemeier erzählt etwa von einer 54-jährigen schwer depressiven Patientin, die auf einem Bauernhof mit vielen Geschwistern aufgewachsen sei, dort schon als Kind hart arbeiten und immer mithelfen musste, unter anderem beim Kaninchenschlachten. Sie erinnerte sich, dass sie dabei weinte und weglaufen wollte; ihr Vater reagierte jedoch barsch, befahl ihr, mit dem Weinen aufzuhören, und drohte an, dass sie sonst noch länger beim Schlachten helfen müsse.
Diese Frau hatte früh gelernt, dass sie keine Traurigkeit oder Bedürftigkeit zeigen durfte und funktionieren musste. Von ihren Mitmenschen erwartete sie, dass diese ihr mit Härte begegneten. In der Therapie wäre es laut Brakemeier nicht ausreichend gewesen, beispielsweise nur an diesen kognitiven Überzeugungen zu arbeiten. In den Sitzungen ging es deshalb insbesondere darum, der Patientin zu zeigen, dass sie mit allen Gefühlen willkommen ist, dass sie verzweifelt oder traurig sein darf. Dazu gehörte etwa, dass sich die Patientin in der Therapiestunde auch mal durchweinen durfte, nichts leisten musste. Die Therapeutin war in dieser Stunde einfach für sie da.
Wichtig ist es laut Brakemeier natürlich, dass man diese neuen Erfahrungen später gemeinsam mit Patienten reflektiert und bewusst herausstellt, dass die neue Qualität der Begegnung sich deutlich von Prägungen aus der Kindheit unterscheidet. Das kann bei Patientinnen das Vertrauen stärken, sich auch vor anderen Menschen und andernorts mit ihren Bedürfnissen, negativen Gefühlen, Schwächen, ihrer Müdigkeit und ihren Zweifeln willkommen zu fühlen und sich nicht verstecken zu müssen.
Der Spur der Neugier folgen
Die CBASP-Therapie ist hilfreich, wenn Betroffene an chronischen Depressionen leiden, oft liegen erste Episoden bereits in Kindheit und Jugend. Viele dieser Patientinnen sehen Resignation als einen Teil ihrer Persönlichkeit an. Bei Menschen, die eher zu „perfekt versteckten Depressionen“ neigen, ist die Stimmungslage anders. Wie eine Kippfigur wechseln sich schlechte und halbwegs gute Zeiten ab. Außerdem erinnern sich die meisten an sehr lange Phasen, in denen es ihnen gutging, das Leben sich freudvoll anfühlte. Viele sind von der depressiven Stimmung anfangs sogar überrascht. All das spricht dafür, dass es sich hier um Krisen handelt, die auch mit den Lebensumständen zu tun haben.
Für den Psychotherapeuten Thorsten Padberg ist es dann wichtig, nicht zu sehr in die Biografiearbeit abzutauchen. „Es lohnt, auch einmal genauer zu untersuchen, was eigentlich im Leben aktuell schiefläuft und wie man überhaupt an den Punkt gekommen ist, an dem Niedergeschlagenheit oder ein Gefühl von Sinnlosigkeit so stark geworden sind.“ Dann könne es helfen, der Spur der Neugier aufs eigene Leben zu folgen, zu schauen, welche Ideen sich entwickeln. Auch Fragen wie „Was macht mir Freude?“, „Was finde ich sinnvoll?“ oder „Wonach sehne ich mich?“ könnten richtungsweisend sein.
Die Tendenz, Zweifel und Niedergeschlagenheit wegzuschieben, sei oft ein Zeichen, dass man sich noch nicht wagt zu erforschen, was im aktuellen Leben fehlt, nicht mehr passt oder wo eine Belastung überhandgenommen hat. Kriselt es in der Liebesbeziehung? Ist die Doppelbelastung mit Kindern zu hoch? Wünscht man sich im Beruf andere Aufgaben? Gibt es finanzielle Sorgen? Padberg hat in seiner Praxis oft Prozesse begleitet, in denen Menschen einen Ausweg aus depressiven Episoden fanden, nachdem sie neue Lösungen entwickelt und sich eingestanden hatten, dass irgendwo zu viel Druck war, und wenn möglich Rahmenbedingungen im Leben verändert hatten.
Wieder Zeit für Erholung
Annette Brandt haben verschiedene Einsichten geholfen. In der Psychotherapie hat sie ihren ausgeprägten Perfektionismus bewusster angeschaut und gelernt, die Ansprüche an sich selbst zu senken. Sie hat aber auch ganz praktische Neuerungen vorgenommen, zum Beispiel die Arbeitszeit im Architekturbüro um 20 Prozent reduziert. „Ich habe gemerkt, dass die Stunden mit den Kindern am Nachmittag mir zwar wichtig sind, aber sie sind überhaupt keine Erholung“, sagt Brandt.
Sie hat außerdem angefangen, gelegentlich mit ihrem Mann segeln zu gehen, ein Hobby, das beide vor der Familienphase geteilt hatten. Diese Mischung von Veränderungen – jede einzelne für sich genommen gar nicht so groß – führte dazu, dass Brandt irgendwann feststellte, dass sie sich stundenweise froh fühlte, mit anderen verbunden, sogar entspannt. Immer mal wieder. Traurig und erschöpft ist Brandt trotzdem häufig. Aber sie hat aufgehört, das möglichst gut zu verstecken. Auch das, findet sie, ist eine Entlastung.
Wollen Sie mehr zum Thema erfahren? Dann lesen Sie, wie Frontfrau der Band Wir sind Helden Judith Holofernes bemerkte, dass sie ihre Verzweiflung versteckte in "Wir verweisen die Freude in eine Mini-Ecke".
CBASP
Das cognitive behavioral analysis system of psychotherapy ist eine von James P. McCullough entwickelte Therapieform speziell zur Behandlung chronischer Depressionen. Die integrative Methode beinhaltet viele interpersonelle, verhaltenstherapeutische und psychodynamische Strategien. Zentral ist neben der Arbeit mit Situationsanalysen und dem Herausarbeiten von Prägungen auch die Bedeutung und Gestaltung der therapeutischen Beziehung.
Selbstreflexion
Sie wollen verstehen, warum es Ihnen nicht gutgeht? Die folgenden Fragen von Hanne Seemann, Joanna Moncrieff und Thorsten Padberg können Ihnen helfen, das Problem einzukreisen. Nehmen Sie gern Zettel und Stift zur Hand und schreiben Sie Ihre Gedanken auf:
Wie sind Sie in Ihre missliche Lage gekommen?
Angenommen Sie schauen von oben (zum Beispiel wie ein Vogel im Flug) auf Ihr Leben: Was sehen Sie? Was könnten Gründe für eine Krise sein?
Was würde Ihnen Freude machen, was hat Ihnen in der Vergangenheit Freude bereitet? Welchen Raum hat das in Ihrem Leben?
Wer oder was gibt Ihnen im Leben ein Gefühl von Sinn und Verbundenheit?
Was müssten Sie tun, damit Ihre Situation noch verzweifelter wird? Welche Schlüsse leiten Sie daraus ab?
Seit wann fühlen Sie sich abgeschnitten, ausgelaugt oder bedrückt? Wann genau fing das an?
Können Sie sagen, wo Ihre Seele wohnt? (Bei dieser etwas irritierenden Frage geht es um eine ganz intuitive Antwort, zum Beispiel: In den Bergen.) Was folgt daraus für Sie?
Betroffenen helfen
Wenn nahestehende Personen Krisen verstecken, können wir sie unterstützen, das Thema ans Licht zu bringen. Der Psychotherapeut Timo Schiele gibt Hinweise, wie das gelingt:
Einladung zur Unvollkommenheit
Wenn Sie das Gefühl haben, dass Partner oder Partnerin, Freundinnen oder Verwandte ihre depressive Stimmung verbergen, sollten Sie bewusst eine Atmosphäre schaffen, in der es leichter wird, Schwächen zu zeigen. Sie können Trost anbieten, signalisieren, dass Sie da sind, nichts Besonderes erwarten. Das Gegenüber wird sich dann eher öffnen.
Ist Feedback erwünscht?
Versuchen Sie, Rückmeldung zu geben – ohne Schuldzuweisung oder Panikmache. Dabei hilft es, zunächst eine Erlaubnis einzuholen, etwa durch die Frage: „Bist du an einer Rückmeldung interessiert?“ Oder: „Willst du wissen, wie ich es sehe?“ Wenn das Gegenüber dann ja sagt, können Sie fortfahren.
Vorsichtig formulieren
Versuchen Sie, sachlich zu schildern, was Sie wahrnehmen. Zum Beispiel: „Aus meiner Warte wirkst du gerade oft abwesend. Wie nimmst du das wahr?“ Oder: „Du sagst seit Monaten gemeinsame Vorhaben ab. Es scheint, du stehst unter Druck. Stimmt mein Eindruck?“ Dann hören Sie zu, was der andere sagt. Selbst wenn er abwiegelt – die Rückmeldung wird weiterwirken.
Die Beziehung betonen
Signalisieren Sie, dass Sie die Rückmeldung geben, weil die andere Ihnen wichtig ist. Sagen Sie: „Du liegst mir am Herzen, deshalb sage ich dir das alles.“ Oder: „Mir macht das Sorgen, ich habe dich früher nie so niedergeschlagen erlebt. Kann ich etwas für dich tun?“ So schaffen Sie Verbundenheit.
Quellen
Eva-Lotta Brakemeier: Die Mauer überwinden: Wege aus der chronischen Depression. Selbsthilfe und Therapiebegleitung mit CBASP. Beltz, Weinheim 2013
Eva-Lotta Brakemeier, Elisabeth Schramm, Martin Hautzinger: Chronische Depression. Fortschritte der Psychotherapie, Hogrefe, Göttingen 2013
Bert de Wildt, Timo Schiele: Burn-on. Immer kurz vorm Burnout. Das unerkannte Leiden und was dagegen hilft, Droemer HC, München 2021
Christoph Kraus u.a.: Prognosis and improved outcomes in major depression: a review. Translational Psychiatry, 9/127, 2019, https://doi.org/10.1038/s41398-019-0460-3
Thorsten Padberg: Die Depressions-Falle: Wie wir Menschen für krank erklären, statt ihnen zu helfen. S. Fischer, Frankfurt am Main 2021
Margaret Rutherford: Die versteckte Depression. Wenn Perfektionismus krank macht. Junfermann, Paderborn 2023
Julia Thom u. a.: 12-Monats-Prävalenz der selbstberichteten ärztlich diagnostizierten Depression in Deutschland. Journal of Health Monitoring , 2/3, 2017, 72-80, DOI 10.17886/RKI-GBE-2017-057
Yu Xiao u.a : Have the concepts of ‘anxiety’ and ‘depression’ been normalized or pathologized? A corpus study of historical semantic change. PLoS ONE 18/6, 2023: e0288027. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0288027