Im Wandel: Mit Veränderungen gut umgehen

Die Welt wandelt sich rasant. Wir sind gezwungen, uns ständig auf Neues einzulassen. Wie wir resilienter mit Lebensveränderungen umgehen können.

Die Illustration zeigt eine junge Frau, die mit ausgebreiteten Armen durch die Länder reist
Von einem auf den anderen Moment verändert sich unser Leben. Wandel ist allgegenwärtig. Wichtig ist es, dennoch verankert zu bleiben. © Ralf Nietmann für Psychologie Heute

Das kleine Mädchen starrt mich an, die Augen weit aufgerissen vor Neugier. Erst als ihr Vater sie ermahnt, kehrt sie mir widerwillig den Rücken zu. Es ist Anfang März 2022. Ich stehe in einer Schlange an einem Flughafen in Saudi-Arabien und fühle mich wie ein Fremdkörper. Als ich schließlich zur Passkontrolle gerufen werde, ist meine lange Kleidung schweißdurchtränkt, mein ganzer Körper zittert. Ich soll meine Finger auf ein Gerät legen, das Abdrücke speichert. Es funktioniert nicht.

Der Beamte mustert mich…

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funktioniert nicht.

Der Beamte mustert mich von oben bis unten, dann blättert er durch meinen Reisepass und all die Stempel, die ich in den vergangenen Monaten gesammelt habe. „Sie machen sich verdächtig“, brummt er. Ich kann es ihm nicht verübeln. Ich komme mir selbst vor wie eine Betrügerin. Eigentlich sollte ich jetzt in Namibia sein, so wie ich es lange geplant und verkündet hatte: Auswandern, Abschied für immer, goodbye Deutschland. Endlich erfasst das Gerät meinen Fingerabdruck. Nach einem letzten strengen Blick presst der Grenzbeamte den nächsten Stempel in meinen Pass und lässt mich passieren. Hinein in ein neues Kapitel, das ich so nie geplant hatte.

Vom Auswandern zum Nomadenleben

Rund ein Jahr zuvor hatte ich meine Festanstellung in Frankfurt gekündigt und mich als freie Autorin selbständig gemacht. Gemeinsam mit meinem Freund bin ich in die namibische Hauptstadt Windhoek gezogen. Doch anders als geplant, wurden unsere Aufenthaltsgenehmigungen nicht verlängert. Dann bekam mein Freund das Angebot, mindestens ein Jahr lang als Projektberater im Nahen Osten zu arbeiten. Er sagte zu, und ich reiste mit ihm.

In Namibia konnten wir vorerst ohnehin nicht mehr bleiben. Und als freie Autorin arbeiten konnte ich überall. Seitdem blieb ich nie länger als drei Monate in einem Land: Saudi-Arabien, Großbritannien, Deutschland, wann immer möglich Namibia, Jordanien. Was als Auswanderung begann, wurde zum Nomadenleben. Und immer wieder quälte mich die Frage: Wie soll ich mich zurechtfinden, wenn sich um mich herum ständig alles ändert?

Damit bin ich nicht allein. Für uns alle wird es immer wichtiger, sich schnell auf Neues einzulassen. Schließlich verändert sich die Welt in rasantem Tempo, das sich in jüngster Zeit noch gesteigert zu haben scheint: Ukrainekrieg, Corona­pandemie, Klimakrise, Digitalisierung. An einem Tag ist „vom neuen Normal“ die Rede, am nächsten Tag gelten schon wieder andere Regeln. Geht es nach Wirtschaftspsychologen wie Carl Naughton, dann ist Anpassungsfähigkeit sogar die „wichtigste Zukunftskompetenz“. Die Psychologie, schreibt er in seinem Buch AQ, verstehe darunter unter anderem die Bereitschaft und das Vermögen, mit Veränderungen umzugehen und daraus Nutzen zu ziehen. Dazu zähle auch die Fähigkeit, sich zu erholen, wenn unvorhergesehene Ereignisse die Lebenspläne verändern.

Zurück in den Augenblick kommen

„Physiologisch sind Veränderungen immer ein Kampf, weil Ressourcen abgezweigt werden müssen – das ist ein sehr energieintensiver Prozess“, erklärt Naughton bei einem Zoom-Treffen. Das Gehirn bevorzugt dagegen den Energiesparmodus. Routinen und bekannte Abläufe ermöglichen es ihm, bereits ausgetretene neuronale Pfade zu nutzen, statt mühsam neue zu schaffen. „Das Ziel eines Organismus ist es schließlich, sich möglichst effektiv in seiner Umwelt zu bewegen.“

Bevor wir uns für Veränderungen entscheiden, stellen wir deshalb eine innere Kosten-Nutzen-Rechnung auf, sagt Naughton: Lohnt sich das wirklich? Unter Ungewissheit beeinflussen allerdings kognitive Verzerrungen unsere Entscheidungen. Das zeigt unter anderem die prospect theory des Nobelpreisträgers Daniel Kahneman. Demnach fürchten Menschen Verluste mehr, als dass sie Gewinne begrüßen – und halten deshalb lieber am Status quo fest.

Was passiert, wenn wir den Zufall als Entscheidungshilfe nutzen? Diese Frage stellte sich der amerikanische Ökonom Steven Levitt 2021. Auf einer Website ließ er unentschlossene Versuchspersonen eine virtuelle Münze werfen. Sie alle standen vor wichtigen, manchmal sogar lebensverändernden Entscheidungen. Das Spektrum reichte von „Soll ich eine Diät machen?“ bis zum Gedanken an eine Scheidung. Bei Kopf sollten sie die Veränderung angehen, bei Zahl sollten sie alles beim Alten lassen. 20000-mal fiel die Münze in Levitts virtuellem Entscheidungslabor. Jeweils zwei Monate und ein halbes Jahr später fragte Levitt alle, wie es ihnen ging.

Das Ergebnis: Jene Versuchspersonen, die große Lebensveränderungen in Angriff genommen hatten, waren glücklicher als jene, die an ihrem Status quo festgehalten hatten. Dabei spielte es keine Rolle, ob sie tatsächlich dem Rat der Münze gefolgt waren oder nicht. Levitts Fazit: Im Zweifel sollten wir uns für das Neue entscheiden. Und darauf vertrauen, dass es sich früher oder später auszahlen wird.

Trauer um den Lebenstraum

Von diesem Veränderungsglück bin ich nach meiner Ankunft in Saudi-Arabien noch weit entfernt. Ich schlafe schlecht, trauere meinem Traum vom Leben in Namibia hinterher. Das Einzige, was mir Halt gibt, sind meine Routinen. Jeden Morgen stehe ich mit dem Ruf des Muezzins auf, schreibe eine halbe Stunde lang, mache eine Stunde lang Sport, plane meinen Arbeitstag akribisch, gehe duschen und setze mich dann wieder an meinen Laptop. Das Apartment verlasse ich in den ersten Wochen nur selten. Als wollte ich nicht wahrhaben, dass es die fremde Welt vor der Wohnungstür tatsächlich gibt. „Es ist ganz normal, dass sich große Veränderungen erst einmal schlecht anfühlen“, sagt die Psychologin Ilona Bürgel. Das gilt vor allem dann, wenn uns die äußeren Umstände zu dem Schritt gedrängt oder gar gezwungen haben.

Sie vergleicht den Veränderungsprozess mit dem Krisenmodell des schwedischen Psychiaters Johan Cullberg. Phase eins: der Schock, die Lähmung, das Nicht-wahrhaben-Wollen. Darauf folgt die Phase der Reaktion, wie ich sie während meiner ersten Wochen in Saudi-Arabien durchlebte. Gefühle wie Frust und Enttäuschung kommen auf, gepaart mit Überforderung. „In dieser Phase kann die Formel ,Es ist, wie es ist‘ helfen“, sagt Bürgel.

„Der Satz erlaubt uns, zurück in den Augenblick zu kommen und uns darauf zu konzentrieren, was wir in der neuen Situation aktiv beeinflussen können.“ Gelingt das, finden wir uns in Phase drei wieder. Wir wehren uns nicht mehr gegen die Veränderung, sondern akzeptieren sie und suchen nach Lösungen. Es folgt die vierte Phase, die Neuorientierung zu sich selbst und zur Umwelt.

Hier können Sie mehr über Lebensveränderungen lesen:

Bei Tee und Baklava über den Wandel sprechen

In Saudi-Arabien dauert es mehrere Wochen, bis ich meinen inneren Widerstand aufgebe und mich dem Neuen öffne. Mein Freund und ich reisen in ein kleines Dorf am Roten Meer. Eine Familie sieht uns durch die Straßen wandeln und lädt uns zu Tee und Baklava in ihr Haus ein. Wir verbringen den Nachmittag auf der Couch in ihrem Wohnzimmer, sprechen über das Leben in Saudi-Arabien und darüber, wie sich das Land in den vergangenen Jahren gewandelt und vorsichtig geöffnet hat. „Ich freue mich auf das, was auf uns zukommt“, sagt Mohammed, der Vater der Familie. Er sagt aber auch, dass diese Veränderung ein langer Prozess sei, der wohl noch viele Jahre andauern wird.

Ein paar Stunden später fahren wir mit fünf Litern Kamelmilch im Gepäck und einem Lächeln im Gesicht zurück zu unserem Apartment. Zum ersten Mal fühle ich mich wohl, betrachte all die neuen Einblicke als Geschenk. Gleichzeitig weiß ich, dass auch dieses Kapitel nur von kurzer Dauer sein wird. Mein Visum wird nach drei Monaten ablaufen. Ob ich danach wieder nach Namibia einreisen kann, weiß ich zu diesem Zeit­punkt noch nicht. Mein Antrag liegt in einer Behörde in Windhoek.

Wie geht man mit anhaltender Ungewissheit um, und was macht das mit der Psyche? Bei meiner Suche nach Antworten stoße ich auf eine Plattform für sogenannte third culture kids, zu Deutsch „transnationale Kinder“. Weil ihre Eltern als Diplomaten, Expats oder im Militär arbeiten, ziehen sie von klein auf von einem Land in das nächste. Das hinterlässt Spuren. Studien zeigen, dass transnationale Kinder häufig unter Gefühlen wie Rastlosigkeit leiden. Als Erwachsene haben sie oft Schwierigkeiten, sich auf intime Beziehungen einzulassen. Auf der anderen Seite bescheinigt die Forschung diesen Menschen mehr Flexibilität und Offenheit für andere Kulturen.

Jordanien wächst mir ans Herz

Auch innerhalb der Heimat kann Unbeständigkeit belasten. Laut dem Gesundheitsreport der Techniker-Krankenkasse aus dem Jahr 2020 werden Zeitarbeiter häufiger wegen psychischer Beschwerden krankgeschrieben als anderweitig Beschäftigte. Fordert ständiger Wandel also einen Tribut? Die Psychologin Agnes Justen-Horsten berät Menschen, die im Ausland arbeiten und häufig den Standort wechseln. Sie sagt: „Veränderung kann bereichernd sein. Aber ebenso wichtig ist, im Leben Kontinuität zu bewahren.“ Anders als der Münzenwerfer Levitt rät die Psychologin dazu, sich im Zweifel auch mal gegen das Neue zu entscheiden. Wenn sich etwas nicht stimmig anfühlt, dann sei es völlig legitim, nein zu sagen. Oder zunächst kleinere Schritte zu nehmen, statt gleich den großen Sprung zu wagen.

Entscheidend ist das richtige Maß, das gilt auch bei Veränderungen. „Unser Organismus strebt vielen Modellen zufolge nach Homöostase, sprich: Wir brauchen ein Gleichgewicht zwischen Stabilität und Instabilität“, sagt der Wirtschaftspsychologe Naughton. Wo genau die eigene Balance liegt, ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Und auch das kann sich im Laufe des Lebens verändern. Naughton ist fest davon überzeugt, dass sich die Anpassungsfähigkeit ­trainieren lässt. „Ein erster wichtiger Schritt ist, dass wir uns erlauben, das Nichtalltägliche, Nichtroutinierte wieder neugierig zu erkunden.“ Wenn er bei seinen Vorträgen für mehr Neugier plädiert, dann hört er häufig die Frage: Was, wenn ich zu neugierig bin? Er antwortet, dass er in all seinen ­Praxisjahren noch nie einen zu neugierigen Menschen getroffen habe.

Während ich diese Zeilen schreibe, sitze ich in Jordanien. Für mich war der Aufenthalt zunächst ein Kompromiss. Mein Freund und ich konnten uns weiterhin am Wochenende sehen, zugleich konnte ich durch das Land reisen und Reportagen schreiben. Es dauerte nicht lange, bis sich meine ­Perspektive änderte und mir Jordanien ans Herz wuchs. Die Menschen, das Essen, die Natur; die arabische Sprache, die mir anfangs so hart vorgekommen war und nun, mit jedem neu gelernten Wort, immer mehr wie Poesie.

Und dann, eine Woche bevor meine Zeit in Jordanien endet, meldet sich plötzlich unsere Visa-Agentin aus Namibia. Unsere Aufenthaltsanträge wurden genehmigt. Einen Moment lang fühlt es sich an, als hätte jemand die Welt angehalten, die sich in den letzten Monaten so schwindelerregend schnell gedreht hatte.

Kurz vor Weihnachten fliegen wir zurück nach Namibia, mit einem Zwischenstopp in Saudi-Arabien. In diesen Tagen denke ich oft an das kleine Mädchen und unsere Begegnung am Flughafen zurück. Ist Neugier viel zu häufig etwas, das uns abtrainiert wird? Wenden wir als Erwachsene Unbekanntem aus Angst oder Höflichkeit lieber schnell den Rücken zu? Heute würde ich dem Blick des Mädchens nicht mehr ausweichen. Ich würde lächeln und versuchen, ein bisschen mehr zu sein wie sie.

Vier Tipps, um mit Veränderungen umzugehen

Diese Tipps helfen für einen Perspektivwechsel:

1. Zum Gestalter des Wandels werden

Wie wir mit Veränderung umgehen, hängt vor allem von unserer Perspektive ab, sagt die Psychologin Ilona Bürgel: Fühle ich mich der Situation hilflos ausgeliefert oder betrachte ich mich als aktive Gestalterin der Zukunft? Bürgel rät dazu, sich vor und in Phasen des Umbruchs immer wieder folgende Frage zu stellen: Was kann ich beeinflussen? „Was unabhängig von den äußeren Umständen immer geht, ist der gute Umgang mit uns selbst“, sagt sie.

Scheinbar kleine Dinge können einen großen Unterschied machen: Spaziergänge und Sport etwa, gesunde Ernährung, der Austausch mit Freunden und Familie. Was immer Körper, Geist und Seele stärkt. „Wenn es mir gutgeht, habe ich auch die Kapazitäten, mit Veränderungen und Krisen umzugehen“, sagt Bürgel. Umgekehrt gelte: Wenn wir ohnehin erschöpft sind, können uns selbst positive Veränderungen stressen, zum Beispiel der Umzug in eine schöne Wohnung.

2. Kleine Alltagsinseln und Orte der Ruhe schaffen

„Wir brauchen Stabilität. Nicht erst wenn Veränderungen oder Krisen kommen, sondern immer“, sagt Bürgel. Die Psychologin plädiert dafür, im Alltag feste Rituale einzuplanen, die uns guttun. In der Hinsicht könnten wir viel von unseren Großeltern lernen, sagt sie: Kaffee und Kuchen um 16 Uhr zum Beispiel möge einigen vielleicht altmodisch anmuten, sei aber eine kluge Idee. „Solche kleinen festen Inseln geben uns im Alltag Struktur. Ganz unabhängig davon, was im Außen passiert“, sagt sie.

Auch Rückzugsorte können Halt geben. Die Psychologin Agnes Justen-Horsten rät in Phasen des Umbruchs zu bewussten Auszeiten, etwa in einem Café oder der Natur.

3. Sich an die eigene Ressourcen erinnern

Wenn sich Veränderung überwältigend anfühlt, kann ein Blick zurück helfen. Bürgel rät zum Fokus auf folgende Frage: Wie habe ich neue Situationen in der Vergangenheit bewältigt, zum Beispiel eine Trennung oder den ersten Arbeitstag? Was hat mir damals geholfen? „Der Rückblick gibt uns gleichzeitig Hoffnung und das nötige Selbstvertrauen: Wenn ich das schon mal geschafft habe, kriege ich das auch wieder hin“, sagt Bürgel.

4. Psychologische Distanz schaffen

In seinem Buch rät der Wirtschaftspsychologe Carl Naughton zu folgendem Gedankenexperiment: „Stellen Sie sich vor, Sie sehen die Erde vom Mond aus. Das Ziel ist, dieses Gefühl der Losgelöstheit zu haben, weit entfernt zu sein. Diese psychologische Distanz zu Ihrem Wohnort, Ihrem Homeoffice, Ihrer Firma relativiert vieles. Sie verändert Ihre Wahrnehmung der Welt, Ihre Einschätzung, wie schwierig Dinge sind, oder auch die Art, wie Sie sich selbst sehen.“

Quellen

Carl Naughton: AQ. Warum Anpassungsfähigkeit die wichtigste Zukunftskompetenz ist. Gabal Verlag, Offenbach am Main 2022

Daniel Kahneman, Amos Tversky: Prospect Theory: An Analysis of Decision under Risk. Econometrica, 47/2, 1979, 263–291.

Johann Cullberg: Krisen und Krisentherapie. Psychiatrische Praxis, 5, 1978, 25–34

Stven D. Levitt: Heads or Tails: The Impact of a Coin Toss on Major Life Decisions and Subsequent HappinessThe Review of Economic Studies, 88/1, 2021, 378–405.

Emily Hervey: Cultural transitions during childhood and adjustment to college. Journal of Psychology and Christianity, 28, 2009, 3–12. 

Techniker Krankenkasse (Hg.): Gesundheitsreport 2020 – Zeitarbeit: Chance oder Risiko? Arbeitssituation und Gesundheit von Zeitarbeitern.

Agnes Justen-Horsten: On the Move: Ein psychologischer Wegbegleiter für das Leben und Ar-beiten im Ausland. Psychosozial-Verlag, Gießen 2022

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 4/2023: Schüchtern glücklich sein