Das Stalintrauma der Psychoanalyse

Wie entwickelte sich die Psychoanalyse im Osten? Auf kluge Weise vergleicht Historiker Andreas Peterson ihren Einfluss in Ost- und Westeuropa.

Ein Bücherstapel mit den Büchern, die in Ausgabe 7/2024 vorgestellt werden
Das ist der Bücherstapel der Rezesionen aus der Juliausgabe. © Psychologie Heute

Andreas Petersen ist Historiker, auf Osteuropa spezialisiert. Sein neues Buch Der Osten und das Unbewusste. Wie Freud im Kollektiv verschwand zeigt, dass er sich sehr gründlich und detailliert mit dem hoffnungsvollen Beginn und tragischen Scheitern der von Anfang an komplizierten Beziehung zwischen Psychoanalyse, Marxismus und der russischen Revolution beschäftigt hat.

Sexualbefreiung und Psychoanalyse

Die Psychoanalyse verstand sich zu Freuds Zeiten als Bewegung, die eine triebfeindliche Erziehung reformieren wollte und seelische Störungen als erstickte Entwicklung und nicht als ererbte Minderwertigkeit sah. Sie stand dem Projekt der sozialistischen Revolution durchaus nahe, die sich der Unterdrückung von Menschen in den Diensten von Kapitalinteressen widersetzte.

Alfred Adler war Sozialist, eine der ersten psychoanalytischen Zeitschriften erschien in Russland. Trotzki lebte eine Zeitlang in Wien und hatte Kontakt zu Freuds Wiener Kreis. Vielleicht wäre alles anders geworden für die Psychoanalyse im Osten, wenn der revolutionäre Freigeist Trotzki nicht gegen den paranoiden Bürokraten Stalin den Kürzeren gezogen hätte.

Petersen skizziert Persönlichkeiten, die lückenhafte Kenntnisse der Tiefenpsychologie euphorisch und radikal in den Dienst der Bolschewisten stellten und von diesen auch unterstützt wurden, galt es doch, nicht nur neue Besitzverhältnisse, sondern auch einen neuen Menschen zu schaffen. Bald zeigte sich aber, dass die Sexualbefreiung als von der Psychoanalyse angestoßenes (von Freud allerdings kritisch reflektiertes) Geschehen der Parteidisziplin widersprach.

Je stärker sich der bürokratische Machtanspruch der Partei unter Stalin konsolidierte, desto mehr Gegenwind bekamen tiefenpsychologisch denkende Reformer. Freuds Lehre galt den Stalinisten als subversiv, bürgerlich und „idealistisch“, sie habe im dialektischen Materialismus nichts zu suchen.

Die unterwürfige Tiefenpsychologie

Was sehr zu denken geben kann und von Petersen immer wieder ausgeführt wird, ist die geradezu schwungvoll und begeistert wirkende Bereitschaft der Tiefenpsychologen, sich der Parteilinie und der von Stalin geforderten Lehre Pawlows zu unterwerfen, der den Menschen als formbare Maschine definierte. Eine Bereitschaft, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in den Satelliten Moskaus, darunter auch in der DDR wiederholte.

Die deutsche (Tiefen-)Psychologie hatte das Hitlerregime durch die Preisgabe der jüdischen Kollegen und eine Bevorzugung des „Ariers“ C.G. Jung recht gut überstanden; 1941 wurde ein Diplomstudiengang in Psychologie eingeführt, dessen Strukturen mehrere Generationen von Psychologinnen und Psychologen prägten. An dem von einem Verwandten des Reichsmarschalls Göring geleiteten Zentralinstitut in Berlin ausgebildete Analytiker suchten diese Tradition in der DDR fortzusetzen. Sie wurden aber von den in Moskau geformten Kadern gezwungen, Freud abzuschwören und Pawlow zu huldigen.

Andreas Petersen: Der Osten und das Unbewusste. Wie Freud im Kollektiv verschwand. Klett-Cotta 2024, 352 S., € 25,–

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2024: Die Straße der guten Gewohnheiten
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