Das Ressourcen-Trüffelschwein der Traumatherapie

Therapiestunde: Übergriffe traumatisierten die Patientin – ambulante Therapien scheitern. Chefärztin Susanne Altmeyer greift auf Intensiv-EMDR zurück.

Die Illustration zeigt eine Frau, die auf ein Notausgang-Schild schaut
Die Patientin findet keinen Weg aus ihrem Trauma. Die Therapeutin zeigt ihre wo ihre inneren Kraftquellen liegen. © Michel Streich für Psychologie Heute

„Ich trete mit einer ungewöhnlichen Bitte an Sie heran: Seit vielen Jahren arbeite ich mit EMDR und weiß mir mit einer langjährigen Patientin, die frühkindlichen sexuellen Missbrauch durch ihren Vater erlitt, keinen Rat mehr. Nun habe ich auf einer Tagung den Vortrag einer englischen Kollegin über Intensiv-EMDR gesehen und habe meine Patientin gefragt, ob sie sich auf einen solchen Therapiemodus einlassen könne. Sie hat ja gesagt und jetzt suche ich einen Ort in Deutschland, an dem so etwas stattfinden…

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könne. Sie hat ja gesagt und jetzt suche ich einen Ort in Deutschland, an dem so etwas stattfinden könnte.“

Durch die Hand des Vaters

Die Sätze dieser E-Mail waren der Beginn einer besonderen therapeutischen Begegnung. Frau Schubert*, wie ich sie nennen möchte, hatte bereits viel Schlimmes in ihrem Leben erfahren müssen. Als kleines Mädchen erlitt sie sexuelle Gewalt durch den Vater immer dann, wenn er alkoholisiert war, die depressive Mutter schützte sie nicht. Ein normaler, angstfreier Umgang mit Männern war ihr danach kaum möglich, sie erlebte mehrere bedrohliche und übergriffige Situationen.

Mit viel Anstrengung schaffte sie Schule und Studium und war endlich selbständig – da riss ein Starkstromunfall an ihrer Arbeitsstelle sie mit Mitte 20 erneut aus ihrem Lebensfluss und sie fand sich auf der Intensivstation eines Krankenhauses wieder. Sie überstand die körperlichen Folgen, die seelischen machten ihr sehr zu schaffen und Bilder und Gefühle der Kindheit, die sie verdrängt hatte und nicht mehr einordnen konnte, verwirrten sie so sehr, dass sie mehrfach in psychiatrische Kliniken eingewiesen wurde. Dort verstand niemand, was mit ihr los war, was alles nur noch viel schlimmer machte, und zweimal versuchte sie, sich das Leben zu nehmen. Sie überlebte auch diese Krise und schaffte es, beruflich Fuß zu fassen – zwei Leichenfunde, die sie miterlebte, einer davon eine enge Freundin, brachten erneut alles ins Wanken

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Sie hatte das Glück, einen sensiblen und engagierten Psychotherapeuten zu finden, der ihr half, sich wieder zu stabilisieren, und mit Mitte 30 fühlte sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben angekommen. Dann wurden mehrere medizinische Eingriffe notwendig, wie die Versorgung eines Abszesses, eine Zahnbehandlung, eine Blinddarmoperation, in deren Verlauf es zu einem engen Körperkontakt mit dem medizinischen Personal kam und die jeweils dazu führten, dass sie in extreme dissoziative Zustände geriet, ihre Umgebung als surreal erlebte, depressiv und apathisch wurde und wochenlang nicht mehr arbeiten konnte. Auch die Stunden bei ihrem Therapeuten halfen ihr kaum noch, eine Bearbeitung der vermutlich zugrunde liegenden traumatischen Körpererfahrungen in ihrer Kind­heit war nicht möglich.

Acht Phasen

So kam es zur Anfrage an meine Klinik, ob wir in einer einwöchigen EMDR-Intensivtherapie die traumatisierenden sexuellen Übergriffe behandeln könnten. EMDR bedeutet eye movement desensitization and reprocessing, also Desensibilisierung und Neuverarbeitung mithilfe von Augenbewegungen oder anderen Formen einer abwechselnden Rechts-links-Stimulierung in einem achtphasigen sehr strukturierten Vorgehen, an dessen Anfang eine intensive Vorbereitung steht. Zentral ist dann ein kurzzeitiges Nachspüren der belastenden Erinnerung bei gleichzeitiger bilateraler Stimulation, so lange bis die subjektiv erlebte Belastung sich verändert. Dadurch soll die Verarbeitungsblockade der belastenden Erinnerung aufgehoben werden. Am Ende dieses Prozesses erfolgt eine Integration in Erinnerungsnetzwerke, so dass Entwicklungs- und Selbstheilungsprozesse in Gang gesetzt werden können.

Wir ermöglichen unseren Patientinnen und Patienten in der Klinik normalerweise bis zu drei EMDR-Stunden wöchentlich, eingebettet in ein atmosphärisch sehr bewusst gestaltetes freundliches Umfeld und ein reichhaltiges psycho- und körpertherapeutisches Gruppenangebot. Die EMDR-Intensivtherapie, die mein Kollege anfragte, beinhaltet mehrere Stunden EMDR täglich für mehrere Tage.

Es war ein Experiment, auf das ich mich vor allem aus zwei Gründen einließ: Zum einen gab es ermutigende Erfahrungen von Kolleginnen und Kollegen aus Großbritannien und den Niederlanden, die fast zu schön waren, und ich war neugierig, ob wir das auch hinbekommen könnten. Zum anderen emp­finde ich es als extrem ungerecht, in wie vielen Bereichen Menschen, die in ihrer Kindheit Gewalt ausgesetzt waren, später beeinträchtigt sind, und bin immer wieder bereit, auch Ungewöhnliches auszuprobieren.

In Telefonaten mit Frau Schubert und ihrem Therapeuten bereitete ich fünf Tage stationärer Therapie vor und es resultierte ein Plan von 27 Stunden EMDR in dieser Woche.

Verbindung zu eigenen Kraftquellen

Der spannende Moment der ersten Begegnung im Empfangsbereich der Klinik: eine attraktive, fantasievoll gekleidete Frau von Anfang 40 trat auf mich zu und sah mich freundlich und offen an. Ich hatte für diesen Tag vier Stunden Therapie vorgesehen und da sie seit langem Erfahrung mit EMDR hatte, starteten wir sofort. Nach einem ersten gegenseitigen Kennenlernen und der Benennung und Stärkung ihrer eigenen Kraftquellen, die ihr in dem, was vor ihr lag, helfen sollten, folgte die genaue Planung und Vorbereitung der Woche.

Wichtig für mich war auch, zu wissen, was ich als ihre Therapeutin auf keinen Fall machen sollte, die „Don’ts“ der Therapie. Sie bat vor allem darum, sie nicht zu berühren und auch nicht zu fragen, ob ich sie anfassen dürfe. Ich stellte mich ihr als „Ressourcentrüffelschwein“ vor, das es als eine seiner Hauptaufgaben sehe, sie mit ihren eigenen Kraftquellen in Verbindung zu bringen.

Anhand der Traumalandkarte, die sie vorbereitet hatte und auf der 16 vergangene, aber noch immer belastende Erlebnisse beziehungsweise Phasen aufgeführt waren, legten wir fest, dass wir mit den zeitlich am kürzesten zurückliegenden Ereignissen, den medizinischen Eingriffen schon am Nachmittag beginnen, dann zu den Leichenfunden, dem Starkstromschlag mit den nachfolgenden psychiatrischen Aufenthalten und Suizidversuchen kommen wollten, um uns erst dann mit den körperlichen Übergriffen in Pubertät und den Gewalterfahrungen der Kindheit zu beschäftigen.

Inneres Chaos sortieren

Mit kleinen Variationen hielten wir uns ziemlich genau an den Plan und arbeiteten eine schlimme Erinnerung nach der anderen durch, was belastend und anstrengend war, aber wir blieben ganz eng in Kontakt mit ihren Ressourcen. Es gab sehr viel Struktur, auch Angst und Weinen, aber auch viel Lachen und ein konsequentes Dranbleiben – gemeinsam stellten wir uns den Monstern ihrer Erinnerung und brachten sie mit EMDR zum Verblassen und zum Schrumpfen. Mein Eindruck war, dass die intensive Vorbereitung, der sorgfältige Plan und seine zwar sehr dichte, aber damit auch vollständige Einhaltung wichtig waren. Sie fühlte sich sehr entlastet am Ende, wie befreit, EMDR in der großen Intensität hatte offenbar gewirkt! Ganz zum Schluss kam von ihr ein für mich unerwarteter Wunsch: Ob wir uns zum Abschied umarmen könnten.

Das ist jetzt einige Jahre her und ich habe den Lebensweg von Frau Schubert weiter mitverfolgen dürfen. Ich habe ihr meine Therapieprotokolle zur Verfügung gestellt, sie mir ihre Tagebuchaufzeichnungen nach den Therapiestunden und es ist ein Buch entstanden, das ich ihr gewidmet habe.

„Beim Lesen Ihrer Seiten hat sich bei mir erneut eine innere Ruhe eingestellt. Dieses Gefühl, von Ihnen verstanden zu werden und dieses innere Chaos sortiert zu haben, ist so gut! Auch nach mittlerweile zwei Jahren bin ich immer wieder überrascht, dass es mir so anders und gut gehen kann und ich mich innerlich einfach viel entlasteter und sicherer fühle. Vielen Dank, dass Sie sich auf dieses Experiment und mich so eingelassen haben! Ganz liebe Grüße von Frau Schubert.“

* Persönliche Daten und alle Einzelheiten, welche die Patientin erkennbar machen könnten, wurden verändert

Dr. med. Susanne Altmeyer ist Fachärztin für psychosomatische Medizin und Psychotherapie, systemische Psychotrauma- und EMDR-Therapeutin, Chefärztin der Traumaklinik im Gezeiten Haus Schloss Eichholz und Autorin des Buches Der Guhl, das ganz Kleine, und die tentakeligen Monster. Systemisches Protokoll einer EMDR-Intensivtherapie (Shaker 2023, 2. Auflage).

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2024: Die schönste Zeit: Alleinsein