„Overthinking wird unterschätzt.“

Wird Grübeln in produktiven Bahnen gehalten, hat es großes Potenzial. Doch Overthinking wird pathologisiert oder ignoriert; das stört Pablo Hubacher.

Die Illustration zeigt den Philosophen, Pablo Hubacher Haerle, der meint, dass Overthinking unterschätzt wird
Pablo Hubacher Haerle ist Philosoph und promoviert an der Universität Cambridge. © Jan Rieckhoff für Psychologie Heute

Haben Sie sich schon einmal gefragt, ob Sie zu viel denken? Sind Sie eine Grüblerin, ein Grübler? Wenn ja, dann sind wir wohl beide overthinkers. Der schöne englische Ausdruck bedeutet so viel wie „sich zu viele Gedanken machen“. Auf Deutsch lässt sich das nicht elegant übersetzen. Wörtlich hieße es „überdenken“, aber das ist schon für einen bewussten Akt des erneuten Nachdenkens reserviert. Hingegen wird mit Overthinking verbunden, dass es häufig gegen den Willen der denkenden Person passiert und stört.

Die Depressionsforscherin Susan Nolen-Hoeksema beschrieb drei verschiedene Arten: Erstens gibt es das interne Beklagen, ähnlich der guten Freundin, die einfach mal emotionalen Dampf ablassen muss. Zweitens nennt sie das kreisende Finden von tausend Gründen, wieso man gescheitert ist und es gar nicht besser verdient hat. Letztlich gibt es auch noch den chaotischen Typus, bei dem man von einem negativen Erlebnis zum nächsten springt, ohne bei einer Sache zu bleiben. Overthinking ist zudem als Symptom für mehrere psychiatrische Diagnosekategorien gelistet: Depression, Angst- und Zwangsstörung sowie ADHS.

Für die Psychiatrie unattraktiv

Doch der psychiatrische Blick ist oftmals aufs Negative fokussiert. Hingegen birgt Overthinking ein großes Potenzial: Immerhin gibt es auch kreative Gedankenstürme und geistige Vertiefungen, die nicht als negativ empfunden werden. Solange wir das Zuviel­denken also nicht von großen intellektuellen Leistungen abgrenzen können, fehlt uns ein klares Verständnis des Phänomens. Und fassen wir den Begriff breiter (also so, wie er in der Umgangssprache bereits verwendet wird), ist der Denkstil keineswegs nur nervig bis plagend, sondern man könnte ihn schätzen und nutzen.

Ab wann denkt man also zu viel? Wo wird gründliches Nachdenken zum Hindernis oder sogar zur Pathologie? Probleme wie diese sind in der Forschung noch weitgehend ungeklärt. Ein möglicher Grund: Overthinking gehört zu den milden Symptomen; es kommt sowohl in pathologischer als auch in nichtpathologischer Ausprägung vor. Als solches ist es für die Psychiatrie traditionell unattraktiv. Denn kann das Pathologische nicht scharf vom Gesunden abgegrenzt werden, scheint es schnell, als habe es die Psychiatrie überhaupt nur mit unscharfen Begriffen und schwammigen Konzepten zu tun. Und als ehrbare Wissenschaft, die mit tonnenschweren öffentlichen Mitteln unterstützt wird, macht so was einen schlechten Eindruck.

In verschiedene Richtungen denken

Dabei ist genau in diesem Graubereich sowohl empirische als auch konzeptionelle Arbeit nötig. Einige der relevantesten gegenwärtigen Fragen in der Psychiatrie handeln vom Umgang mit ihren Unschärfen. Was macht die Krankheit zur Krankheit? Ab wann geht Trauer in Depression über? Ab wann Stress in Burnout?

Insofern wäre es sinnvoll, dem Phänomen des Zuviel­denkens mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Im Alltag sollte man zudem das Augenmerk aufs Gute legen. Solange man sein Grübeln in produktiven Bahnen halten kann, heißt es schließlich auch: abwägen, reflektieren, in verschiedene Richtungen denken. Das sollten wir in komplexen Zeiten alle häufiger tun.

Pablo Hubacher Haerle ist Philosoph und promoviert am Pembroke College der britischen Universität Cambridge. 2022 gewann er den DGPPN-Preis für Philosophie und Ethik in Psychiatrie und Psychotherapie.

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