Vipassana-Meditation: zehn Tage in absoluter Stille

Zehn Tage Meditation? Ohne Worte! Ein Vipassana-Retreat verspricht Entspannung. Was Teilnehmer und Lehrer sagen, plus: Fakten aus der Wissenschaft

Die Illustration zeigt Teilnehmende eines Vipassana-Meditationsretreat
Hier gelten klare Regeln: nicht Reden, nicht Lesen, kein Augenkontakt, aber zehn Stunden Meditation. © Fien Jorissen für Psychologie Heute

In unserer Rubrik Ist das was für mich? stellen wir jeden Monat ein Angebot aus den Bereichen Therapie, Coaching oder Beratung vor. Und Sie können entscheiden, ob das etwas für Sie ist. Dieses Mal: ein Vipassana-Meditationsretreat

Das sagt der Teilnehmer: Um 4 Uhr morgens ertönte der Gong. Ich stöhnte, zog mir die Decke über den Kopf und fragte mich, was ich an diesem seltsamen Ort eigentlich tat. Es war Tag eins eines zehntägigen stillen Vipassana-Meditationsretreats nahe Zwickau. 120 von uns nahmen teil,…

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tat. Es war Tag eins eines zehntägigen stillen Vipassana-Meditationsretreats nahe Zwickau. 120 von uns nahmen teil, 60 Männer, 60 Frauen. Die Regeln waren strikt: ohne Reden, Lesen, Schreiben, Sport, Augenkontakt, Sex, Masturbation oder digitale Ablenkungen. Das Einzige auf dem Tagesplan: zehn Stunden Meditation.

Zu Beginn und am Ende eines jeden Blocks hörten wir die Stimme von ­Satya Narayan Goenka über die Lautsprecher. S.N. Goenka, wie er meist nur genannt wird, war ein ehemaliger Geschäftsmann, der zum Meditationslehrer wurde und 2013 starb. Seine Organisation betreibt über hundert dieser Retreat­zentren weltweit, die alle nach dem Prinzip „Zahle, was es dir wert war“ funktionieren.

Im Gegensatz zu den anderen Teilnehmern und Teilnehmerinnen war ich nicht freiwillig hier. Meine Freundin hatte mich heimlich angemeldet. Wir kämpften mit einem unerfüllten Kinderwunsch, unsere Beziehung lag in Trümmern. Da ich mich weigerte, eine Therapie zu machen, hoffte sie, das Retreat würde mich zwingen, mich meinen Dämonen zu stellen. Ich hatte keine wirkliche Meditationserfahrung – und war deshalb nicht so verängstigt, wie ich es hätte sein sollen.

Die erste Meditation fühlte sich an wie ein Jahrzehnt, das über mit Säure getränkte Nägel geschleift wurde. Mein Geist suchte pausenlos nach Ablenkung – eine endlose Flut aus Songs, Erinnerungen, Ideen, mehr oder weniger traumatischen Ereignissen, Ängsten und unglücklichen Kindheitserlebnissen. Tag zwei war noch schlimmer. Mein Kopf wurde immer verzweifelter darin, mich abzulenken. Statt hunderter Gedanken kreiste er nur noch um ein paar Themen, auf die ich emotional immer stark reagiert habe. Meistens dreht es sich um Männlichkeit und meinen Glauben, dass ich zu weich und sensibel bin.

Am Ende des dritten Tages blieben nur noch vier wiederkehrende „Dämonen“, wie Goenka sie nannte – schwierige Erinnerungen, die ich tief in meinem Unterbewusstsein vergraben hatte. Nach einer besonders qualvollen Session rannte ich heulend in den Wald, schlug auf einen Baum ein und sprach mit einem Wurm, der – zurücksprach. Das erschreckte mich so sehr, dass ich voller Wut einige Ameisen in meiner Nähe ermordete.

An Tag vier kehrte ich in die Meditationshalle zurück, entschlossen, meine schlimmen Gedanken nicht länger zu bekämpfen. Stattdessen beobachtete ich sie so neutral wie möglich – und begann langsam zu verstehen, was dahintersteckte: falsche Vorstellungen über Männlichkeit, Kontrolle und Liebe. Ich erkannte, wie diese Überzeugungen – zusammen mit dem Stress der Kinderwunschbehandlungen – eine Mauer zwischen mir, meinen Gefühlen und meiner Partnerin errichtet hatten. Langsam beruhigte sich mein Geist. Ich schaffte es bis Tag zehn – aber nur knapp.

Am Nachmittag des letzten Tages durften wir wieder sprechen, und es wurde schnell klar, dass wir alle etwas Ähnliches erlebt hatten. Die Erinnerungen, belastenden Erlebnisse und Dämonen waren unterschiedlich, aber der Prozess – Widerstand, Leid, Erforschung und schließlich Akzeptanz – war derselbe.

Jahre später denke ich immer noch fast täglich an das Retreat. Es hat mir gezeigt, dass ich mich nicht mit jedem Gedanken identifizieren muss, der durch meinen Kopf schießt. Und dass Meditation einen kleinen Spalt zwischen Reiz und Reaktion schaffen kann. In diesem Spalt entscheide ich, was ich tue und sage – und das ist ein großer Teil davon, wer ich bin. Ich bin geduldiger geworden, respektvoller – und irgendwie auch emotionaler.

Adam Fletcher ist Autor. Sein Buch In der Ruhe liegt der Wahnsinn ist 2025 erschienen (C.H. Beck)

Das sagt ein Lehrer: Ich bin seit 2007 Assistant Teacher in Vipassana. S.N. Goenka, der eigentliche Lehrer, erklärt die Details der Methode in unseren Kursen per Audio und Video. Die Assistenzlehrenden helfen den Teilnehmenden bei Schwierigkeiten und meditieren mit ihnen, um eine meditative Atmosphäre aufzubauen.

Unsere Zentren bieten jedes Jahr 39 Zehntagekurse mit je 120 Teilnehmenden an. Dass man während eines Kurses schweigt, gehört dazu. Man kann uns zwei Lehrende aber zu festen Zeiten etwas fragen, und je zwei Kursbetreuer beziehungsweise -betreuerinnen für die Gruppe der Männer und die der Frauen sind ansprechbar. Man soll nur nicht mit anderen Meditierenden Kontakt aufnehmen. Wir empfehlen, völlig für sich zu bleiben.

Um Vipassana zu praktizieren, benötigt man unglaubliche Konzentration und einen geschützten Raum mit festen Regeln und Abläufen; Handys müssen für die Dauer des Kurses abgegeben werden. Man lebt fast wie ein Mönch oder eine Nonne in dieser Zeit. So lernt man ein bisschen, das anzunehmen, was da ist. Die Akzeptanz der Wirklichkeit steht im Zentrum der Lehre.

Wir beginnen mit Anapana, der Atembeobachtung, um die Konzentration zu schulen und den Geist zu beruhigen. Mit Vipassana können Menschen, die mit ihren Alltagsthemen ankommen, erst nach etwa drei Tagen beginnen. Man geht dann systematisch mit der Aufmerksamkeit durch den Körper und versucht, Empfindungen wie Hitze, Kälte, Druck, Kribbeln auf den einzelnen Körperteilen zu spüren. Diese Empfindungen sind mit unserem unbewussten Geist verbunden. Wer sie spürt, steigt in unbewusste Regionen ab, wodurch diese bewusst werden.

Wir spüren so auch die Vergänglichkeit, das Entstehen und Vergehen der Empfindungen und können uns davon distanzieren. Meist reagieren wir ja eher blind: Wenn wir eine angenehme Empfindung spüren, wollen wir mehr davon, ist die Empfindung unangenehm, wollen wir, dass sie weggeht. Wer dieses Muster aufbricht, befreit sich nach und nach von psychischem Ballast und schädlichen Verhaltensmustern.

Vipassana ist allerdings keine Psychotherapie. Mit einer akuten psychischen Erkrankung sollte man keinen Kurs besuchen, sondern professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Auch Menschen, die zum Beispiel eine Psychose hatten, können wir wegen der Gefahr erneuter Symptome leider nicht annehmen. Es ist körperlich und psychisch sehr herausfordernd, so viel zu sitzen und sich zu 100 Prozent mit sich selbst zu konfrontieren. Dabei kommen sehr viele Emotionen hoch, Freude, Trauer, Angst, manchmal fühlen sich Leute davon überwältigt. Dann kann Anapana helfen, oder man läuft mal eine halbe Stunde durch den Wald.

Um ein Gewohnheitsmuster zu ändern, das man sich ein Leben lang angeeignet hat, braucht es sehr viel Geduld. Die zehn Tage eines Kurses reichen eigentlich nur, um zu verstehen, wie man praktizieren soll.

Gerald Fischer ist Assistant Teacher in Vipassana und leitete bis Januar 2025 das Zentrum in Triebel

Das sind die Fakten

Was ist das für ein Angebot?

Die Vipassana-Meditation – ­Vipassana bedeutet „Einsicht“ – ist eine aus Indien stammende, mehr als 2500 Jahre alte Form der systematischen Selbstbeobachtung, auf der auch das Konzept der Achtsamkeit basiert. Mit ihr sind feste ethische Verhaltensregeln für den Alltag verknüpft. Es gibt verschiedene Vipassana-Schulen mit geringfügigen Unterschieden. Charakteristisch für Kurse in der Tradition von S.N. Goenka ist unter anderem die Dauer von zehn Tagen. Der beschriebene Kurs fand im Meditationszentrum Dhamma Dvara in Triebel (Sachsen) statt.

Was kostet die Teilnahme?

Das hier vorgestellte Angebot funktioniert auf Spendenbasis; laut Gerald Fischer variieren die gezahlten Beträge meist zwischen 100 und 1000 Euro. Für Vipassana-Retreats anderer Anbieter werden mitunter Preise von mehreren hundert Euro verlangt. Daneben gibt es viele weitere Möglichkeiten, Meditation in verschiedenen Formen kennenzulernen, besonders populär ist die mindfulness-based stress reduction (MBSR). Viele Krankenkassen bieten teils kostenfreie (Online-)Kurse mit derlei Elementen an.

Was sagt die Wissenschaft?

Viele Studien attestieren Meditation und Vipassana im Besonderen positive Wirkungen, etwa bei Stress, Ängsten und Depressivität. Andere berichten von negativen „Nebeneffekten“ wie Panik, dissoziativem Erleben bis zu psychotischen Zuständen, die bestimmte Umstände offenbar begünstigen. Der Verein Sekten-Info NRW warnt davor, ohne Vorerfahrung an zehntägigen Vipassana-Kursen teilzunehmen. Beratung bei „meditationsinduzierten Krisen“ bietet das Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene in Freiburg.

Quellen

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Harald Walach: Brücken zwischen Psychotherapie und Spiritualität. Schattauer 2021

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2025: Heil bleiben im Beruf