Wie viel Unvernunft ist gut?

Rationalität und Emotionalität sind keine Gegensätze, sondern eng miteinander verbunden. Wie viel Vernunft und wie viel Unvernunft braucht der Mensch?

Eine Fallschirmspringerin ist in der Luft im freien Fall mit ausgestreckten Armen und Beinen und lacht dabei.
Ab und zu kann ein wenig Unvernunft gut tun - zum Beispiel verspricht ein Fallschirmsprung viel Spaß. © Joe McBride/Getty Images

Lange galt als sicher: Der Mensch ist das mit Vernunft begabte Lebewesen. Seine Affekte und Emotionen wurden – jedenfalls in der abendländischen Denktradition – oft ausgeblendet. Auch im täglichen Leben, insbesondere in der heutigen Arbeitswelt ist es angemessen, sich nicht „aufzuregen“, sondern „nüchtern und sachlich“ zu bleiben. Gefühle wirken störend. „Sei vernünftig!“, „Reiß dich zusammen!“, „Überlege dir genau, was du sagst!“ – solche und ähnliche Aufforderungen sind jedem sattsam bekannt.

Doch nach…

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ähnliche Aufforderungen sind jedem sattsam bekannt.

Doch nach allem, was wir inzwischen über unsere Natur wissen, sind Gefühle fester Bestandteil unseres Lebens. Wir treffen unsere Entscheidungen keineswegs nach strikt rationalen Regeln, sondern auf der Grundlage von Neigungen und Präferenzen, die mit Vernunft wenig zu tun haben. Dennoch kann eine Entscheidung als „vernünftig“ gelten, wenn sie uns nur unserem jeweils angestrebten Ziel näherbringt.

Seit der Antike wird der Mensch als animal rationale charakterisiert, aber er ist als animal irrationale vielleicht noch zutreffender bezeichnet. Denn in evolutionstheoretischer Perspektive ist seine Vernunft – nach Immanuel Kant „das ganze obere Erkenntnisvermögen“ – eine sehr dünne Schicht in einem Kontinuum kognitiver Mechanismen, deren Entstehung mit der Entstehung des Lebens auf der Erde vor beinahe vier Jahrmilliarden praktisch zusammenfällt.

Die Vernunft des Überlebens

Im Dienste ihres Überlebens benötigen alle Organismen Informationen über die Beschaffenheit ihrer jeweiligen Außenwelt; jede Spezies, jede Art von Organismus verfügt also über einen, wenn auch noch so einfachen „Erkenntnisapparat“. Dieser hat die Wahrnehmung von Gefahren zu gewährleisten, das Aufspüren von Nahrungsquellen zu ermöglichen und potenzielle Geschlechtspartner zu identifizieren. Auch beim Menschen ging es von Anfang an um nichts weiter als das Überleben. Er musste seine Umgebung in lebensdienlicher Weise einschätzen und Strategien entwickeln, die ihm ein erfolgreiches Manövrieren durch eine ihm nicht gerade freundlich gesinnte Welt ermöglichten. Vielen seiner Individuen gelang dieses Manöver nicht, sie fielen den Unbilden der Natur früh zum Opfer und hinterließen keine Nachkommen. Aber als Ganzes muss es seine Gattung richtig gemacht haben – sonst wären wir heute nicht da.

Tief im Menschen verwurzelt ist eine „Vernunft des Lebens“, die zwar mit Rationalität nichts gemein hat, jedoch dem Überleben dient. Man könnte, wäre dieser Begriff in der Verhaltensforschung inzwischen nicht obsolet (weil vieldeutig und unscharf), von einem „Instinkt“, einem „Überlebensinstinkt“ reden. Wie die anderen Tiere ergreifen wir Menschen beispielsweise bei Gefahr die Flucht, ohne darüber nachzudenken. Die rationale Kalkulation einer unmittelbaren Bedrohung wäre denn auch nicht lebensdienlich.

Konrad Lorenz, einer der Begründer der evolutionären Erkenntnistheorie, charakterisierte das Leben als einen Erkenntnisvorgang. Hierbei handelt es sich um einen Kreislauf von Erfahrung und Erwartung: Wir sammeln Erfahrungen und gründen darauf Erwartungen, deren Bestätigung wiederum unseren Erfahrungshorizont erweitert; aber auch jede nicht bestätigte Erwartung macht uns um eine Erfahrung reicher.

Von unseren stammesgeschichtlichen Ahnen haben wir allerdings Algorithmen ererbt, die uns im Sinne einer Ökonomie der Wahrnehmung dazu anleiten, die Welt zu vereinfachen. Ein typisches Beispiel dafür ist die Gestaltwahrnehmung. Wir abstrahieren aus der Fülle der Merkmale eines Objekts nur die jeweils essenziellen und schauen über den Rest hinweg. Das macht unser Leben einfacher. Müssten wir jedes Ding in allen Einzelheiten genau betrachten, um sicherzugehen, worum es sich handelt, dann kämen wir kaum von der Stelle – und blieben bei Gefahr buchstäblich auf der Strecke. Jeder unserer prähistorischen Vorfahren, der etwa einen Höhlenbären sah, erfasste diesen sofort in seiner ganzen Gestalt. (Sollte einmal ein prähistorischer Mensch einen lebendigen Höhlenbären nicht gleich als solchen wahrgenommen und sich dem Tier genähert haben, um es in allen Einzelheiten genau zu betrachten, dann wurde er nicht alt.) Auf die gleiche Weise „verrechnen“ auch wir heute Objekte unserer Umgebung. Zwar handelt es sich dabei nicht mehr um Höhlenbären, sondern etwa um Autos und andere Fahrzeuge, aber das Prinzip hat sich nicht geändert.

In uns denkt der Jäger und Sammler

Wir sind mit einem altbewährten, in der Evolution durch natürliche Auslese entstandenen, vorrationalen Erkenntnisapparat ausgestattet, der zum Einsatz kommt, noch bevor unser rationaler Zensor eingreift. Aber unsere Welt heute ist viel komplexer als die unserer steinzeitlichen Vorfahren. Und es ist mittlerweile hinreichend belegt, dass wir an Komplexitäten regelmäßig scheitern. Kausalität, den Zusammenhang von Ursache und Wirkung, kalkulieren wir in Kettenform, nach dem Schema „Wenn A, dann B, dann C“ oder „Auf A folgt B, auf B folgt C“, ohne die Möglichkeit von Wechsel- und Rückwirkungen in Betracht zu ziehen. Monokausales Denken hat sich bei den paläolithischen Jägern und Sammlern durchaus bewährt, und es reicht heute für die Erledigung vieler einfacher Alltagsaufgaben. Bei der Planung der „Energiewende“ oder gewaltigen Finanztransaktionen versagt es kläglich.

Wir stehen also vor einem Dilemma: Die bewährten vorrationalen Wahrnehmungs- und Erkenntnismechanismen reichen für unsere komplexe Welt nicht mehr aus, die rationalen Leistungen sind noch nicht hinreichend erprobt. Unsere Rationalität wird fortwährend von steinzeitlichen Gefühlsausbrüchen übertönt, die zwar ihren evolutionären Nutzen haben, uns aber bei der Lösung komplexer Probleme nicht weiterhelfen. Was Wunder, dass wir den Folgen unseres Handelns oft ratlos gegenüberstehen.

Der amerikanische Philosoph William W. Bartley brachte das Dilemma wie folgt auf den Punkt: „Der Mensch ist von Natur aus ein verwirrtes Lebewesen. Seine Rationalität, seine Politik, seine Wissenschaft, seine Überzeugungen, seine Engagements sind verwirrte Versuche, seiner Verwirrung Herr zu werden. Es ist daher wenig überraschend, dass die Geschichte seines Denkens voller ironischer Ergebnisse ist – Kinder aus der Ehe zwischen einer Zukunft, die er nicht voraussagen, und einer Gegenwart, die er nicht ausloten kann.“

Das „alte Rom“ bleibt stets fortbestehen

Bei so viel Verwirrtheit ist es in hohem Maß erstaunlich, dass es die Menschheit überhaupt noch gibt. Aber offenbar konnte sie sich über weite Strecken auf die „Vernunft des Lebens“ verlassen, und ab und an entfaltete der eine oder andere Artgenosse so viel Kreativität, dass ein Weiterleben seiner Spezies sogar unter verbesserten Lebensbedingungen möglich wurde. Zweifelsohne zeichnet sich unsere Art insgesamt durch einen beträchtlichen Erfindungsgeist aus. Kein Trick, keine List scheint ihr unbekannt zu sein. Aber ihre Vergangenheit abzustreifen gelingt ihr natürlich nicht.

In Anlehnung an ein Bild von Sigmund Freud kann man sich unser Gehirn mit allen seinen psychischen und mentalen Kapazitäten als ein imaginäres Rom vorstellen: Da ist diese Stadt, wie wir sie heute kennen, mit ihrem Verkehrsgewühl, den vielen Bars, Cafés und Restaurants, aber die alten Römer sind auch noch da, fahren mit ihren Streitwagen umher, veranstalten Gladiatorenkämpfe, halten Sklaven und verehren in ihren Tempeln eine vielfältige Götterwelt. Jeder von uns ist in seinem individuellen Leben mit einem ähnlichen „Integrationsproblem“ konfrontiert, der Integration seiner Gefühlswelt in die Rationalität.

Die Allianz von Gefühl und Verstand

Wenn Gefühle überhandnehmen, können sich persönliche Katastrophen zusammenbrauen. So ist eine auf bloß romantischen Vorstellungen beruhende partnerschaftliche Beziehung in der Regel zum Scheitern verurteilt, weil sie den Erfordernissen des Lebens auf Dauer nicht standhalten kann. Und wer sich der Illusion hingibt, dass er allen Menschen bedingungslos vertrauen könne und ihm ohne Ausnahme jeder Mensch mit ausgesuchter Freundlichkeit begegne, der wird früher oder später eines Schlechteren belehrt werden.

Doch wir können Emotionen nicht von unserem kognitiven Apparat trennen. Die linke und rechte Gehirnhälfte existieren nicht unabhängig voneinander. Wie der verstorbene Neurophysiologe Detlef Linke bemerkte, halten zwei gegenläufige Bewegungen die Aktivität der beiden Hirnhälften zusammen. Wenn man also die Rationalität fördern möchte, dann, so Linke, „sollte man auch etwas in den Bereich der Emotionen hineintun, jedenfalls wenn man will, dass die Rationalität sich in Kreativität entfaltet“. Und wer sollte das nicht wollen!

Ein durch und durch rationales Leben wäre höchst langweilig, ja geradezu unerträglich. Es böte keinen Platz für Leidenschaften, für leibliche und ästhetische Genüsse, für Tagträume und Sehnsüchte, für ausgelassene Geselligkeit und frohe Feste. Ein nach streng rationalen Kriterien gestaltetes Leben würde keinen Müßiggang erlauben, kein Abweichen von (rational begründeten) Plänen und keine spontane Entscheidung; es würde letztlich jede Kreativität im Keim ersticken.

Doch wir Menschen sind nun einmal – glücklicherweise – keine Roboter, sondern mit einer Vielfalt von Verhaltensdispositionen ausgestattet, die durchaus auch im Widerspruch zueinander stehen. Unsere vertrackte Psyche ist für vieles offen. Wir können Freude, Trauer, Schmerz und Scham empfinden, Hoffnungen und Wünsche hegen, die allesamt ihren evolutionären Nutzen haben. Manche „unvernünftige“ Handlung erweist sich als lebensdienlich. Eine heftige Angstreaktion bei drohender Gefahr kann dem Gefährdeten selbst und anderen, die erst aufgrund seiner Reaktion ihre Bedrohung erkennen, das Leben retten. Auch eine heftige Wutreaktion kann lebensrettend wirken.

Nüchternes Überlegen und rationale Kalkulation sind in vielen unserer Lebenssituationen nicht angemessen. Entscheidungen, die „aus dem Bauch heraus“ getroffen werden, können sich durchaus als richtig und zielführend erweisen. Die unter Ökonomen nach wie vor häufig anzutreffende Meinung, der Mensch als homo oeconomicus könne auf der Grundlage rationaler Entscheidungen handeln und wirtschaften (rational choice theory), erweist sich als falsch – ja geradezu als unvernünftig –, weil sie die verwickelten Antriebe und Motive menschlichen Verhaltens in allen Bereichen seiner Lebenswelt und natürlich auch in der Wirtschaft unberücksichtigt lässt.

Das ist gefährlich: zu viel Gefühl

Wie praktisch alle unsere psychischen Eigenschaften können sich Affekte wie Angst und Wut allerdings auch ins Pathologische steigern. Und sie können ansteckend wirken. Geschichte und Gegenwart liefern uns genügend – erschreckende – Beispiele für kollektive Unvernunft, die an sich positive Lebensantriebe in ihr Gegenteil verkehrt.

Begeisterungsfähigkeit schafft angenehme Lebensgefühle und ist eine unerlässliche Triebfeder für großartige Leistungen. Diese Fähigkeit kann sich jedoch ebenso in destruktiven Handlungen entladen. Unter gegebenen ideologischen Rahmenbedingungen kann sie in Fanatismus umschlagen und ist, wenn sie Menschenmassen erfasst, eine Wurzel von Krieg, Terror, Glaubenskampf und Rassismus. Ein Krieg mag rational geplant und durchdacht sein, was aber nichts daran ändert, dass seine Motive aus archaischen Gelüsten herrühren, die mit Rationalität nichts zu tun haben. Einmal abgesehen davon, dass jeder Krieg unsägliches Leid über viele Menschen bringt, das rational nicht zu bewältigen ist.

Wie viel Unvernunft also braucht der Mensch, wie viel Unvernunft verträgt er? Selbstverständlich ist diese Frage nicht quantitativ, etwa in Prozenten zu beantworten. Klar ist aber, dass der Mensch nie ein animal rationale sozusagen in Reinkultur war. Sein Gehirn war nicht auf rationale Erkenntnis, sondern auf Überleben programmiert.

Affekte und Emotionen sind daher nicht grundsätzlich mit Unvernunft gleichzusetzen, sie sind durchaus lebensdienlich. Manchmal indessen manifestieren sie sich in Eseleien. Doch während die Eselei eines Einzelnen von seiner Umgebung bemerkt und unter Umständen sozial sanktioniert wird, bleiben die Torheiten der Weltpolitik oft lang verschleiert. Auch die gehen natürlich von einzelnen Individuen aus, dürfen aber den Filter der Vernunft häufig anstandslos passieren, vor allem dann, wenn große Massen von Menschen verlässliche Führer gefunden zu haben glauben. Wie Bert Brecht sagte: „Unsichtbar wird die Dummheit, wenn sie genügend große Ausmaße angenommen hat.“

Professor Franz M. Wuketits lehrt Wissenschaftstheorie mit dem Schwerpunkt Biowissenschaften an der Universität Wien und ist Vorstandsmitglied des Konrad-Lorenz-Instituts für Evolutions- und Kognitionsforschung. 2013 erschien bei Suhrkamp sein Buch Animal irrationale – Eine kurze (Natur-)Geschichte der Unvernunft.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2013: Was haben wir falsch gemacht?