Im Wachstumsbeschleuniger

Während in Vorlesungssälen Wissen vermittelt wird, regen Gruppenkurse zur Persönlichkeitsentwicklung an. Über die Psychologie des Seminarraums

Ein Sitzkreis mit Sitzkissen in einem hellen Seminarraum mit Tageslicht
Besinnliche Musik und leichter Rosenduft umrahmen die Stimmung im Seminarraum. So wird die Persönlichkeitserweiterung noch effizienter. © MaRah Seminarhaus GmbH

Mit dem lateinischen Begriff seminarium bezeichnete man im 16. Jahrhundert eine Baumschule oder Pflanzstätte; das Verb seminare lässt sich mit säen übersetzen. Idealerweise streut in einem Seminar eine Referentin geistige Inhalte, Anregungen, Debatten in den Kreis der Teilnehmenden. Deren Interesse und rege Wachsamkeit bilden den fruchtbaren Nährboden, in dem die Worte der Referentin keimen, knospen und erblühen. So wird aus einem nüchternen Konferenzort ein organisches Lern- und Erfahrungsfeld.

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und erblühen. So wird aus einem nüchternen Konferenzort ein organisches Lern- und Erfahrungsfeld.

Der hier beschriebene Seminarraum dient nicht einem konventionellen Lernen wie in Schulen oder Universitäten, sondern Seminaren zur Persönlichkeitsentwick­lung und Selbsterfahrung. Er dient also einer anderen Art des Lernens, die ganz spezielle Emotionen verlangt.

Hier werden Seminarräume zu Entwicklungsräumen. Es soll sich etwas entfalten, das die Persönlichkeit bereichert, weil sich etwas Neues entwickelt hat. Dies gelingt aber nur, wenn Seminare durch einen Prozess führen, dem sich die Teilnehmenden anvertrauen können. Welche Bedürfnisse stehen im Vordergrund und welche Räume benötigt es dazu?

Ein gemütliches Kennenlernen

In der Ankommensphase ist es wich­tig, sich im Raum verorten zu können und sich willkommen zu fühlen. Mitunter treten Seminarteilnehmerinnen mit einer gewissen Anspannung in den Raum, in die neue Situation. Strahlt die Stätte Geborgenheit aus, kann die Spannung sich auflösen. Dazu bedarf es räumlicher Grenzen durch farbige Wände, Bilder, Pflanzen oder Wärme ausstrahlende Materialien. Geht man in einen ganz weißen Raum, fühlen wir uns verloren, und das kann den Seminarerfolg infrage stellen. Um uns sicher und geborgen zu fühlen, brauchen wir außerdem Stabilität. Dies verlangt nach einem Boden, der Halt gibt. Er sollte dunkel sein, aber nicht zu hart wirken – ein solider Holzboden bietet diese Stabilität und verströmt Wärme.

Sind wir angekommen und fühlen uns sicher, können wir uns nach außen wenden. In der Phase des Kennenlernens erkunden wir die Örtlichkeit, vielleicht sprechen wir mit anderen Teilnehmenden. Der Raum verfügt idealerweise über etwas, das es visuell zu entdecken gilt, sowie über Zonen, die ein Gespräch beinahe einfordern. Raumecken, die über Ablagemöglichkeiten in Stehhöhe verfügen, signalisieren: ein gemütlicher Plausch ist erwünscht.

Kühles Licht für Kooperation

Mit dem Beginn des Seminars wenden die Anwesenden sich nach innen, sie zentrieren sich auf die Gruppe, auf sich selbst und auf das Ziel der Veranstaltung. Mit einem Objekt in der Mitte des Raums, beispielsweise einem Blumenstrauß oder einem symbolischen Gegenstand, gelingt das Ausrichten wie von selbst. Die Teilnehmenden haben sich eingefunden, sind orientiert und fokussiert. Ideale Voraussetzungen, um mit der inhaltlichen Arbeit zu beginnen. Im besten Fall fühlen sie sich sicher, klar und motiviert für die wechselnden Anforderungen wie konzentriertes Zuhören, aktive Mitarbeit, Kommunizieren und empathisches Einfühlen in die anderen. Der Raum an sich mit seinen Oberflächen kann nicht so schnell verändert werden, um all dem gerecht zu werden.

Wohl aber können durch den gezielten Einsatz von Licht, Musik und Düften die Stimmungen im Raum verstärkt werden. Erfahrene Seminarleiter wenden dies gezielt an. Aus der Forschung wissen wir etwa, dass Licht Qualitäten hat, die entweder konzentriertes Arbeiten oder aber Kooperation unterstützen. Konzentration wird gefördert durch helles und kühles Licht, Kooperation und Kreativität hingegen durch gedämpftes und warmes Licht.

In der Natur finden wir Ersteres am Tag, wenn die Sonne hoch steht, zweites finden wir abends, wenn die Sonne langsam verschwindet, dann ist die Zeit des Austausches und des sozialen Miteinanders gekommen. Im Seminar können die Gruppenübungen nicht bis zum Abend warten, daher wird die Leitung versuchen, die Qualität des Abendlichts nachzuahmen durch warmes und gedämpftes Licht. Auch Düfte können sehr gezielt innere Zustände verstärken, wie etwa Konzentration durch Bergamotte und Zitrone oder Einfühlungsvermögen durch Rose oder Lavendel.

Getragen von neuen Impulsen

Nach jeder Arbeitsphase werden Wege gesucht, die neuen Erkenntnisse in die Zeit nach dem Seminar mitzunehmen, damit die Veränderungen in das Leben einfließen können. Zu dieser Phase der Integration kann der Ort auch entscheidend beitragen. Ein Seminarraum sollte daher Zuversicht und Weite ausstrahlen. So entsteht die Motivation der Teilnehmenden, neue Impulse in ihr Leben zu tragen.

Weite können wir erreichen durch einen Ausblick in eine Landschaft oder durch ein großes Bild, das diesen Ausblick darstellt. Die Qualität von Räumen ergibt sich immer aus den Bedürfnissen der Menschen, die sich in ihnen befinden. Es gibt keine guten Räume an sich. Für Seminare zur Persönlichkeitsentwicklung brauchen wir einen Raum, der uns gleichzeitig Schutz bietet und innere Weite in uns entstehen lässt.

Herbert Reichl hat seine beiden Berufe – Psychologe und Baumeister – verbunden zu seiner Tätigkeit als Wohn- und Architekturpsychologe. Er ist Mitbegründer des Instituts für Wohn- und Architekturpsychologie und dort Vorstand und Dozent.

Quellen

Olga Kombeiz et. al.: View it in a different light: Mediated and moderated effects of dim warm light on collaborative conflict resolution. Journal of Environmental Psychology, Volume 51, August 2017, Pages 270–283

Anna Steidle, Lioba Werth: In the spotlight: Brightness increases self-awareness and reflective self-regulation. Journal of Environmental Psychology, Volume 39, September 2014, Pages 40-50

Anna Steidle, Lioba Werth: Freedom from constraints: Darkness and dim illumination promote creativity.Journal of Environmental Psychology, Volume 35, September 2013, Pages 67-80

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 6/2024: Im Erzählen finde ich mich selbst