Wer Zoë kennt, könnte zum Kindernarren werden. Drei Jahre alt, blaue Knopfaugen und eine Schleife in den blonden Locken, dazu ein sprudelndes Plappermäulchen. Immer ist sie neugierig darauf, was sich bei den Erwachsenen abspielt. An der Kaffeetafel krabbelt sie von der Mama auf den Schoß der Omi und weiter zur Uromi. Jede spricht mit der Kleinen, streichelt das Köpfchen, steckt ihr eine Leckerei zu. Die andere Großmutter streckt schon die Arme aus, und auf dem Rückweg lassen sich Onkel und Tanten, Großonkel…
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und Tanten, Großonkel und Großtanten auch nicht lange bitten. Zoë wird verwöhnt. Das Kind beherrscht den Clan. Ist es vielleicht Rücksicht auf den kleinen Sonnenschein, dass seine Eltern, Marc und Ines, beide Anfang dreißig und berufstätig, partout kein zweites Kind wollen?
Und wie wird die Welt aussehen, wenn aus der kleinen Zoë eine erwachsene Frau geworden ist, 2030, 2040? Einen reellen Beruf soll sie erlernen, so stellen ihre Eltern sich das vor. Sie soll unabhängig sein und auf eigenen Füßen stehen können, zugleich einen Partner finden, heiraten und eine Familie gründen. Wie Marc und Ines es vorgemacht haben. Ob und wie viele Kinder das Mädchen bekommen und wie ihre Umgebung damit umgehen wird – wer könnte das heute sagen? Vielleicht wird diese Umgebung aus lauter Greisen bestehen. Marc erreicht 2043 das Rentenalter, Ines zwei Jahre später. Wird da ein einzelnes Kind ihre Ansprüche befriedigen können? Muss es ja nicht. Es sind ja genug andere da.
Wirklich? Bevölkerungsstatistik beginnt mit einer sehr einfachen Formel: Wenn jeweils eine Mutter und ein Vater zwei Kinder zur Welt bringen, dann bleibt die Anzahl der Menschen auch in der nächsten Generation stabil. Aber nicht jedes Paar kann oder mag Kinder bekommen. Nicht jeder Mann oder jede Frau findet den passenden Partner, um eine Familie zu gründen. Kurz: Nicht jeder neugeborene Mensch garantiert weiteren Nachwuchs. Deshalb muss die Zahl der Kinder pro Elternpaar im Durchschnitt ein bisschen höher sein. 2,2 vielleicht, 2,3, so rechnen die Statistiker, dann bliebe die Zahl der Menschen in Deutschland gleich.
Die Realität ist weit davon entfernt: 1,36 betrug die Geburtenziffer pro Frau nach Berechnungen des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden für das Jahr 2011. Gut 50 Jahre zuvor, 1960, waren es im Schnitt noch 2,3 Kinder. Was ist da geschehen?
Wir werden andere Menschen sein – und in einer anderen Welt leben
Die Bevölkerungsstatistiker sprechen vom „zweiten demografischen Übergang“. Den ersten Übergang verorten sie in den Jahren zwischen 1870 und 1930. Der Vergleich mit Kaiserzeit und Weimarer Republik macht deutlich, dass es nicht um eine handelsübliche Durchschnittskrise geht, sondern um eine veritable Zeitenwende. Damals wucherten Städte, Wirtschaftsmächte stiegen auf, Begriffe wie Leistung und Wachstum, Konkurrenzkampf, Aufstieg und Erfolg etablierten sich als Maximen des Handelns.
Auch heute verzeichnen Forscher wieder tektonische Verschiebungen: radikale Änderungen in den äußeren Bedingungen und ebenso radikale Änderungen im Bewusstsein. Auch der gegenwärtige, der zweite Übergang mit seinen extrem gestiegenen Forderungen an Flexibilität und Mobilität, an Bildung, Fitness und Jugendlichkeit wird die Lebensumstände, die Funktion der Familie und die Erwartungen an die eigene Biografie neu definieren. Wir werden andere Menschen sein. Und wir werden in einer veränderten Welt leben.
Das volle Ausmaß und die Konsequenzen sind noch gar nicht abzusehen. Doch unlängst hat die Leibniz-Gemeinschaft eine Wanderschau auf die Reise geschickt, in der die vielen Befunde der Wissenschaft zu den Umwälzungen der Demografie sortiert sind. Bis März 2014 werden die Prognosen und Berechnungen zu Kinderwunsch und Altersbild, zu Weisheit, Wohnen und Migration, zum Zusammenleben der Generationen und zu den Gefahren und Chancen, die der Wandel mit sich bringt, in sechs verschiedenen Städten erörtert. Und ja: Auch Chancen ergeben sich aus der veränderten Situation. Für den, der sie erkennt.
Industrialisierung und Medizin als Wendepunkt
In den Jahren von 1870 bis 1930 waren es vor allem zwei Veränderungen, die eine Neuorientierung in Menschenbild und Lebensperspektive bewirkten: erstens die explosionsartige Entwicklung der Industrie und die Modernisierung in Handel und Verwaltung. In ihrer Folge zogen Hunderttausende Menschen vom Land in die Städte, die Kernfamilie löste sich aus ihrem gewachsenen Umfeld, wurde mobiler, konzentrierter, strukturierter.
Zweitens kamen die deutlich verbesserten Bedingungen in der ärztlichen Versorgung hinzu, in Hygiene, Wissen, Technik und in der sozialen Fürsorge. Die statistische Lebenserwartung stieg rapide. Für junge Mütter hatte der Tod im Kindbett viel von seiner Bedrohung verloren – und innerhalb weniger Jahrzehnte brachten Frauen im Durchschnitt nicht mehr knapp fünf Kinder zur Welt, sondern nur noch zwei.
Paradox? Keineswegs! Mit dem Übergang in eine neue Zeit gewannen Kinder eine andere Bedeutung für die Familie. Da sie gute Chancen hatten, das Erwachsenenalter zu erreichen, lohnte es sich nun auch, in ihre Ausbildung zu investieren. Als Arbeitskräfte waren Kinder nicht mehr gefordert. Bildung versprach Aufstieg und Status. Es war nun auch weniger riskant, eine emotionale Bindung zu eigenen Kindern einzugehen. Denn schon in der Krabbelstube stand ja einigermaßen sicher fest, dass der kleine Schreihals überleben, ans Erreichte anknüpfen und die Linie der Familie in der nächsten Generation fortführen sollte. Der Kronprinz erfuhr schon als Kleinkind seine Huldigung; dynastische Stabilität wurde zum Gegenstand des Wettbewerbs. Hausfrauenehe und Kleinfamilie waren die prägenden Modelle der Epoche.
Aus der Ära des Königskindes mit Eltern zur Ära der Königseltern mit Kind
Die fundamentale Neuerung der staatlichen Reformen gegen Ende des 19. Jahrhunderts war, dass Kinder nicht mehr unmittelbar der elterlichen Altersversorgung dienen mussten. Dafür gab es bald Kranken- und Unfall-, seit 1889 auch die gesetzliche Rentenversicherung. Das Renteneintrittsalter übrigens lag zunächst bei 70 Jahren. Das stellte ein Versprechen mit überschaubaren Risiken für die Solidargemeinschaft dar: Wer in den 1880er Jahren 65 war, hatte im Schnitt weniger als zehn weitere Lebensjahre vor sich. 2010 waren es fast 20 Jahre. Bei einer längst erkennbar, ja dramatisch verschobenen Altersstruktur.
So also wuchsen Zoës Urgroßeltern auf. Diese Generationen durchlebten Kriege und Wirtschaftskrisen, verloren ihr Erspartes, verloren Söhne, verloren ihre Heimat und bauten sich alles wieder auf. Ihre Werte und Ziele aber standen kaum zur Diskussion. Es war – erstaunlich eigentlich – eine Zeit der Gewissheiten, jedenfalls im Hinblick auf Lebensplanung und angestrebte Sicherheiten. Die Blaupause für eine erfolgreiche Biografie stand fest, war gesetzlich geregelt und wurde weitergegeben wie eine unumstößliche Wahrheit; auch die Eltern schwenkten darauf ein: Geh zur Schule, lern einen Beruf und heirate. Setze Kinder in die Welt, arbeite dich nach oben und genieße im Rentenalter Freiheit und Ruhegeld. Und selten vergaß einer, das Beiwort wohlverdient davorzusetzen. Es passt so schön zum Konzept eines sauber in zwei Teile zersägten Lebens: erst Mühsal, dann Mallorca.
Paare wie Marc und Ines halten sich daran. Noch. Folgen einem Modell, das für Generationen alternativlos war – und scheinen dennoch zu zögern. Gehört es wirklich dazu, die Entfaltung eigener Möglichkeiten zu begrenzen, auf die Erfüllung eigener Wünsche zu verzichten, nur um Kindern eine Ausbildung zu finanzieren? Überhaupt: Wozu Kinder kriegen? Es ist doch für alles gesorgt.
Nun lässt ein Einzelkind sich stemmen. Es schmückt sogar. Verheiratete Väter mit Kindern haben bessere Karten auf dem Arbeitsmarkt als freilaufende Hallodris. Vom „Übergang aus der Ära des Königskindes mit Eltern zur Ära der Königseltern mit Kind“ sprach der niederländische Demografieforscher Dirk van de Kaa schon vor knapp 30 Jahren mit spöttischem Unterton.
Gemeint war der zweite demografische Übergang: neue Funktionen, neue Erwartungen, ein neues Bild von Familie. Was jedoch über das Einzelkind hinausgeht, könnte sich schnell zur Lebensaufgabe auftürmen. Vielleicht also ist es nur ein sehr nüchterner, wenn auch für die Gemeinschaft gefährlich kurzsichtiger Egoismus, wenn Zoës Eltern auf ein Brüderchen oder Schwesterchen verzichten. Und die Zahlen belegen: Ihre Zweifel, Unsicherheiten und Ansprüche sind die einer ganzen Generation.
Es ist nicht leicht, Kinder und Beruf unter einen Hut zu bringen
„Der Staat ist bei der Konstruktion von Lebensläufen ein Monopolist“, sagt der Berliner Soziologe und Familienforscher Hans Bertram. „Nur er entscheidet, wie lange Sie in der Schule bleiben, wie lange Sie studieren, wie lange Sie arbeiten müssen. Das alles liegt in der Definitionsgewalt des Staates. Und die Definitionen sind zu Bismarcks Zeiten entstanden.“
Ein Kernsatz, vielleicht der entscheidende, um nun von den Entwicklungen der zweiten demografischen Wende nicht einfach fortgerissen zu werden. Wenn der Staat die Vorgaben festlegen kann, dann kann er sie auch neu definieren. Er wird es wohl tun müssen, drastischer und entschlossener, als es heute zur Debatte steht.
Denn was geschehen war seit 1960: Woodstock und die Pille. Die Revolte einer nachwachsenden Generation gegen die erstarrten Strukturen ihrer Vorgänger, die Entdeckung individueller Autonomie und ihrer Genüsse. Wer nach dem Krieg geboren war, erlebte ein bislang ungekanntes Maß an Emanzipation und an Freiheit, eine eigene Biografie zu gestalten. Viele genossen Bildung bis ins mittlere Erwachsenenalter – zunächst noch in geburtenstarken Jahrgängen, denn auch das Lebensgefühl der Eltern war geprägt von Optimismus. Hatte das Wirtschaftswunder nicht allen gezeigt, dass es aufwärtsgeht und man sich Ziele setzen muss?
Die wichtigste Zutat zur allgemeinen Aufbruchsstimmung der Epoche aber kam mit der Erfindung der Antibabypille. „Theoretisch wäre es einer der größten Triumphe der Menschheit“, hatte Sigmund Freud 1898 noch geträumt, „wenn es gelänge, den verantwortlichen Akt der Kinderzeugung zu einer willkürlichen und beabsichtigten Handlung zu erheben und ihn von der Verquickung mit der notwendigen Befriedigung eines natürlichen Bedürfnisses loszulösen.“
Das Ziel wurde erreicht. Die Menschheit konnte triumphieren. Jetzt muss sie sehen, wie sie mit den Folgen fertig wird.
Gestiegene Unsicherheit
Die Zahlen liegen auf dem Tisch. Mit seiner Reproduktionsquote rangiert Deutschland in Europa im unteren Mittelfeld. Griechenland, Italien und Spanien liegen noch darunter, in Lettland sind es gar nur 1,17 Kinder, in Island, dem Spitzenreiter, stolze 2,20. Skandinavien und Frankreich stehen ganz gut da, weil dort eine effizientere und weiter vorausschauende Familienpolitik betrieben wird. Gern fahren Delegationen deutscher Politiker und Sozialplaner dorthin, um sich über Kinderbetreuung während der Arbeitszeiten der Mütter zu informieren, ganztags, verlässlich und schon lange vor dem Einschulungsalter.
Es ist nicht leicht, Beruf und Kinder unter einen Hut zu bringen. Schon gar nicht in Deutschland. Und „gestiegene Mobilitätserfordernisse“, so nennen es die Demografieforscher aus Wiesbaden, erschweren das Problem: Wer plant schon eine Familie und setzt Kinder in die Welt, wenn er nicht weiß, wo im nächsten Jahr seine Arbeitskraft gefragt sein wird?
Überzeugende Erfolge der Besuche in Frankreich oder Schweden stehen noch aus. Es gilt, einen schwerfälligen Apparat aus Zusagen, Ansprüchen, Strukturen und Erwartungen in Bewegung zu setzen. Es gilt, Mittel neu zu verteilen. Und wer wird Sicherheiten infrage stellen? Irgendwo ist immer Wahlkampf, irgendwo endet immer eine Legislaturperiode. Bis 2060, so besagt die Prognose des Statistischen Bundesamts, könnte die Bevölkerung in Deutschland von 82 auf 65 Millionen Menschen geschrumpft sein.
Zwar werden Metropolen wie Hamburg, München oder Berlin weiter wachsen. Dafür droht die demografische Entwicklung, ganze Landstriche zu entvölkern, in Vorpommern, der Eifel oder im Bayerischen Wald. In absoluten Zahlen: 662 712 Kinder wurden 2011 in Deutschland geboren. 1960 waren es noch fast 1,3 Millionen. Schneller kann man ein Land mit friedlichen Mitteln kaum schrumpfen. 8,3 Geburten pro 1000 Einwohner stehen 10,7 in England gegenüber, 12,2 in Frankreich und 14,1 in den USA. 30 in Bangladesch, 40 in Kenia und 50 in Niger.
Was Wissenschaft und Politik beunruhigt, sind nicht – jedenfalls nicht allein – die blanken Zahlen. Bangladesch hat andere Probleme als die Bundesrepublik. Was den Beobachtern der Entwicklung in Deutschland und Europa Sorgen bereitet, ist die unabwendbare Verschiebung von Proportionen bei fortbestehender Starrheit von Strukturen. „Jede Kindergeneration ist um ein Drittel kleiner als die Elterngeneration“, konstatieren die Bevölkerungsforscher.
„Da diese Situation jetzt schon über 30 Jahre besteht, wachsen die jüngeren Generationen in einem sozialen Kontext auf, der von Kinderlosigkeit und kleinen Familien geprägt ist.“ Zoë am Kaffeetisch im Kreis der Eltern, Großeltern und Urgroßeltern wäre ein Bild dafür, allerdings mit einigen Abstrichen. Andere Familien sind längst nicht so groß, und wenn doch, dann sind sie in alle Winde zerstreut: Die Uroma in der Seniorenresidenz, die Großeltern im Süden, der Papa pendelt. Auch dies sind Effekte demografischer Umwälzungen.
Mehr Bildung für ein besseres Leben
Der Wandel ist also längst da. Er zeigt sich im Familienalltag, im Nahverkehr, im Wohnungsbau, in der Zuwanderungspolitik. Schon werden in ländlichen Gegenden Schulen und Kindergärten geschlossen, weil ihnen die Kinder ausgehen. Die noch übrig bleiben, müssen längere Wege in Kauf nehmen; mit wem sie am Nachmittag spielen oder Hausaufgaben machen, steht auf einem ganz anderen Blatt.
Der Bremer Mathematiker und Soziologe Johannes Huinink sieht die Gesellschaft am Einstieg in einen Teufelskreis der Familienfeindlichkeit: „Es ist ja eine reizvolle Geschichte, Geld zu sparen, wenn die Kinderzahlen zurückgehen, und dann beispielsweise Schulen zu schließen. Das wiederum führt dazu, dass sich die Bedingungen verschlechtern, Kinder überhaupt in die Welt zu setzen.“
Huininks Polemik folgt aus den Resultaten einer Studie, zu der Soziologen, Mathematiker, Psychologen, Historiker und Mediziner ihre Befunde aus drei Jahren konzertierter Forschungsarbeit zusammengetragen haben: „Zukunft mit Kindern“. Vorgestellt wurde sie im Herbst 2012 von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Nationalen Akademie Leopoldina, unterstützt von der Jacobs University in Bremen.
Wahrscheinlich steckt hinter dem massiven Auftritt ein bisschen mehr als nur der redliche Versuch, die Möglichkeiten einer interdisziplinär vernetzten Wissenschaft zu demonstrieren: Verantwortungsbewusstsein zum Beispiel gegenüber einer Herausforderung, die sich mit den Mitteln der Politik allein nicht bewältigen lassen wird. Vielleicht auch der Wunsch und Anspruch, gehört zu werden und mitzureden, wenn es um eine Gestaltung von Zukunft geht, die nicht nur (im besten Fall) Katastrophen verhindert, sondern darüber hinaus Werte wie Gemeinschaft, Gesundheit, Wohlstand, Verantwortung und sozialen Frieden verfolgt. Politiker verewigen sich eben immer noch zu gern mit dem Bau einer Autobahn.
Es geht darum, in der Forschung über das bloß Machbare hinauszuweisen, Strukturen aufzubrechen und auch für eine Gesellschaft so etwas wie Lebensziele zu formulieren. Lange hatte sich die Wissenschaft da herausgehalten.
Wachsender Anspruch an die berufliche Karriere
Bildung war und ist ein solches Ziel. Wenn Günter Stock, Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie und Schirmherr der Studie, die Probleme aufzeigt, die sich daraus für die demografischen Strukturen ergeben, dann steckt darin auch die Frage nach den Prioritäten von Gestaltung: Junge Menschen genießen heute im Schnitt eine gründlichere Ausbildung, als es in vorausgegangenen Generationen üblich war. Fast 50 Prozent eines Jahrgangs machen Abitur; daraus leiten sich Ansprüche an die eigene Biografie ab.
„Sie erwarten ein gutes Leben“, führt Stock aus – zu Recht: Dafür sind sie länger in die Schule gegangen, davon haben sie sich anspornen lassen, „mit beruflicher Karriere und angemessener Teilhabe am sozialen Leben. Sie sind auch weniger bereit, Kompromisse einzugehen. Unter dem Strich hat das dazu geführt, dass Frauen heute erst in einem Alter um die 29 Jahre ihr erstes Kind gebären.“
Hier zeigt sich, welcher Gewinn der Forschung aus der Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen erwachsen kann. Womöglich markiert die Studie da selbst den Einstieg in eine neue Epoche wissenschaftlicher Arbeit. Bevor nämlich jemand einwerfen kann: na und? Was ist schon dabei, noch ein paar Jahre mit dem Kinderkriegen zu warten; wir haben doch alle ein langes und immer längeres Leben vor uns. Bevor also eine naive Deutung der statistischen Werte das Problem nur zementiert, meldet sich die medizinische Fraktion zu Wort. Der Fortschritt habe da seine Grenzen, mahnt der Bonner Gynäkologe Wolfgang Holzgreve. „Es gibt einen wachsenden Prozentsatz von Kindern, die nicht mehr geboren werden können, obwohl erwünscht, einfach weil es zu spät geworden ist.“
Flexibles Rentenalter, geschenkte Jahre zur Familiengründung
Die Situation scheint paradox: Wir leben länger und gesünder, doch das Zeitfenster zur Gründung einer Familie wird kleiner. Hinten begrenzt durch eine Natur, die sich auch mit raffinierter Reproduktionsmedizin nicht austricksen lässt, vorne verkürzt zunächst durch längere Ausbildung, berufliche Ansprüche und zunehmend unsichere Arbeitsbedingungen, besonders für Berufseinsteiger: Praktika, Projekt- und Zeitverträge. Hinhaltetaktik. Ausbeutung. So gehen Jahre verloren, biografisch gesehen. Denn immer noch ist der Kinderwunsch verbreitet unter Auszubildenden, Studierenden oder jungen Akademikerinnen. Irgendwann einmal, sagen rund 80 Prozent von ihnen. Irgendwann bestimmt …
Wie viele Kinder wird Zoë tatsächlich bekommen? Das hängt davon ab, welchen Platz ihr die Gemeinschaft dafür einräumen wird: in Form von Betreuung, sozialer Akzeptanz, verfügbarer Zeit und der realistischen Chance, eine durch Bildung angelegte Karriere auch zu entfalten. Psychologen, Mediziner und Soziologen haben gute Voraussetzungen erkannt und definiert. Das könnte Politik und Wirtschaft Wege weisen.
Etwa diesen: Nach allen Erkenntnissen der Forschung sind viele 70-, 75- oder sogar 80-Jährige heute geistig und körperlich so fit, wie es früher wesentlich Jüngere waren. Und eine Altersgrenze, die zu Kaiser Wilhelms Zeiten festgelegt wurde und für einen Dachdecker oder Stahlarbeiter immer noch eine herbeigesehnte Erlösung sein mag, erwischt einen Ingenieur, Verwaltungsangestellten, Journalisten oder Betriebswirt auf der Höhe seiner Erfahrung, seines Wissens und seiner Schaffenskraft. Wie unklug und wie ungerecht, eine solche Produktivreserve der Volkswirtschaft 20 Jahre lang auf Vergnügungsdampfer in der Karibik zu verbannen!
Ein flexibles Rentenalter also. Denn wer sagt eigentlich, dass die geschenkten Jahre ausgerechnet die am Ende des Lebens sind? Viele könnten länger arbeiten. Viele täten es auch gern – wenn die Arbeit sinnvoll strukturiert ist und Wertschätzung erfährt, wenn Arbeitgeber frühzeitig vorbeugen, dass nicht Verschleiß Arbeitskraft und Motivation ruiniert, und wenn flexible Zeiten eine gesunde Balance ermöglichen. Es wäre eine neue Blaupause für neu definierte Biografien. Und sie erlaubte, die gedrängte Gleichzeitigkeit von Lebensaufgaben im jungen Erwachsenenalter zu entzerren: nicht mehr Kinder oder Karriere, sondern beides. Ganz einfach. Die geschenkten Jahre könnten also etwa die zwischen 25 und 35 sein: Jahre für Kinder und Familie.
Zahl der Senioren wächst, während andere Gruppen schrumpfen
Die Entwicklung aber schreitet fort. 2060 wird jeder siebte Mensch in Deutschland über 80 sein, jeder Dritte im Rentenalter. Die Zahl der Erwerbstätigen könnte sich bis dahin um ein Viertel bis ein Drittel reduziert haben. Der erste spürbare Ruck indes wird nicht so lange auf sich warten lassen. Er wird die Systeme erschüttern, wenn die geburtenstarken Jahrgänge der späten 1950er und frühen 1960er Jahre, die sogenannten Babyboomer ab 2020 das Rentenalter erreichen. Und haben sie nicht ihr Leben lang brav in die Kassen eingezahlt? Und haben sie nicht genau deshalb ein Anrecht darauf, von den nachrückenden Generationen alimentiert zu werden – auch wenn sie in mehr als nur ein paar Einzelfällen gar nicht dazu beigetragen haben, diese Generationen nachwachsen zu lassen?
2030 wird die Zahl der Senioren die der Menschen im Erwerbstätigenalter übertroffen haben. Die finanzielle Situation der Rentenkassen ist solide bis ausgezeichnet, aber dann wird, statistisch gesehen, je ein Mensch in Lohn und Brot für einen Rentner aufkommen müssen. Lange geht so etwas nicht gut. Schon schlägt die Bertelsmann-Stiftung vor, das Rentenalter mal sehr behutsam auf 69 Jahre anzuheben.
Im Jahr 2061, so hat der Kölner Ökonom Eckart Bomsdorf ermittelt, werden gut 100 000 Menschen in Deutschland hundert Jahre alt sein. Nicht mitgezählt sind jene, die noch älter sein werden. Es sind doppelt so viele.