„Wir fürchten um unser Leben“

Der Psychotherapeut und Sozialpsychologe Klaus Ottomeyer erklärt, warum in der aktuellen Situation Angst kein schlechter Ratgeber ist.

Der angstfreie Ritter im Kampf gegen den übermächtigen Drachen – nicht umsonst ein Bild aus dem Reich der Fantasie. © jc_design//Getty Images

In Ihrem im Jahr 2022 veröffentlichten Buch Angst und Politik tragen Sie Ihr Wissen aus Sozialpsychologie und Psychoanalyse zum Umgang mit Bedrohungen zusammen. Hatten Sie mit den Angriffen auf die Ukraine und dem Krieg gerechnet?

Nein, ich hatte nicht damit gerechnet. Ich hatte Wladimir Putin als einen gefährlichen Obermacho gesehen, der schon in Tschetschenien eine mörderische Politik gemacht hat und seine Kritikerinnen und Kritiker im eigenen Land verfolgt und vergiftet. Aber dass es diese Formen annimmt, das hatte ich dann doch nicht erwartet. Diese Situation macht Angst, reale und angemessene Angst. Wir fürchten um unser Leben, unseren Wohlstand, unsere Demokratie. Es kann etwas passieren, das schließt auch eine mögliche Katastrophe mit ein. Ich habe Militärs diskutieren gehört, die sagten, für die Eroberung der Ukraine wäre ein Einsatz von Atomwaffen absurd, dann würde das Land verseucht, das man einnehmen möchte. Ob das bei Putin und seinen Leuten auch so gesehen wird, wissen wir nicht.

Daher kann man nur hoffen, dass nicht aus Versehen etwas geschieht, das kann in einem Krieg jederzeit vorkommen. Was die Atomwaffen betrifft: Wir haben in einer Art Apokalypse-Blindheit gelebt und das Vorhandensein dieser Waffen verdrängt. Wir haben so gelebt, als ob da nichts passieren könnte. Man kann wirklich nur hoffen, dass Drohungen in diese Richtung Bluff sind und dass nichts geplant wird. Dass das Ziel „nur“ ist, den Westen abzuschrecken. Sicherlich können wir uns mit taktischen Überlegungen beruhigen, dass Putin nicht das Land verseuchen würde, dass er einnehmen will. Ob das so kommt, wissen wir nicht. Die Angst ist real.

Es gibt viel Hilfe für die geflohenen Ukrainerinnen und Ukrainer. Viele Menschen gingen auf die Straße, um gegen den Krieg zu demonstrieren. Hilft das gegen die Angst?

Ja. Die großen Demonstrationen beeindruckten doch auch. Sie gaben uns allen das Gefühl, nicht allein zu sein – und wer weiß, vielleicht gab es auch in Russland Menschen, die sie mitbekamen. Man soll Menschen unterstützen, soweit einem das möglich ist. Es geht nicht darum, sich bis zum Burnout völlig aufzuopfern. Aber indem wir andere unterstützen, helfen wir auch uns selbst.

Es wird häufig gefragt, wie man Angst lindern kann, oder es heißt: „Angst ist ein schlechter Ratgeber.“ Sie sehen das anders?

Beides trifft das Problem nicht. Von der realen Angst und der Gewissensangst kann man gar nicht genug haben. Der Wunsch nach Angstfreiheit ist völliger Unsinn. Ich finde die Unterscheidung von Sigmund Freud sehr sinnvoll: Real­angst, Gewissensangst und neurotische Angst. Realangst bedeutet: Wir wissen, dass etwas passieren kann, und kümmern uns darum, wie wir damit umgehen; wir fragen uns also, was wir tun können, und wir handeln. Gewissensangst bedeutet, dass wir besorgt sind um uns selbst und um andere. Beides sind gute Ängste.

Das haben wir auch zu Beginn der Coronapandemie erlebt. Menschen hatten reale Angst um ihr Leben aufgrund der Informationen über das Virus und der hohen Ansteckungsraten, aber es gab auch die Besorgnis um andere, Nachbarn, Verwandte, um die man sich gekümmert hat. Wir müssen ganz viel Angst haben, um uns selbst und um andere.

Es ist gut, dass wir unsere Ängste bekämpfen, indem wir helfen. Dennoch: Sind die Ängste nicht auch belastend?

Bei der realen Angst geht es um die notwendige Auseinandersetzung mit der Realität. Aus unserer Gewissensangst heraus helfen wir anderen und uns selbst. Das kann man auch beschreiben mit der Fähigkeit zur Besorgnis, capacity of concern, wie es in der Psychologie genannt wird. Studien, beispielsweise von dem Psychologen und Anthropologen Michael Tomasello, haben gezeigt, dass das schon sehr kleine Kinder haben, sie können sich schon ab dem zweiten Lebensjahr um andere Sorgen machen. Im Menschen ist das angelegt, auch wenn es natürlich manchmal später verschüttet wird.

Sie beschreiben die neurotische Angst als das Gegenteil von realer und Gewissensangst. Was verstehen Sie darunter?

Die neurotisch-paranoide Angst, ebenfalls nach Freud, ist das Gegenteil von Realangst, eine gefährliche, gewissermaßen vergiftete Variante von Angst. Es ist letztlich die Furcht vor der eigenen Gier, dem eigenen Neid, den eigenen Großmachtfantasien, den eigenen asozialen Impulsen und Regungen. Auch diese Angst können wir alle haben. Aber zurzeit dominiert sie bei uns glücklicherweise nicht. Das war ganz anders in der sogenannten Flüchtlingskrise in den Jahren 2015 und 2016. Am Anfang gab es hier ganz viel Realangst und Gewissensangst, die eine Welle von Hilfsbereitschaft ausgelöst haben. Später ist neurotische und paranoide Angst hineingekommen. Nun wurde in die Geflohenen alles Mögliche hineinprojiziert. Beispielsweise wurde behauptet: „Die wollen alles“, „Denen geht es nur ums Geld“, „Die sind Lügner“ – alles allein Projektionen. Glücklicherweise war aber Hilfe und Integration dennoch möglich und es haben sich nicht alle von der Propaganda und dem Neid gegen „die nach uns Gekommenen“ beeindrucken lassen.

Zu Beginn des Ukrainekriegs wurden die Menschen, die geflohen sind, eher wahrgenommen wie Brüder und Schwestern, auf die man nicht eifersüchtig ist, wenn sie in unsere Welt kommen und Aufmerksamkeit erhalten, sondern denen man hilft. Wladimir Putin versucht hingegen, bei seinen Leuten eine neurotische Angst zu mobilisieren, indem er die Ukrainerinnen und Ukrainer als kriminell beschreibt, als Nazis und Neonazis, als Drogenabhängige. Dabei projiziert er seine eigenen Machtfantasien in diese Gegnerinnen und Gegner. Die neurotische Angst dreht sich um Hirngespinste.

Wenn wir neurotische Angst spüren, wie können wir damit umgehen?

Das kennen vermutlich die meisten von uns, dass man das Gefühl hat, „ich könnte jemanden umbringen“, oder man sich bei wilden Rachefantasien ertappt. Wenn man das bemerkt, sollte man es möglichst reduzieren und minimieren. Wir sollten darüber reflektieren und vielleicht feststellen: „Ich bin auch ein bisschen verrückt.“ Das schützt davor, dass die neurotische Angst zu viel Macht über uns gewinnt. Das zu verstehen ist nicht kompliziert, im Gegenteil. Es ist meines Erachtens möglich und absolut sinnvoll, die Unterscheidung zwischen Realangst, neurotischer Angst und Gewissensangst schon in Schulen zu unterrichten, man kann das „die politische Bildung der Angst“ nennen.

Momentan kann ich mir nicht vorstellen, dass die Realangst wegen des Krieges, die wir alle empfinden, kippen könnte in die neurotisch-paranoide Angst. Was ich aber sehe und was mir Sorgen bereitet: ein Wertechaos. Es liegt darin, dass es seit einiger Zeit bei uns möglich ist, die Forderung nach dem Impfen oder einer Impfpflicht als Diktatur zu bezeichnen. Diejenigen, die wie trotzige Kinder rebellieren, die müssen ruhig werden. Sie wissen nicht, was eine Diktatur ist. Vielmehr sind es innere Bedürfnisse, die auf die Straße kommen, eine Rebellion von Menschen in einem infantilen Ego-Status, die gegen „die Großen da oben“ rebellieren wie gegen böse Eltern.

Wladimir Putin ist Ihrer Einschätzung nach in einem gefährlichen Zustand. Was meinen Sie damit?

Ich nehme an, dass er ähnlich wie auch Donald Trump unter malignem, also bösartigem Narzissmus leidet, einer Persönlichkeitsstörung. Sie hat sich altersbedingt wohl noch einmal verschärft. Wenn man in diesem Alter ist, dann schwindet die Macht, die Kraft. Dann entsteht ein „Dennoch“-Machismo, der außerordentlich destruktiv ist. Die eigene Schwäche und das eigene Älterwerden müssen überspielt und verleugnet werden.

Putin scheint nur einen Gedanken zu haben: Make Russia great again… Was soll das sein? Es geht hier nur um das eigene Größenerleben, das er jetzt braucht. Und das heißt: Wenn er nicht gewinnt, gibt es keinen Ausweg mehr. Er kann nicht zurück. Er muss gewinnen. Stellen Sie sich vor, er würde zurücktreten, für ihn gäbe es kein Exil, wer würde ihn aufnehmen? Es ist undenkbar geworden, dass er irgendwo hingehen könnte, weil ihn keiner mehr will.

Putin hat sich selbst jeder Möglichkeit beraubt, in Bescheidenheit zurückzutreten. Nelson Mandela konnte das. Er hat gesagt: Ich bin jetzt alt und ich ziehe mich zurück. Für den Typus Trump oder Putin ist das unmöglich. Sie kämpfen bis zum Schluss und brauchen noch mal ihr Größenerlebnis. Würde Putin den Krieg verlieren, wäre er blamiert, auch vor seinen eigenen Leuten. Was soll er dann machen? Das ist eine Einengung der Perspektive, eine Tunnelsicht, aus der er nicht mehr herauskommt.

Viele haben geglaubt, Putin sei rational. Ist er das wirklich?

Wir wissen es nicht. Ich vermute, es hat bei ihm einen Bruch gegeben; was es war, ist ebenfalls unklar. Putin hat sich anscheinend zurückgezogen und historische Studien betrieben. Es wirkt nun so, als fixiere er sich mittlerweile ausschließlich auf diese Idee, die Auflösung der Sowjetunion sei die größte Katastrophe des Jahrhunderts gewesen. Daran klammert er sich.

Dabei wird durch diesen Krieg für niemanden etwas besser, für die Menschen in der Ukraine nicht, für die Menschen in Russland nicht, für uns nicht.

Es scheint sich um eine Idee zu handeln, die eine große psychologische Bedeutung für Putin hat, eine monomanische Fantasie. Ich nehme an, das ist in dieser Art nicht lange vorm Angriff im Februar 2022 entstanden. Sicher, er war auch schon vorher ein brutaler Killer. In Russland sind Regimekritikerinnen und -kritiker gefoltert und vergiftet worden, es wurden brutale Kriege geführt. Die Stadt Grosny ist vernichtet worden und sie wird seit langem von einem Folterknecht regiert. Das waren alles Anzeichen. Aber es gab doch noch etwas, so absurd es klingt, was rational und normal war: Die Mächtigen in Russland wollten leben, ihre Häuser und Yachten genießen, Urlaub machen. Auch Putin selbst. Das ist nun vorbei.

Sie bezeichnen den Krieg gegen die Ukraine als „Rache des Patriarchats“. Das klingt dramatisch.

Was uns zurzeit begegnet – in Amerika mit Trump, in Gestalt unserer rechtspopulistischen Parteien, in Russland mit Putin – das ist genau das. Eine überreiz­te, gekränkte Männlichkeit nach der Devise: „Über mich lacht keiner mehr.“ Offenbar hilft der Griff zu den Waffen, das Nichtzurückschrecken vor den extremsten Waffen. Es ist mir wichtig zu sagen: Wir alle, aber ganz besonders die Frauenbewegung müssen weiter den Mund aufmachen und aktiv sein.

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Klaus Ottomeyer, geboren 1949, ist Sozialpsychologe und Psycho­therapeut. Er war bis 2013 Professor an der Universität Klagenfurt. Sein Buch Angst und Politik. Sozialpsychologische Betrachtungen zum Umgang mit Bedrohungen ist bei Psychosozial erschienen

Auf der Website How To Deal With Fear geben Therapeuten und Therapeutinnen Anregun­gen zum Umgang mit der Gewalt in der Ukraine. In kurzen Videos erläutern sie etwa Methoden zur Bewältigung von Angstgefühlenhowtodealwithfear.org

Sigmund Freud unterschied die Realangst, die Gewissensangst und die neurotische Angst. Nur die letzte ist schlecht für uns

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