Sag, dass du mich liebst

Histrioniker sind schillernde Persönlichkeiten mit dem großen Bedürfnis, gesehen zu werden. Was steckt hinter dem Verlangen?

Eine auffallend gekleidete Frau steht inmitten ihrer bunten Wohnungseinrichtung und möchte immer im Mittelpunkt stehen
Schrill, lasziv und extrovertiert – die Eigenschaften „lauter“ Histrioniker. © Hélène Baum

Mit dreizehn Jahren erleidet sie eine erste Panikattacke – Zittern, Zusammenkrümmen vor Angst, das Gefühl, zu ersticken. Im Versuch, irgendwo Halt zu finden, greift sie nach der Hand des Vaters. „Er hat sie einfach losgelassen. Diese Geste ist ein passendes Symbol für meine ganze Jugend“, sagt Rachel A. Ihr langes pechschwarzes Haar hat die 34-Jährige zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie trägt ein dunkles knielanges Kleid und eine Jeansjacke. Rachel haftet etwas Schnee­wittchenhaftes an.

Und zugleich etwas…

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ein dunkles knielanges Kleid und eine Jeansjacke. Rachel haftet etwas Schnee­wittchenhaftes an.

Und zugleich etwas Eigenwilliges: mit ihrer souveränen Art zu erzählen, ihren Piercings an Nase und Ohren und einem ornamentalen Tattoo, das ihr Handgelenk ziert. Es ist einer von vielen Orten schmerzlicher Erinnerung. „Während ich weinte, hat meine Mutter mich kalt angesehen und gesagt: ‚Das machst du doch bloß, um Aufmerksamkeit zu bekommen.‘ Nicht gesehen, nicht gehört zu werden war für mich, wie in einen Abgrund gestoßen zu wer­den. Ich bin dort unzählige Male hinabgestürzt, unzählige Male zerbrochen.“

Noch heute liegt Schmerz in den wachen hellblauen Augen von Rachel, aber auch etwas anderes: ein hohes Maß an Resilienz und Reife. Sie hat es geschafft. Tragfähige Freundschaften, ein guter Job als Pädagogin, die erste eigene Wohnung in einer mitteldeutschen Kleinstadt. Das Ergebnis harter Arbeit in mehreren Therapien. Zuvor, als heranwachsende junge Frau, ist ihr Leben „ein ständiges Drama“.

Dem Leid einen Namen

Rachel kleidet sich im Alltag lasziv, geht mehrmals die Woche feiern, verführt Männer und spielt mit ihnen, macht sich von ihnen abhängig. Sie lässt zu, dass man sie körperlich und emotional misshandelt. Dass man Fotos von ihr macht und im Netz veröffentlicht, deren Anblick ihr heute wehtut. Aufräumen, einkaufen, lernen – in ihrem Leben ist kein Platz für Profanes. So verliert sie, die erste Akademikerin der Familie, nach drei Semestern ihren Psychologiestudienplatz, wird arbeitslos. Vor fünf Jahren endet die Odyssee. Rachel findet endlich einen Therapeuten, der sie versteht. Er gibt ihrem Leid einen Namen, mit dem sie etwas anfangen kann: histrionische Persönlichkeitsstörung.

Es handelt sich um eine Diagnose, die zunehmend in Verruf geraten ist. Sie gilt als unwissenschaftlich und wertend (siehe Infokasten auf Seite 21). Dennoch ist sie noch in den aktuellen medizinischen Diagnosemanualen ICD-10 und DSM-5 vertreten. Das Störungsbild zeichnet sich unter anderem durch eine instabile Gefühlswelt aus, die extrem zum Ausdruck gebracht wird. Betroffene lassen sich leicht durch Situationen oder andere Personen beeinflussen.

Sind so sehr im Außen, dass sie den Kontakt zu sich selbst verlieren. Ständig sind sie auf der Suche nach Aufmerksamkeit und leiden, wenn sie nicht im Mittelpunkt stehen. Ihr Auftreten ist entsprechend dramatisch oder gar theatralisch. Manche beschäftigen sich exzessiv mit ihrem Äußeren und treten unangemessen verführerisch auf.

„Wer einige diese Merkmale aufweist oder sogar in starkem Maße aufweist, muss jedoch noch lange nicht an einer Persönlichkeitsstörung leiden“, sagt Claas-Hinrich Lammers, Professor für Psychiatrie und Psychotherapie in Hamburg. „Generell ist das, was wir als histrionisch bezeichnen, als Spektrum zu betrachten. Bei einer Persönlichkeitsstörung liegen tiefverwurzelte und extrem starre Verhaltensmuster vor, die das Wohlbefinden oder die Funktionsfähigkeit in mehreren Lebensbereichen erheblich beeinträchtigen.“

Selbstbewusst, herzlich, gewinnend

Schätzungen zufolge erfüllen etwa ein bis zwei Prozent der Bevölkerung die Kriterien der histrionischen Persönlichkeitsstörung; die leichteren Ausprägungen könnten weit mehr Menschen haben. Rolf Dieter Trautmann, Arzt und Psychotherapeut in Landsberg am Lech, ist Experte für Persönlichkeitsstörungen und attestiert gut 40 Prozent seiner Patienten histrionische Züge im erweiterten Sinne. Entscheidend ist aus seiner Sicht nicht das äußere Auftreten, sondern das zugrunde liegende Schema. „Es geht diesen Menschen darum, um jeden Preis als Person wahr- und ernst genommen zu werden. Ein nachvollziehbarer Wunsch, denn viele von ihnen haben die Erfahrung gemacht, dass andere sie verletzen oder übergehen.“

Dies trifft auch auf Johannes B. zu, dessen Geschichte sein Therapeut erzählt. Der 50-jährige Inge­nieur wächst als jüngster von vier Brüdern auf einem Bauernhof auf. Die älteren Geschwister ärgern ihn täglich. Sie nehmen ihm sein Spielzeug weg, sperren ihn im Keller ein. Versucht er sich zu wehren, verspotten sie ihn und ärgern ihn umso mehr. Schon früh gewinnt Johannes den Eindruck, dass seine Grenzen und Bedürfnisse für andere nicht zählen. Als Erwachsener ist er vielen Frauen ein guter Freund, eine belastbare Schulter zum Anlehnen.

Doch in der Liebe geht er stets leer aus. Mit jeder Enttäuschung wächst die Sehnsucht nach Bestätigung und sozialer Sicherheit. Solche Grundbedürfnisse können durch krisenhafte Ereignisse sensibilisiert werden, etwa durch eine Affäre des Partners, durch die Trennung der Eltern oder durch ei­ne plötzliche Kündigung. Dasselbe gilt für chronische Belastungen – wenn wir jahrelang im Schatten der Geschwister stehen, der Partner unsere Forderungen ignoriert, der Arbeitgeber uns nicht gebührend bezahlt. Auch Alltagssituationen können uns das Gefühl geben, bedeutungslos, einer von vielen zu sein: wenn uns ein Fremder am Bahnhof anrempelt, die Ärztin uns nach fünf Minuten abspeist oder eine Freundin unseren Geburtstag vergisst.

Die Leisen

Menschen mit histrionischen Persönlichkeitszügen nehmen sich solche Erfahrungen stärker zu Herzen, beziehen sie auf sich und leiden darunter. „Sie sind der Überzeugung, stets etwas dafür tun zu müssen, um gesehen und wertgeschätzt zu werden“, sagt Trautmann. So ordnet sich Johannes in seinem Handeln den Wünschen anderer unter. Trautmann würde ihn als „leisen Histrioniker“ bezeichnen. „Diese suchen nicht mit großem Trara nach Zuwendung, sondern indem sie es ständig allen recht machen.“

Laut Trautmann gibt es viele leise Histrioniker, die ganz anders auftreten als der „klassische Patient“. Ein exemplarisches, wenn auch nur Idealbeispiel für einen solchen ist Paul. Er versucht sein Selbstwertgefühl zu stabilisieren, indem er die Aufmerksamkeit anderer gewinnt.

Aus der Sorge heraus, langweilig und nicht liebens­wert zu sein, geht Paul oft als Erster auf neue Personen zu und baut schnell persönliche Nähe auf. Er begibt sich dreimal die Woche ins Fitnessstudio und liest die Spiegel-Bestseller, um durch sein Äußeres und sein Wissen aufzufallen. Paul bringt viel Verständnis für die Wünsche und Eigenheiten seiner Partnerin auf, zeigt hohes Engagement am Arbeitsplatz und bittet bei Arztbesuchen charmant um ein paar weitere Minuten. Dabei tritt er meist so selbstbewusst, herzlich und gewinnend auf, dass das Umfeld seine Verletzlichkeit nicht bemerkt, seine Angst, für andere keine Rolle zu spielen und in Vergessenheit zu geraten.

Der Druck steigt

In vielen Fällen gelingt es Menschen mit histrionischen Merkmalen, Berücksichtigung zu finden. Ist dies nicht der Fall, steigt der Leidensdruck. Sie bekommen das Gefühl, mehr tun zu müssen. Nur wer ins Scheinwerferlicht tritt, wird gesehen – das gilt als eine Kernannahme bei der histrionischen Persönlichkeitsstörung. Wer dagegen im Schatten bleibt, wird missachtet und isoliert. So ähnlich denken auch Menschen mit subklinischen Ausprägungen wie Paul. Wenn er sich nicht gesehen fühlt, verschafft er sich vehement Gehör: Dann schreit er seine Partnerin an, jammert am Arbeitsplatz und fordert bei der Ärztin mit Nachdruck eine eingehendere Untersuchung.

Der Persönlichkeitsforscher Rainer Sachse unterscheidet zwischen „erfolgreichen“ und „erfolglosen“ Histrionikern. Beide setzen – meist unbewusst – manipulative Strategien ein, um ihr Grundmotiv nach Wichtigkeit zu erfüllen. Dazu zählen sowohl positive als auch negative Strategien. Erfolgreichen Histrionikern wie Paul gelingt es mit überwiegend positiven, aber auch wohldosierten negativen Strategien, ein hohes Maß an Beliebtheit und Respekt zu gewinnen. Dagegen bedienen sich erfolglose Histrioniker, zu denen sich rückblickend Rachel als heranwachsende junge Frau zählt, vorwiegend negativer Strategien. Diese sind für das Umfeld unangenehm, und so stoßen die Betroffenen trotz großer Bemühungen auf wenig Verständnis.

Positive manipulative Strategien:

  • attraktiv sein, gut aussehen, sich auffällig kleiden

  • interessant sein, andere unterhalten, Geschichten erzählen, Smalltalk beherrschen

  • gut gelaunt sein, andere mit positiver Stimmung anstecken

  • verführerisch auftreten, flirten

Negative manipulative Strategien:

  • jammern, klagen, nörgeln

  • bedürftig und bemitleidenswert sein („Ich bin immer arm dran.“ „Ich brauche jemanden, der für mich da ist.“)

  • Kontrolle ausüben („klammern“)

  • Symptome produzieren, sich in diese hineinsteigern (zum Beispiel Panik, Ängste, Depressionen oder körperliche Symptome wie Migräne)

Für das Wohlbefinden ist Lammers zufolge jedoch weniger das Auftreten einer Person entscheidend, sondern vielmehr die Resonanz darauf: „Sie können in der einen Gruppe für Ihre dramatische Art sehr geschätzt werden und ein beliebter Partygast sein. Problematisch wird es dann, wenn Sie in einer anderen Gruppe sind, die Sie als anstrengend empfindet und nicht mehr einlädt.“

Der Psychologieprofessor Theodore Millon schrieb Menschen mit histrionischen Zügen ein „aktiv-dependentes“ Muster zu. Aktiv, da sie ihr Handeln danach ausrichten, wahrgenommen zu werden – etwa indem sie anderen gegenüber sehr aufmerksam sind oder sich ungewöhnlich stylen. Dependent, da sie sich abhängig von den Reaktionen ihrer Umwelt fühlen. Sie sind schnell verunsichert und verletzt, verlieren sich in Rechtfertigungen, passen sich an.

Missverstanden und allein

Das ist auch die Strategie, die Rachel als kleines Mädchen verfolgt. Zwischen einem älteren Bruder mit ADHS und einer jüngeren Schwester mit schwerer Neurodermitis bleibt nur wenig Raum für sie, die Brave, die Duldsame. Der Vater, ein Polizist, bezeichnet Rachel zu dieser Zeit als seine Prinzessin. „Doch eine Prinzessin wird nicht um ihrer selbst willen geliebt, sondern nur, weil sie anderen gefällt“, sagt Rachel. Die Mutter idealisiert ihre Tochter und wertet sie dann wieder ab. Rachel ist in ihrer Beziehungswahrnehmung völlig verunsichert. Oft fragt sie die Eltern, ob sie sie lieben. Die Mutter sagt: „Ich weiss es nicht.“

Von ihren Mitschülern wird das Mädchen gemobbt. Überall, zu Hause und in der Schule, fühlt sich Rachel missverstanden und allein gelassen. Sie hat das Gefühl unterzugehen. Zieht sich zurück in eine Traumwelt, in der ein guter Ritter sie erlöst. Das Gefühl von bedingungsloser Liebe, das sie im Elternhaus nicht findet, sucht sie bei erwachsenen Männern. Der Religionslehrer, ein Pfarrer, nutzt dieses Bedürfnis aus. Er bemüht sich um ihre Nähe, streichelt sie, nennt sie sein „Kuschelbärchen“. Noch als 17-Jährige spielt Rachel mit Barbies. Erst mit 27 Jahren zieht sie endgültig aus dem Elternhaus aus.

Narzissten wollen dominieren, Histrioniker geliebt werden

„Viele Menschen mit histrionischem Persönlichkeitsstil wirken jünger, als sie sind. Sie haben den kindlichen Wunsch, dass alles gut ist, und sehnen sich nach einer heilen Welt“, sagt Trautmann. „Konflikte und Ablehnung können ihr Sicherheitsgefühl komplett erschüttern. Ihren Selbstwert, ja gar ihre Existenzberechtigung machen sie davon abhängig, ob sie sich geliebt fühlen und die Erwartungen anderer erfüllen.“ In diesem Punkt unterscheiden sie sich signifikant von Narzissten, deren Selbstwertgefühl an Leistung gebunden ist.

Oberflächlich betrachtet werden Menschen mit histrionischen Zügen leicht mit Narzissten verwechselt: Beide treten selbstbewusst auf, fürchten sich vor Kritik, haben eine geringe Frustrationstoleranz und stellen hohe Ansprüche an ihre Partner. Doch in ihren Kernmotiven liegen wesentliche Unterschiede. Narzissten streben nach Dominanz und Bewunderung. Sie werten andere ab. Dagegen sind Menschen mit histrionischem Persönlichkeitsstil getrieben vom Wunsch nach Verständnis und Liebe. Sie sind stark beziehungsorientiert und bereit dazu, anderen viel zu geben, Rollenerwartungen zu erfüllen. Aber ist dieses Sichanpassen und Zurschaustellen überhaupt problematisch?

„Die Fähigkeit zum Schauspiel im täglichen Leben bietet durchaus Vorteile“, sagt Karl-Heinz Renner, Professor für Persönlichkeitspsychologie an der Universität der Bundeswehr München. Gemeinsam mit seinem Kollegen Lothar Laux, Professor an der Universität Bamberg, hat er eine Skala für den „histrionischen Selbstdarstellungsstil“ entwickelt (siehe Seite 23).

Der Schauspieler

Hierbei geht es nicht um die entsprechende Persönlichkeitsstörung, sondern mit Bezug auf die lateinische Wortherkunft histrio um „Schauspieler“: Der Test misst, inwiefern man sich im Alltag wie ein solcher verhält – durch subtile Formen wie Ironie und Sprachspiele, aber auch durch kleine szenische Auftritte, bei denen man seine Stimme, Gestik oder Körperhaltung verändert.

Lammers zufolge liegt ein besonderer Reiz im histrionischen Verhalten: „Mit ihrer Ausstrahlung bringen diese Personen Farbe und Schattierung ins Leben. Ihre starke Emotionalität kann andere anregen, wachrütteln, gar berauschen.“ So beginnt eine Affäre oder Beziehung oft besonders leidenschaftlich und spannend.

Persönlichkeiten wie Paul stürzen sich nach einer Trennung von einem Date ins nächste. Aus der Angst, erneut verletzt und zurückgewiesen zu werden, belassen sie es manchmal jahrelang bei oberflächlichen sexuellen Begegnungen. Getrieben von dem Bedürfnis nach Aufregung und Bestätigung, fällt es ihnen schwer, Partnerschaften dauerhaft zu halten. Studien zeigen, dass Menschen mit histrionischen Zügen häufiger von Affären berichten sowie von mehr Unzufriedenheit innerhalb einer Beziehung.

Nach der Trennung die Depression

Andererseits definieren sich viele Menschen mit histrionischen Merkmalen stark über ihre Rollen als Partner, Eltern, Freunde oder Kollegen. Das trifft auch auf Johannes zu. Er schätzt und pflegt seine sozialen Beziehungen, blüht im Freundeskreis geradezu auf. Im großen Vertrauen und im emotionalen Investment, das er bei Bindungen eingeht, liegt zugleich eine Vulnerabilität.

Johannes fürchtet sich sehr vor dem Alleinsein. Für Menschen mit histrionischen Zügen sind Ereignisse wie eine Scheidung, der Tod eines Angehörigen, aber mitunter auch der Auszug eines Kindes ein besonders harter Schlag. Nach Trennungen ist ihr Depressionsrisiko stärker erhöht als das anderer Personen. Auch alltägliche Belastungen wie ein Streit können bei ihnen intensive Gefühle von Trauer oder Wut entfachen. „Sozialer Stress versetzt Menschen mit histrionischen Zügen schneller in emotionale Spannungszustände, die die kognitive Verarbeitung beeinträchtigen“, sagt Lammers. Während es bei der Borderlinepersönlichkeitsstörung dann oft zu selbstverletzendem Verhalten komme, äußere sich ein histrionisches Persönlichkeitsprofil eher durch Hilfsappelle und Weinen oder Hyperventilieren.

„Wenn Personen mit ausgeprägten histrionischen Eigenschaften unter Leidensdruck stehen, versuchen sie ihr Bedürfnis nach Verbundenheit leider oft auf eine Art und Weise zu befriedigen, die Beziehungen eher destabilisiert“, sagt Lammers. In Belastungssituationen greifen sie auf ihre Überlebensstrategie zurück: Dramatisieren. So rufen sie nach einer Trennung zum Beispiel nachts unter Tränen vertraute Personen an.

Gefühl von Hilflosigkeit

Mit der Zeit verbraucht sich dieser Effekt, das Umfeld reagiert zunehmend ungläubig oder genervt. Bis eines Tages vielleicht niemand mehr ans Telefon geht. Zurückweisung, die sich für Rachel „lebensbedrohlich“ anfühlt, entfacht immer dramatischere Verhaltensweisen – und die führen dazu, dass sich das Gegenüber noch stärker zurückzieht. Lammers sagt: „Es ist, als würde man versuchen, einen Brand zu löschen, und die einzig verfügbare Flüssigkeit ist Benzin.“

Durch das, was Trautmann als „lauter schreien“ bezeichnet, werden die Betroffenen immer weniger ernst genommen. Daraus resultiert ein Gefühl von Hilflosigkeit. Es bedingt Depressionen, aber auch Panikattacken, wie Rachel sie hatte. Menschen mit einer histrionischen Persönlichkeitsstörung sind anfälliger für Substanzabhängigkeiten, Angst- und Somatisierungsstörungen.

Besteht der Eindruck, dass die eigenen Gedanken, Gefühle oder Verhaltensmuster einen belasten, kann eine Psychotherapie sinnvoll sein. Unabhängig davon gibt es viele Möglichkeiten, sich selbst zu helfen. In dem Buch Ihr Persönlichkeits-Portrait empfehlen der Psychologieprofessor John Oldham und die Journalistin Lois Morris Übungen für Menschen mit einem dramatischen Persönlichkeitsstil.

Den Autoren zufolge können wir unser Selbstwertgefühl stabilisieren, indem wir lernen, uns selbst zu betrachten, anstatt uns durch die Augen anderer zu sehen. Welche Dinge schätzen wir besonders an uns? Ist es unser freier Geist, unser Humor, unser Gesicht? Wenn wir merken, dass wir uns nach einem Lob sehnen, können wir uns dieses selbst geben. Insgesamt geht es darum, den Selbstwert nicht nur von außen, sondern auch von innen zu nähren; das, was Trautmann als „inneres Ich“ bezeichnet, wohlwollend zu betrachten. Dies können wir etwa durch Achtsamkeit und Übungen zur Körperwahrnehmung erlangen oder indem wir mehr Zeit mit uns selbst verbringen.

Gefühle selbst regulieren

Allein spazieren oder ins Museum zu gehen, ein leckeres Gericht zuzubereiten, ein Entspannungsbad zu nehmen – sich ganz bewusst etwas Gutes zu tun ist für Personen mit histrionischen Merkmalen zunächst ungewohnt. Es könnten Gefühle von Leere oder Langeweile aufkommen, verdrängte Sorgen ins Bewusstsein treten. Menschen mit dramatischen Zügen blicken lieber auf die hellen Seiten des Lebens und schieben Unangenehmes bei­seite.

Das kann eine unbezahlte Rechung sein, ein Zahnarztbesuch oder ein Streit, den man seit Wochen umschifft. Das Aufschieben erfordert jedoch Anstrengung und die Probleme verschärfen sich meist. Deshalb empfehlen Oldham und Morris, sich auch die negativen Aspekte des Lebens zu vergegenwärtigen. „Versuchen Sie, Gefühle wie Widerwillen oder Frust zur Kenntnis zu nehmen und eine Weile auszuhalten“, rät auch Trautmann. Wenn wir übliche Muster durchbrechen, wie etwa sich am Smartphone abzulenken, können wir neue Strategien erlernen, um unsere Gefühle zu regulieren. Die Erfahrung, auch mit Unangenehmem umgehen zu können, wird als bestärkend und befreiend empfunden.

Innezuhalten und sich selbst zu beobachten tut Menschen mit histrionischen Zügen auch gut, da es eine gewisse Ordnung in ihr Leben bringt: Welche Ziele und Personen sind mir wirklich wichtig, welche nicht? Welche Erledigungen sind dringend, was kann warten? Plötzlich auftretenden Impulsen, etwa jetzt sofort eine lustige Anekdote erzählen zu wollen oder sich im Streit den Tränen hinzugeben, sollte nicht willenlos nachgegeben werden. Stattdessen könnte man diese spontanen Bedürfnisse erst einmal wahrnehmen und bis zehn zählen. Nachspüren, ob sie dann immer noch so stark sind, und experimentieren, wie lange man ihnen standhalten kann.

Schreiben kann helfen

Insgesamt geht es darum, vom emotionalen Reagieren in ein bewusstes Agieren zu kommen, bei dem sowohl Herz als auch Verstand zum Tragen kommen. Dies erfordert vielleicht zunächst, an grundsätzlichen Überzeugungen zu arbeiten. Zu erkennen, dass es gar nicht möglich ist, es immer allen recht zu machen. Dass es die perfekte Familie, den perfekten Partner nicht gibt. Dass die Welt keine absolute Sicherheit bietet, aber man sich selbst ein Sicherheitsgefühl geben kann. In der Therapie hat Rachel gelernt, ihr Schwarz-Weiß-Denken zu hinterfragen. „Ich verstehe nun, dass nicht immer alles gut sein kann“, sagt sie. „Das heißt aber nicht, dass deswegen alles schlecht ist. Auch wenn es sich manchmal so anfühlt.“

Trautmann zufolge entlastet es, das Problem einmal aus emotionaler Perspektive und einmal aus einer neutral-beschreibenden Perspektive niederzuschreiben. Grundsätzlich regt Schreiben kognitive Prozesse an und schafft Zeit, um sich etwas zu beruhigen. Daher kann es helfen, ein Tagebuch zu führen und anderen Personen Textnachrichten zu schreiben, anstatt sie sofort anzurufen.

In der Kommunikation mit anderen ist es wichtig, seine Bedürfnisse klar zu äußern, um nicht in emotionale Not zu geraten. Daher ist es ratsam, sich vor einem schwierigen Gespräch Notizen zu machen. „Wenn Sie merken, dass Sie dabei sind, in Rechtfertigungen zu rutschen, versuchen Sie diese abzubrechen“, rät Trautmann. „Standardformulierungen – zum Beispiel: ‚Da kann ich leider nicht‘ – können Krücken sein, um Grenzen aufzuzeigen.“ Rachel sagt: „Für mich war es ein wichtiger Schritt, ganz bewusst bedingungslose, vertrauensvolle Freundschaften aufzusuchen. Dort meine Masken abzulegen, Schamgefühle zuzulassen und Unterstützung anzunehmen.“

Alltag macht Angst

Davor hatte sich Rachel stets an Aufregung geklammert. Sie hatte sie in Geschichten gesucht, in Träumen, in Liebesbekundungen. Die Aufmerksamkeit anderer hatte sie vom Gefühl, „nicht existent zu sein“, ferngehalten. Der bodenständige Alltag hingegen – Arbeit unter der Woche, Tatort am Sonntagabend – fühlt sich oft bedrohlich leer an. Wenn Rachel allein am Esstisch sitzt, fragt sie sich: Ist das hier das normale Leben? Ist das mein reales, gesundes Ich?

Das neue Leben wirft viele Fragen auf. Manchmal macht es ihr Angst. Die Panikattacken sind selten, aber regelmäßig zu Gast in ihrer Zweizimmerwohnung. Doch den Halt, den sie ihre ganze Kindheit und Jugend über weder beim Vater noch bei sonst jemandem fand, versucht sie sich nun selbst zu geben. Mit einem Mantra der Selbstakzeptanz, das in großen Buchstaben auf ihrer Wand steht: Ich darf sein.

Geschichte der Hysterie

Der Begriff „Hysterie“ beruht auf der antiken Vorstellung, dass die Gebärmutter (Altgriechisch hystéra) ein zorniges Tier sei, das durch den Körper der Frau wandere und verschiedenste Beschwerdebilder erzeuge. Erst 1980 wurde die Bezeichnung von dem nordamerikanischen Fachverband American Psychological Association abgelegt und durch verschiedene Diagnosen ersetzt, darunter auch die „histrionische Persönlichkeitsstörung“. In Fachkreisen gilt dieses Störungsbild jedoch inzwischen als veraltet. Bemängelt werden Geschlechterverzerrungen und unzureichende Forschungsbelege. Zudem lasse sich die Diagnose in der Praxis schwer von anderen Störungsbildern abgrenzen, etwa der narzisstischen oder der Borderlinepersönlichkeitsstörung. Daher soll die histrionische Persönlichkeitsstörung in zukünftigen ICD- und DSM-Diagnosemanualen nicht mehr enthalten sein. „Stattdessen wird der Oberbegriff Persönlichkeitsstörung vergeben und zunächst nach Schweregrad klassifiziert. Hinzu kommen individuelle, detaillierte Beschreibungen von Merkmalen wie der Suche nach Aufmerksamkeit oder emotionaler Instabilität“, sagt Michael Zaudig, der an der Entwicklung von ICD- und DSM-Diagnosemanualen mitgewirkt hat. Dieses Vorgehen sei ein Fortschritt für die klinische Praxis: „Kategoriendenken, bei dem die ganze Persönlichkeit als gestört gilt, wird den Patienten nicht gerecht. Die neue Diagnostik bietet die Grundlage, besser auf die Schwere ihrer Beeinträchtigungen und auf die problematischen Aspekte ihres Persönlichkeitsprofils einzugehen.“ EW

Die Als-ob-Skala – Selbsttest für den histrionischen Selbstdarstellungsstil 

Im Folgenden finden Sie eine Reihe von Feststellungen, mit denen man sich selbst beschreiben kann. Bitte lesen Sie jede Feststellung durch und wählen Sie aus den Antwortmöglichkeiten diejenige aus, die am besten angibt, was im Allgemeinen auf Sie zutrifft.

Kreuzen Sie bitte bei jeder Feststellung das entsprechende Kästchen der von Ihnen gewählten Antwort an.

trifft gar nicht zu

trifft ­etwas zu

trifft weitestgehend zu

trifft vollständig zu

1.

Ich gestalte meine Aussagen gerne so, dass sie für andere Personen mehrdeutig sind

1

2

3

4

2.

Wenn ich etwas sage, verändere ich häufig meine Stimme, um den anderen zu verdeutlichen, dass ich das jetzt eigentlich nicht so meine

1

2

3

4

3.

Wenn ich anderen eine Geschichte oder Ähnliches erzähle, dann spiele ich dabei die verschiedenen beteiligten Personen nach, indem ich ihre Körpersprache und Redeweise imitiere

1

2

3

4

4.

Ich kann in alltäglichen Situationen andere dazu bringen, mit mir zusammen kleine Rollenspiele aufzuführen, so dass fast der Eindruck entsteht, wir würden gemeinsam ein kurzes Thea­terstück spielen

1

2

3

4

5.

Mir macht es Spaß, andere Personen zu parodieren

1

2

3

4

6.

Es macht mir Spaß, anderen Personen gegenüber eine richtige Show abzuziehen

1

2

3

4

7.

Ich weiß genau, wie ich meine Zuhörer fasziniere

1

2

3

4

8.

Ich kann andere Leute in gute Stimmung bringen

1

2

3

4

Summieren Sie die von Ihnen angekreuzten Werte auf.

Wenn Sie eine Frau sind, entsprechen Summenwerte zwischen 12 und 17 einer durchschnittlichen Ausprägung des histrionischen Selbstdarstellungsstils. Werte kleiner 12 und Werte größer 17 sprechen für eine unter- beziehungsweise überdurchschnittliche Ausprägung.

Wenn Sie ein Mann sind, entsprechen Summenwerte zwischen 13 und 20 einer durchschnittlichen Ausprägung des histrionischen Selbstdarstellungsstils. Werte kleiner 13 und Werte größer 20 sprechen für eine unter- beziehungsweise überdurchschnittliche Ausprägung.

Überdurchschnittliche Werte sprechen dafür, dass Sie dazu neigen, Alltagssituationen als Gelegenheiten für sogenanntes explizites Als-ob-Verhalten zu nutzen; das bedeutet, dass Sie zum Beispiel gerne Ironie einsetzen, andere Personen imitieren, parodieren oder kurzzeitig in eine andere Rolle schlüpfen, um ihre Interaktionspartner zu unterhalten oder in gute Stimmung zu bringen. Unterdurchschnittliche Werte sprechen dafür, dass Sie derartiges Als-ob-Verhalten eher nicht einsetzen. Explizites Als-ob-Verhalten beziehungsweise histrionische Rollenspiele können funktionale Effekte erzielen, wenn Ihre Interaktionspartner erkennen und akzeptieren, dass Sie es eigentlich nicht ernst meinen. Als-ob-Verhalten kann aber auch danebengehen, wenn sich eine andere Person durch eine ironische Bemerkung verletzt oder durch ein histrionisches Rollenspiel irritiert und genervt fühlt. Deshalb ist histrionische Selbstdarstellung ein ambivalenter Kommunikationsstil; überdurchschnittliche Ausprägungen können, müssen aber nicht immer funktional sein; ebenso sind unterdurchschnittliche Ausprägungen kein wirklicher Nachteil.

Quelle Karl-Heinz Renner u.a.: Doing as if: The histrionic self-presentation style. Journal of Research in Personality, 42/5, 2008, 1303–1322

„Viele Männer sind ‚Dramaqueens‘ und kommen damit durch“

Spielchen, große Emotionen und Lästereien: Der ForscherScott Frankowski über das Bedürfnis nach Dramatik

Herr Frankowski, Sie haben einen Fragebogen zum „Bedürfnis nach Drama“ entwickelt. Wofür steht dieser Begriff?

Es handelt sich um eine Persönlichkeitseigenschaft, einen Hang zu Dramatik im eher negativen Sinne. In unseren Studien haben wir drei Faktoren ermittelt, die Personen mit einem starken Bedürfnis nach Drama kennzeichnen: Sie verhalten sich gegenüber anderen manipulativ, das messen wir beispielsweise mit dem Satz: „Ich sage oder tue Dinge, um zu sehen, wie andere reagieren.“ Sie sind auf eine impulsive Art und Weise freimütig, wofür etwa die Zustimmung zu „Es fällt mir schwer, meine Meinung zurückzuhalten“ ein Exempel darstellt. Und sie sehen sich selbst stets als Opfer. „Leute reden häufig hinter meinem Rücken über mich“ ist eine Aussage, mit der wir diesen Faktor erheben.

Können Sie die drei Verhaltensweisen genauer illustrieren?

Dafür drängt sich Donald Trump geradezu als Paradebeispiel auf. Täglich versucht er, die Öffentlichkeit im Sinne seiner eigenen Ziele zu manipulieren, sei es durch Übertreibungen, Stimmungsmache oder Lügen. Impulsive Freimütigkeit bedeutet, dass man die eigenen Ansichten ungehemmt und unangemessen äußert, ohne Konsequenzen zu berücksichtigen. Bei Trump mündet dies ins sogenannte oversharing: Man stellt Dinge in den sozialen Medien zur Schau, die man vielleicht besser für sich behalten sollte. Zum Beispiel Beleidigungen gegen Staatsoberhäupter. Menschen mit einem starken Bedürfnis nach Drama haben das Gefühl, immerzu in der Opferrolle zu sein. Trump inszeniert sich nicht nur persönlich, sondern auch stellvertretend für die USA als Opfer von Journalisten, Feministen und ausländischen Unternehmen. Er will das Gefühl vermitteln: Wir sind die Guten und diejenigen, die arm dran sind.

Rechtfertigt dieses Gefühl nicht wiederum Manipulation und verbale Attacken?

Genau darin liegt das Problem: Menschen mit einem starken Bedürfnis nach Drama verhalten sich aus ihrer Selbstwahrnehmung als Opfer heraus oft destruktiv. Sie lästern auf der Arbeit, entfachen Familienkonflikte und provozieren ihren Partner oder ihre Partnerin. Dafür büßen sie letztlich oft selbst und fragen sich dann: „Warum immer ich?“ Ein Teufelskreis, bei dem das Opfergefühl zur selbsterfüllenden Prophezeiung wird.

Wenn das Bedürfnis nach Drama so belastend ist, wie lässt es sich dann von einer psychischen Störung abgrenzen?

Wir haben unsere Skala mit dem Ziel entwickelt, dramatisch-manipulatives Verhalten im Normbereich zu erfassen. Aus unseren Analysen geht hervor, dass sich das Bedürfnis nach Drama von Persönlichkeitsstörungen abgrenzen lässt. Personen, die hohe Werte darauf erzielen, erleben vielleicht mehr Konflikte im Alltag, aber in der Regel keinen immensen Leidensdruck. Sie neigen nicht zu sexuell-verführerischem Auftreten, das mit histrionischen Zügen in Verbindung gebracht wird, oder zu selbstschädigendem Verhalten, das häufig bei der Borderlinepersönlichkeitsstörung auftritt. Interessanterweise hängt das Bedürfnis nach Drama mit nichtpathologischen Ausprägungen der „dunklen Triade“ zusammen, die aus Psychopathie, Machiavellismus und Narzissmus besteht. Wirtschaftspsychologen haben festgestellt, dass Menschen mit einem starken Bedürfnis nach Drama Produktmarken schlechter bewerten. Wir vermuten, dass dieses Persönlichkeitsmerkmal allgemein mit einer negativeren Sichtweise zusammenhängt.

Bezieht sich diese abwertende Haltung auch auf sich selbst?

In der Tat halten viele Menschen mit einem starken Bedürfnis nach Drama nur wenig von sich. Ein niedriges Selbstwertgefühl geht in der Regel mit einer geringen Selbstwirksamkeit einher, das heißt, man geht davon aus, dass das eigene Handeln keinen großen Einfluss hat. Interessanterweise finden wir diesen Zusammenhang nicht bei Menschen mit einem starken Bedürfnis nach Drama: Obwohl sie sich selbst negativ bewerten, haben sie das Gefühl, etwas bewirken zu können. Möglicherweise verhalten sie sich provokativ, um so ihr niedriges Selbstwertgefühl zu stärken.

Aus Studien geht hervor, dass sich viele Menschen mit zunehmendem Alter mehr zu schätzen lernen. Könnte dies Ihre Beobachtung erklären, dass ältere Menschen ein geringeres Bedürfnis nach Drama haben?

Das ist eine mögliche Interpretation. Aus der aktuellen Forschung geht hervor, dass unsere exekutiven Funktionen – sozusagen die Kontrollzentralen unseres Denkens und Handelns – bis ins mittlere Erwachsenenalter reifen. Meiner Einschätzung nach ist eine bessere Impulskontrolle im Altersverlauf mit da­ran beteiligt, dass unser Bedürfnis nach Drama sinkt. Insgesamt gehe ich davon aus, dass diese Persönlichkeitseigenschaft eher etwas mit dem Alter als mit der Generationenzugehörigkeit zu tun hat. Um solche Fragen zu klären, benötigen wir jedoch umfassendere längsschnittliche Daten.

Das Geschlecht spielt zur Überraschung vieler anscheinend keine Rolle. Mit einer Ausnahme: In Ihren Daten weisen Männer im Vergleich zu Frauen höhere Werte bei der zwischenmenschlichen Manipulation auf.

Mich hat dies keineswegs überrascht. Schon lange beobachte ich, dass sich viele Männer so verhalten, wie es meist nur Frauen nachgesagt wird: Sie lästern, sind emotional, defensiv und manipulativ. Unsere Gesellschaft lässt sich womöglich davon blenden, dass Männer dabei tendenziell unverhohlener auftreten, sei es in Form verbaler oder physischer Aggression. Dahinter kann auch ein Bedürfnis nach Drama stecken, das sicherlich oft übersehen wird. Wir haben unsere Probanden gebeten, eine Person aus ihrem Umfeld zu beschreiben, die ein starkes Bedürfnis nach Drama hat. In 80 Prozent der Fälle wurden Frauen genannt. Das hat mich schockiert, denn unsere Ergebnisse zeigen: Viele Männer sind „Dramaqueens“ und kommen damit durch.

Welche Konsequenzen hat es, wenn wir das Bedürfnis nach Drama nur bei Frauen als solches interpretieren?

Diese Verhaltensweisen so einseitig wahrzunehmen und zu pathologisieren diskreditiert Frauen, vor allem im Beruf. Zu diesem Ergebnis bin ich in einer weiteren Studie gekommen. Dort sollten die Teilnehmenden fiktive Personen bewerten, die eine Position im Management anstrebten. Mal handelte es sich um einen Mann, mal um eine Frau. Wir haben diesen Personen verschiedene negative Verhaltensmuster zugeschrieben, etwa Zuspätkommen oder Plaudern während der Arbeitszeit. Dafür kassierten männliche und weibliche Anwärter ähnliche Minuspunkte. Anders war es bei einem starken Bedürfnis nach Drama. Hier wurde der Bewerberin deutlich weniger Führungskompetenz zugesprochen als dem Bewerber, der dieselben Verhaltensweisen zeigte.

Wie kann man sich dagegen wehren, dass mit ungleichen Maßstäben gemessen wird?

Ich denke, wir sollten Männern genauso wie Frauen den Spiegel vorhalten, manipulatives, unangemesse­nes Verhalten stets als das benennen, was es ist. Aber das wäre vielleicht auch etwas dramatisch.

Scott Frankowski ist Dozent an der Midwestern State University in Texas. Der Schwerpunkt seiner Forschung liegt im Bereich der Genderpsychologie, wobei er die Rolle von Geschlechter­stereotypen untersucht

Zum Weiterlesen

John Oldham, Lois Morris: Ihr Persönlichkeits-Portrait. Warum Sie genauso denken, lieben und sich verhalten, wie Sie es tun. Westarp, Hohenwarsleben 2017

Rolf Dieter Trautmann: Behaviorale Ego-State-Therapie bei Persönlichkeitsstörungen. Klett-Cotta, Stuttgart 2017

Michael Zaudig: Entwicklung des Hysteriekonzepts und Diagnostik in ICD und DSM bis DSM-5. Psychotherapie, 20/1, 2015, 27–49

Quellen:

Peter Fiedler: Zukünftig keine Histrionische Persönlichkeitsstörung mehr? Ein kritischer Blick auf das Alternativ-Modell des DSM-5. Persönlichkeitsstörungen, Theorie und Therapie, 20/3, 2016, 182­190.

Scott Frankowski u.a.: Developing and Testing a scale to Measure Need for Drama. Personality and Individual Differences, 89, 2016, 192201.

John Oldham, Lois Morris: Ihr Persönlichkeits-Portrait: Warum Sie genau so denken, lieben und sich verhalten, wie Sie es tun. Westarp-Verlag, Magdeburg 2017

Karl-Heinz Renner u.a.: Doing as if: The histrionic self-presentation style. Journal of Research in Personality, 42/5, 2008, 13031322.

Rainer Sachse u.a.: Klärungsorientiere Psychotherapie der histrionischen Persönlichkeitsstörung. Hogrefe, Göttingen 2012

Rolf-Dieter Trautmann: Behaviorale Ego-State-Therapie bei Persönlichkeitsstörungen. Klett-Cotta, Stuttgart 2017

Michael Zaudig: Entwicklung des Hysteriekonzepts und Diagnostik in ICD und DSM bis DSM-5. Psychotherapie, 20/1, 2015, 2749

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2020: Persönlichkeit: Histrionisch