In unserer Rubrik „Ist das was für mich?“ stellen wir jeden Monat ein Angebot aus den Bereichen Therapie, Coaching oder Beratung vor. Und Sie können entscheiden, ob das etwas für Sie ist. Dieses Mal: Würdezentrierte Therapie.
Das sagt der Teilnehmer
2012 bekam ich die Diagnose Retinitis pigmentosa. Das ist eine Augenkrankheit, die dazu geführt hat, dass ich heute nahezu blind bin. 2015 wurde bei mir multiple Sklerose festgestellt. Sie hat mich in den Rollstuhl gebracht und verursacht mir manchmal starke…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
mir multiple Sklerose festgestellt. Sie hat mich in den Rollstuhl gebracht und verursacht mir manchmal starke Schmerzen. Ich bin heute 33 Jahre alt.
Dass ich eine würdezentrierte Therapie machen konnte, entsprang dem Zufall. Nachdem ich die Diagnosen erhalten hatte, war ich eine Weile wirklich am Ende. Weil ich so schwer und unheilbar erkrankt war, konnte ich die Gesprächsangebote eines ambulanten Hospizdienstes in Anspruch nehmen. Bei diesen Gesprächen habe ich viel aus meinem Leben erzählt. Irgendwann wies mich der Seelsorger darauf hin, dass es eine Möglichkeit gibt, diese Erzählungen im Rahmen einer würdezentrierten Therapie in einer Art kleinem Buch festzuhalten. Ich fand das spannend, ich wollte gern so etwas hinterlassen.
Eine speziell dafür ausgebildete Hospizarbeiterin ist für unser erstes Gespräch zu mir nach Hause gekommen. Sie hat mir Fragen zu meiner Lebensgeschichte gestellt, zu Dingen, die mir in Erinnerung geblieben sind, die ich gern noch loswerden will, und meine Antworten aufgenommen. Ich bin dabei ziemlich ins Stocken geraten und hatte Scheu davor, einige Situationen anzusprechen; ich wollte nicht alles offenbaren.
Nach dem ersten Gespräch war ich unzufrieden und habe bereut, so wenig von mir preisgegeben zu haben. Ich dachte dann: „Nein, mein Leben war so, wie es war, und ich werde genauso davon berichten.“ Also haben wir uns zu einem zweiten Termin verabredet, und da habe ich alles erzählt.
Ich habe in meinem Leben einige Schicksalsschläge erlebt, auch schon vor meinen Erkrankungen. In der Schule wurde ich gemobbt, bin später oft an die falschen Leute geraten. Das Dokument, das erstellt werden sollte, ist für meine Eltern, vor allem aber für meine Schwester und meinen Neffen bestimmt. Ich wollte ihnen sagen, wie wichtig sie mir sind und wie viel sie mir bedeuten, und ihnen mitgeben, was ich erlebt habe, damit sie aus meinen Erfahrungen und Fehlern lernen können.
Die Hospizarbeiterin hat aus meinen Antworten einen Text erstellt, den sie mir bei unserem dritten Treffen vorgelesen hat. Ich musste erst mal ziemlich schlucken. Es ist ein eigenartiges Gefühl, wenn jemand anderes die eigene Lebensgeschichte Schwarz auf Weiß in den Händen hält und einem vorträgt. Gleichzeitig war es befreiend. Ich war stolz auf mich, dass ich es geschafft hatte, all das zu erzählen.
Die würdezentrierte Therapie hat mir nicht nur geholfen, all diese Dinge einmal auszusprechen, sondern auch, eine neue Perspektive auf mein Leben zu gewinnen. Ich habe mich immer für einen Sonderling, einen Außenseiter gehalten und hatte oft mit Minderwertigkeitsgefühlen zu kämpfen. Doch der Rückblick auf mein Leben hat mir gezeigt, dass es nicht so einseitig war. Ich habe durch diese Zusammenfassung all das Positive gesehen, die Kämpfe, die ich überstanden habe, die mich zu dem Menschen gemacht haben, der ich heute bin. Ich denke jetzt: Ich bin einfach meinen eigenen Weg gegangen und die anderen eben ihren.
Die Hospizarbeiterin hat den Text gedruckt und in einem kleinen Buch gebunden, das sie mir dann übergeben hat. Seit ich weiß, dass es dieses Buch gibt, in dem all das festgehalten ist, geht es mir besser. Klar, an meiner Erkrankung ändert sich dadurch nichts, die kann ich nicht leugnen. Aber ich habe unter anderem dadurch ein Stück weit meinen Lebenswillen zurückgewonnen. Inzwischen versuche ich, jeden Tag mit meiner Familie zu genießen.
Christian Drost hat Anfang 2024 eine Würdezentrierte Therapie gemacht.
Das sagt eine Behandlerin
Wir wissen alle, dass wir irgendwann sterben werden. Aber im Alltag sind wir ganz gut darin, das zu verdrängen. Eine lebensbedrohliche Diagnose leitet einen Transformationsprozess ein: Aus dem Sterbewissen wird ein Sterbebewusstsein. Auf einmal müssen wir uns mit dem eigenen Tod auseinandersetzen. Die würdezentrierte Therapie versucht, Hoffnung zu stärken, Sinn zu stiften und auch das Thema Vermächtnis anzugehen. Die Idee ist, zu fragen: Was macht mich aus? Worauf bin ich stolz? Was möchte ich meinen Liebsten mitgeben? Und all diese Dinge in einem Dokument festzuhalten, das Nahestehenden vermacht wird.
Die Intervention richtet sich an Menschen mit einer lebenslimitierenden Erkrankung. Entwickelt wurde sie in der Arbeit mit Krebspatientinnen und -patienten, die eine Lebenserwartung von maximal zwölf Monaten hatten. Aber sie ist auf keine bestimmte Diagnose beschränkt, auch bei Menschen mit Herz-, Lungen- oder neurologischen Erkrankungen wird sie inzwischen angewendet. Sie sollte nicht zum Einsatz kommen, wenn die Lebenserwartung weniger als zwei Wochen beträgt oder zu starke kognitive oder körperliche Einschränkungen vorliegen.
Im Kern besteht das Verfahren aus zwei Sitzungen: einem therapeutischen Interview und einer Vorlesesitzung. Beim Interview kläre ich mit dem Patienten als Erstes, für wen das Dokument bestimmt ist. Oft sind es die Kinder, die Partnerin oder der Partner. Dann tauchen wir gemeinsam in die Lebensgeschichte, Erinnerungen und Reflexionen ein. Dafür gibt es einen Fragenkatalog. Nicht jede Frage muss gestellt werden, aber die Einstiegsfrage ist immer gleich: Wann haben Sie sich besonders lebendig gefühlt?
Das Interview ist ressourcenorientiert, es lenkt den Blick auf das Positive. Natürlich bleibt da auch Raum für die Rückschläge und Einschnitte im Leben, aber es gibt keine Fragen wie: Was bereuen Sie am meisten? Oder: Was hätten Sie gern anders gemacht?
Die Antworten bearbeite ich und erstelle daraus einen Text, den ich der Patientin in der zweiten Sitzung vorlese. Wer schwer erkrankt ist, wird häufig nur noch im Lichte seiner Krankheit wahrgenommen. Beim Vorlesen ist es, als würde man den Menschen die Möglichkeit geben, wieder zu sehen, was sie sind, wer sie sind, wie schön sie sind. Die Patienten sind währenddessen oft ganz in ihrer Geschichte, erleben alles noch einmal mit, lachen und weinen. Für viele ist das eine unglaublich stärkende Erfahrung.
Auf einer pragmatischen Ebene dient das Vorlesen der Korrektur. Und am Ende ist das Dokument ja auch für andere Personen bestimmt. Als Behandlerin muss ich das jederzeit mitdenken. Gab es Streitigkeiten oder ungeklärte Konflikte innerhalb der Familie? Es ist wichtig, möglicherweise verletzenden Aussagen mit Verantwortung und Sorge zu begegnen.
Sandra Mai ist Fachpsychologin für Palliative Care (BDP-DGP) in der Interdisziplinären Abteilung für Palliativmedizin der Universitätsmedizin Mainz.
Das sind die Fakten
Was ist das für ein Angebot?
Die dignity therapy wurde von dem kanadischen Psychiatrieprofessor Harvey Max Chochinov für Menschen mit einer unheilbaren, zum Tod führenden Erkrankung entwickelt. Grundlage ist ein Würdemodell, das zwischen krankheitsbezogenen Belangen, würdebezogenen Ressourcen und sozialer Würde unterscheidet. Die Kurzintervention besteht in der Regel aus zwei bis drei Sitzungen. Am Ende steht ein sogenanntes „Generativitätsdokument“, eine Art Kurzbiografie, die nahestehenden Personen in gedruckter und gebundener Form vermacht wird.
Was kostet die Teilnahme?
Die Intervention wird in vielen Einrichtungen der Hospiz- und Palliativversorgung kostenlos angeboten. Freie Anbieter verlangen Summen in unterschiedlicher Höhe. Für das ungeschützte Verfahren gibt es keinen bindenden Ausbildungsstandard. Vorgesehen ist jedoch eine Weiterbildung für Personen, die haupt- oder ehrenamtlich mit schwerstkranken Menschen arbeiten. Neben Palliativpsychologinnen können sich also zum Beispiel auch Hospizarbeiter oder medizinisches Fachpersonal entsprechend qualifizieren.
Was sagt die Wissenschaft?
Bei Hospizpatientinnen mit und ohne Krebserkrankung kann die nach Manual durchgeführte würdezentrierte Therapie laut Forschungsergebnissen Gefühle von Angst und Depression mindern sowie Lebensqualität und subjektives Hoffnungsempfinden positiv beeinflussen. Angehörigen hilft das Generativitätsdokument, Abschied zu nehmen und die Trauer zu bewältigen. Die meisten in Studien befragten Hinterbliebenen empfehlen die Intervention, viele sehen sie als gleichwertig wichtigen Teil der Patientenbehandlung insgesamt.
Quellen
Harvey Max Chochinov: Würdezentrierte Therapie. Was bleibt – Erinnerungen am Ende des Lebens. Vandenhoeck & Ruprecht 2017
Harvey Max Chochinov u. a.: Dignity therapy: a novel psychotherapeutic intervention for patients near the end of life. Journal of Clinical Oncology, 23/24, 2005, 5520–5525
Pearl Ed Cuevas u. a.: Dignity therapy for end-of-life care patients: A literature review. Journal of Patient Experience, 8, 2021
Leonor Grijó u. a.: Effects of dignity therapy on palliative patients' family members: A systematic review. Palliativ and Supportive Care, 19/5, 2021, 605–614
Susan McClement u. a.: Dignity therapy: family member perspectives. Journal of Palliative Medicine, 10/5, 2007, 1076–1082
Martina Martínes u. a.: ‚Dignity therapy‘, a promising intervention in palliative care: a comprehensive systematic literature review. Palliative Medicine, 31/6, 2017, 492–509.
Sandra Stephanie Mai u. a.: Feasibility, acceptability and adaption of dignity therapy: a mixed methods study achieving 360° feedback. BMC Palliative Care, 17/73, 2018
Bertha Tesma Wulandari, Erna Rochmatawi: Effectiveness of dignity therapy on well-being among patients under palliative care: A systematic review and meta-analysis. International Journal of Nursing Studies, 149, 2024
Yalin Zhang u. a.: The effectiveness of dignity therapy on hope, quality of life, anxiety, and depression in cancer patients: A meta-analysis of randomized controlled trials. International Journal of Nursing Studies, 132, 2022