Lebensrückblicke: Wofür wir dankbar sein können

Einen wohlwollenden Blick auf die eigene Geschichte fördern: Psychologe Simon Forstmeier erklärt, wie Lebensrückblicke nützlich sein können

Die Illustration zeigt einen Frauenkopf, in dessen Haare verschiedene Symbole sind, zum Beispiel eine Uhr, Gebäude und ein Regenbogen
Eine kurze gedankliche Zeitreise in unsere vergangenen Erfahrungen kann oft schon genügen, uns im Hier und Jetzt zu erden. © Ralf Nietmann für Psychologie Heute

Herr Forstmeier, was genau geschieht bei Lebensrückblickgesprächen?

Es ist eine Methode der Reminiszenz, bei der, ausgelöst durch ganz bestimmte Fragen, persönliche Erinnerungen hervorgerufen werden. Im professionellen Rahmen, also in der Therapie oder Altenpflege, ist das Vorgehen folgendermaßen: In mehreren Sitzungen werden aufeinanderfolgende und bedeutsame Ereignisse durchgesprochen. Dabei wird auf die wichtigsten positiven und negativen Erlebnisse geschaut.

Hilfreich sind Fotos, Tagebücher, Urkunden…

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positiven und negativen Erlebnisse geschaut.

Hilfreich sind Fotos, Tagebücher, Urkunden oder andere wichtige Gegenstände, um alles möglichst lebhaft und detailliert wachzurufen. In diesem Zusammenhang geht es nicht darum, möglichst vieles zu besprechen, was erlebt wurde, sondern sich auf das Bedeutsamste zu besinnen, und zwar möglichst genau.

Auf welche Aspekte kommt es besonders an?

Am wirksamsten sind die Gespräche, wenn sie strukturiert und thematisch durchgeführt werden, also chronologisch der eigenen Biografie folgend: von Kindheit an, über die Jugendzeit zum frühen und späten Erwachsenenalter bis hin zum jetzigen Zeitpunkt. Es sollte dabei eine Balance von negativen und positiven Erinnerungen geben, was gerade bei depressiven Patientinnen und Patienten eine Herausforderung darstellt. In diesem Zusammenhang sind gezielte Fragen notwendig, um auf die gelungenen, erfolgreichen, geglückten Zeiten zu schauen und nicht nur das Belastende zu erinnern.

Was soll damit erreicht werden?

Ziel ist die Veränderung des Erinnerungsstils: Auf dasselbe negative Ereignis kann entweder verbittert oder versöhnlich zurückgeblickt werden und auf dasselbe positive Erlebnis ­ressourcenorientiert oder abwertend. Eine wichtige Technik dafür ist das Reframen, also den Ereignissen eine neue Bedeutung zu verleihen. Ein jegliches Ereignis kann auch anders interpretiert werden, wenn man es neu formuliert oder in einen anderen Kontext stellt. Generell werden persönlich schwierige Ereignisse mit dem Fokus besprochen, wie sie bewältigt wurden und welche Ressourcen und Stärken in diesen Erlebnissen zu finden waren. Das lässt sich dann auch auf die Zukunft anwenden, es geht darum, sich seiner Kompetenzen bewusster zu sein.

Welche Fragen eignen sich dafür?

In der umfangreichen Forschung zu Lebensrückblickgesprächen wurden besonders hilfreiche Fragen zu einzelnen Phasen herausgearbeitet. Zum Beispiel zur Kindheit, unter anderem: Was ist die allerfrüheste Erinnerung? Haben Sie sich als Kind umsorgt gefühlt? Wurde Ihnen die Möglichkeit gegeben, eigene Entscheidungen zu treffen? Aber auch auf den Gesamtzusammenhang bezogen: Wenn Sie Ihre eigene Geschichte als Ganzes betrachten, wie war sie? Was waren für Sie die drei größten Befriedigungen? Haben Sie so gelebt, wie Sie es sich erhofft hatten? Sind Sie mit Ihren Entscheidungen zufrieden?

Worin unterscheiden sich Lebensrückblickgespräche von der Biografiearbeit?

Biografiearbeit bezeichnet eine persönliche Rückschau ohne psychotherapeutischen Anspruch. Da liegt der Fokus auf den Umbrüchen, und der Blick auf die Vergangenheit dient der Selbsterkenntnis, um die eigene Geschichte zu rekonstruieren. Ziel ist, sich für die aktuelle Phase neue Anregungen für die aktive Gestaltung zu überlegen. Im Vergleich zum einfachen Erinnern, wo es hauptsächlich um das Zusammentragen und Austauschen von punktuellen vergangenen Momenten geht, ist die biografische Rückschau zielgerichteter und chronologischer. Bei den Lebensrückblickgesprächen geht es tiefer. Das Ziel ist die Aufarbeitung aus psychologischer Sicht.

Ist es so, dass wir im Alter positiver auf die Vergangenheit blicken als in jüngeren Jahren?

Ja, meistens schon, obwohl es nicht für jeden von uns zutrifft. Repräsentative Stichproben, nicht nur bei depressiven Menschen, haben zu dem Ergebnis geführt, dass sich im höheren Alter die Neigung verstärkt, eher positiv zurückzublicken. Wir Wissenschaftler nennen das den Positivitätseffekt. Das liegt daran, dass ältere Erwachsene dazu tendieren, affektive Reaktionen auf negative Ereignisse und Situationen selbst herunterzuregulieren.

Dadurch werden sie ausgeglichener und regen sich nicht mehr über jede Kleinigkeit auf beziehungsweise denken nicht so intensiv über negative Erlebnisse nach – über positive dagegen schon. Denn das Herunterregulieren lässt die positiven Stimuli weitestgehend unangetastet.

Der Schwerpunkt Ihrer Arbeit sind rückblickende Gespräche im Alter, doch es ist nicht nur mit 75, sondern auch mit 25 wichtig, aus dem eigenen Leben zu erzählen!

Ja, das stimmt. Wir erinnern uns an Erlebnisse bereits in der Kindheit, meistens beginnend mit vier Jahren, und natürlich bis ins hohe Alter. Eine Voraussetzung dafür ist, dass die Gehirnstrukturen, die dem autobiografischen Gedächtnis zugrunde liegen, ausgebildet sind. Das ist der Zeitpunkt, wo sich ein Kind als Persönlichkeit wahrnimmt.

Zehnjährige blicken übrigens auf Erlebnisse genauso häufig zurück wie die Erwachsenen. Jugendliche und junge Erwachsene erinnern sich stärker an identitätsbezogene Themen, weil das in dieser Zeit wichtig ist. Ältere Menschen blicken häufiger zurück, um anderen ihr Wissen und ihre Erfahrungen weiterzugeben. Und was auch festgestellt wurde: Kurz vor dem Tod – das können Tage, Wochen, manchmal Monate sein, das ist unterschiedlich, denn der eigene Tod kündigt sich manchmal lange, manchmal gar nicht an – gibt es eine leichte Zunahme der Erinnerungsaktivität. Das heißt, die meisten beschäftigen sich häufiger als bisher mit der eigenen Vergangenheit.

Können Sie ein Beispiel nennen, in der ein und dieselbe Situation Jahrzehnte später anders eingeordnet und bewertet wurde?

Da kann ich etwas aus meiner Praxis erzählen: Ein Mann machte sich Vorwürfe, dass er früher ein schlechter Vater war. Seine Frau war früh verstorben, er blieb alleinerziehend, während die Kinder klein und später Jugendliche waren, und kam als Alleinverdiener erst spät am Nachmittag von der Arbeit nach Hause. Die Söhne hatten einen Schlüssel für die Wohnung, machten sich selbst etwas zu essen und vermissten den Vater öfter, vor allem wenn sie Fußballturniere hatten und der Vater nicht kommen konnte. Den Mann plagten noch Jahre später Schuldgefühle.

Ich bot ihm eine andere Sicht an: „Sie konnten für die Situation als alleinerziehender Vater rein gar nichts, aber haben dennoch ganz viel in das Leben Ihrer Kinder investiert. Zum Beispiel haben Sie mir erzählt, dass Sie am Abend Zeit mit Ihren Söhnen verbrachten, um beim Abendbrot über die Erlebnisse des Tages zu sprechen, und danach ­haben Sie noch die Hausaufgaben kontrolliert. Das schaffen nicht viele alleinerziehende Eltern. Und denken Sie auch daran, dass Sie Ihren Kindern durch Ihre Arbeit eine gute Ausbildung und das Studium ermöglicht haben. Ich finde, Sie ­können wirklich stolz darauf sein, was Sie an Liebe und Fürsorge in Ihre Kinder gelegt haben. Und dass Sie heute noch eine gute Beziehung zu ihnen haben, ist auch ein Beleg dafür.“

Warum stellen wir in rückblickenden Erzählungen vor allem Extreme in den Vordergrund, positive wie negative?

Unser Gedächtnis funktioniert so, dass besondere Erlebnisse besser erinnert werden. Das trifft besonders auf die identitätsbezogenen zu, vor allem Ereignisse die etwas darüber aussagen, wie ich zu dem geworden bin, der ich bin. Geschehnisse, die sich wiederholen, weil sie Teil der Alltagsroutine waren, stechen nicht so hervor.

Menschen mit einer depressiven Störung neigen dazu, eher Negatives zu erzählen. Das nennt man Stimmungskongruenz. Deshalb sollen die Gespräche dazu dienen, gezielt nach positiven Erinnerungen zu fragen, wenn sie nicht selbst erzählt werden. Das ist wichtig für eine ausgeglichene Bilanz.

Was hat es für Folgen, wenn man eigene Erinnerungen „frisiert“ oder verdrängt, weil man etwas sehr Schlimmes oder Belastendes erlebt hat?

Was wir im Gedächtnis behalten, entspricht ja ohnehin kaum der einstigen Realität, schon allein deshalb nicht, weil ein Ereignis aus der ganz persönlichen Perspektive erlebt und abgespeichert wird. So kann ein Kind auf ein und dasselbe Familienereignis anders als seine Geschwister zurückblicken und jeder Bruder, jede Schwester hat recht beziehungsweise niemand von ihnen lügt.

Wenn wir uns heute etwas berichten, was wir erlebt haben, rekonstruieren wir dieses Ereignis. Und wenn wir es wiederholt erzählen, lassen wir Kleinigkeiten weg, betonen andere Details, strukturieren die Reihenfolge, um es erzählbarer zu machen. Das sollte man sich bewusstmachen, denn es geht beim Rückblick um subjektiv bedeutsame Erlebnisse und deren Interpretation.

Wie ist das bei Menschen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung?

Es gibt natürlich den Fall, dass man etwas Unerträgliches, Schmerzhaftes oder die schlimmsten Momente davon verdrängt. Bei einer posttraumatischen Belastungsstörung kann es zur Symptomatik gehören, dass sich der Patient an manche Details des traumatischen Erlebnisses nicht erinnern kann, häufig sind das die heftigsten Momente, die sogenannten Hotspots, die mit Todesangst verbunden waren. Dies kann zu einem bewussten Vermeiden führen, kann aber auch an einem fragmentierten Traumagedächtnis liegen. Ein schlimmes Ereignis wird dann nicht „ordentlich“ im Gedächtnis abgelegt, sondern zerstückelt und zerrissen.

In der Traumatherapie, die man gut mit einem Lebensrückblick kombinieren kann, werden die Fragmente zusammengetragen und zu einer erinnerbaren Geschichte verbunden. Ein somit rekonstruiertes Traumanarrativ wird dann in die Biografie integriert. Dadurch werden Gedanken und Gefühle festgehalten. Integrieren bedeutet in diesem Fall, dass ein schlimmes Ereignis nicht positiv betrachtet, sondern zum Teil des Lebens wird. Es bedeutet, dass ich es so akzeptiere, wie es eben war und ist. Das gelingt sicher nicht jedem vollständig.

Welche Erinnerungsstile gibt es eigentlich?

Sehr viele. Ich werde Ihnen einige nennen, zum Beispiel das integrative Erinnern: Es beinhaltet das Reflektieren uber vergangene Erlebnisse, die eine positive Wahrnehmung der eigenen Person und Identität stärken. Das können prägende positive oder negative Erfahrungen sein, die dazu beitrugen, die Person zu werden, die man heute ist. Dabei soll es gelingen, auf negative Erlebnisse versöhnlich zuruckzublicken.

Dann das instrumentelle Erinnern: Dabei wird auf zurückliegende herausfordernde Zeiten oder Probleme geschaut, um sich einstige Bewältigungsstrategien und Lösungserfolge zu vergegenwärtigen. Das hilft häufig bei der Bewältigung aktueller Probleme.

Ich kann noch die Intimitäts-Aufrechterhaltung nennen: Diese Funktion dient dazu, wichtige Personen im Bewusstsein zu halten, die durch Trennung oder Tod nicht mehr Teil des Lebens sind.

Schließlich das narrative Erinnern: Hierbei werden neue Bekanntschaften gemacht oder alte Beziehungen vertieft und Erlebnisse aus der Vergangenheit geteilt. Das geschieht oft in kleineren Episoden.

Das sind alles positive Erinnerungsstile, welche sind die eher belastenden?

Unter einen negativen Rückblick fällt vor allem das obsessive Erinnern: Über emotional schmerzhafte Ereignisse wird gegrübelt, wobei es dem Betroffenen schwerfällt, sich davon gedanklich zu lösen. Wer häufig obsessiv erinnert, hält unangenehme Erfahrungen frisch, was dafür spricht, dass sie nicht verarbeitet wurden.

Wie lässt sich ein positiver Blick auf die Vergangenheit fördern?

Wie bereits angedeutet: Eine wichtige Gesprächstechnik ist das Reframing, um eine verbitterte Rückschau zu reduzieren und einen integrativen Erinnerungsstil zu fördern. Hierbei soll wertschätzend und dankbar auf positive Erlebnisse geschaut und versucht werden, sich mit den negativen zu versöhnen.

Bei den Lebensrückblickgesprächen wird also gezielt nach Bewältigungserlebnissen und persönlichen Stärken gefragt, um Ressourcen zu aktivieren, die in der Gegenwart, im Hier und Jetzt genutzt werden können. Dabei ist eine ausgewogene Mischung an positiven und negativen Erinnerungen anzustreben. Doch es gibt auch das fokussierte Vorgehen, wobei ein positives Thema herausgegriffen und entlang der chronologischen Biografie rekonstruiert wird. Als positive Themen eignen sich besonders Dankbarkeit, Freude und Bewältigungserfahrungen.

Können Sie das näher erläutern?

Bei einem Dankbarkeits-Lebensruckblick werden die entsprechenden Erinnerungen nacheinander durchlaufen, mit der Frage, wofur man dankbar sein kann, um positive Aspekte der Vergangenheit zu aktivieren. Beim Freuden-Lebens­ruckblick geht es um Erlebnisse, in denen Freude empfunden wurde. Die Schweizer Psychoanalytikerin Verena Kast prägte dafür den Begriff „Selbstansteckung mit Freude“.

Es gibt weiterhin den Bewältigungs-Lebensruckblick mit Schwerpunkt auf der Bewältigung von Problemen und bisherigen Herausforderungen. Dazu dienen Fragen wie: Sind Sie in einer großen Familie aufgewachsen? Das kann eine Herausforderung sein. Und wenn ja: Wie haben Sie das Beste daraus gemacht? Oder: Welche Schwierigkeiten gab es zu Beginn Ihrer Ehe und wie haben Sie gelernt, mit all den Unterschieden und Konflikten umzugehen? Bei jeder Herausforderung wird möglichst im Detail besprochen, wie sie gemeistert wurde und welche Lektion daraus gezogen werden konnte. Dann geht es daran, die persönlichen Stärken und Ressourcen herauszuarbeiten.

Sie plädieren für das Erstellen eines persönlichen Lebensbuches. Was sollte darin festgehalten werden und mit welchem Ziel?

Ein Lebensbuch kann am Ende einer therapeutischen Begleitung erstellt werden. Es kann ein edles Notizbuch sein, aber auch ein einfacher Schnellhefter, in dem die wichtigsten Erinnerungen und Erkenntnisse der entsprechenden Jahre auf einer Seite festgehalten sind: eine entsprechende Überschrift, ein kleiner Text, illustriert mit Fotos, Zeichnungen, Collagen, die alle unterstreichen, was an dem entsprechenden Ereignis besonders und bedeutsam war.

Außerdem lassen sich Listen von Hobbys oder Lieblingsaktivitäten aus der Zeit hinzufügen – mit der Überlegung und Erläuterung, was es damals zu bewältigen gab. Ziel ist, etwas in der Hand zu haben, das die eigenen wichtigsten Erlebnisse und Erfahrungen betrifft. Es sollte aufschlussreich und schön gestaltet sein, so dass man es immer wieder gern zur Hand nimmt, darin liest und sich erfreut.

Simon Forstmeier ist Professor für Entwicklungspsychologie und klinische Psychologie der Lebensspanne an der Universität Siegen.

Gedächtnis ist die Fähigkeit, Erlerntes und Erlebtes abzuspeichern und später im Bewusstsein wieder zu rekonstruieren. Die entstandene Verknüpfung der Nervenzellen verändert sich zeit des Lebens. Das Erinnerungsvermögen umfasst das Ultrakurzzeitgedächtnis, das Kurzzeitgedächtnis und das Langzeitgedächtnis. Emotionen sorgen dafür, sich besonders lange an etwas zu erinnern, zum Beispiel an die erste Liebe. Ohne Gedächtnis wären wir nicht handlungsfähig.

Zum Weiterlesen

Hariet Kirschner, Simon Forstmeier, Bernhard Strauß: Das Lebensrückblickgespräch. Hintergründe, Wirkungsweise und praktische Anleitung. Psychosozial-Verlag 2022

Website zur Erinnerungsarbeit: Eine fragengeleitete Reflexion der eigenen Biografie für Menschen ab 65 Jahren, entwickelt am Universitätsklinikum Jena. (lebensrueckblick.com)

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 8/2023: Das ewig hilfreiche Kind