Mythos Gehirndoping

Seit etwa zehn Jahren wird über „Gehirndoping“ gestritten: Lassen sich kognitive Leistungen wirklich durch pharmazeutische Nachhilfen verbessern?

Eine Reihe von Ethikern vertritt in der Gehirndopingdiskussion in etwa folgende Position:

Bereits 25 Prozent der Studierenden in den USA nutzen Psychopharmaka zur geistigen Leistungssteigerung. Diese Medikamente werden die Lebensqualität und Produktivität der Menschen verbessern. Es geschieht bereits jetzt und lässt sich nicht verhindern. Daher sollte die Gesellschaft den Nutzen maximieren und auf keinen Fall mit einem allgemeinen Verbot reagieren.

Es sind vor allem Vertreter von Eliteuniversitäten wie…

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sind vor allem Vertreter von Eliteuniversitäten wie Stanford, Harvard oder Cambridge, die das Hohelied von der pharmakologischen Verbesserung des Menschen singen. Der Tenor lautet: Wir investieren schon so viel in die Schul- und Hochschulbildung, wieso also vor Medikamenten zurückschrecken, die der Leistungsfähigkeit noch ein wenig auf die Sprünge helfen? Auch durch den Verweis auf Kosten-Nutzen-Abwägungen und die gebetsmühlenartig wiederholte Forderung nach mehr Forschung werden Einwände relativiert. In Deutschland sind einige Experten diesem Vorbild gefolgt und haben damit bisher zwar noch nicht den Menschen, wohl aber ihre Forschungsgelder und Publikationslisten optimiert.

Das Hauptproblem dieser Debatte ist, dass sie Erfahrungen im Umgang mit leistungssteigernden Substanzen aus der Vergangenheit ignoriert, die Verbreitung des Gehirndopings in der Gegenwart übertreibt und unrealistische Erwartungen für die nahe Zukunft weckt. Anstatt auf die Probleme hinzuweisen, die der steigende Konkurrenzdruck in unserer Gesellschaft hervorbringt, werden die Konsumenten von Stimulanzien wie Amphetamin oder Methylphenidat zu einer Avantgarde stilisiert. Dabei setzen diese Menschen für einen nach wie vor ungeklärten Nutzen ihre psychische wie physische Gesundheit aufs Spiel. Als gesellschaftliches Rollenmodell kann dies kaum taugen.

Zitierte Zahlen oft zu hoch

Stimmt es überhaupt, dass „hirnleistungssteigernde“ Medikamente massenhaft konsumiert werden? Die etwa dreißig Untersuchungen, die es zur Häufigkeit des Gehirndopings vor allem an nordamerikanischen Schulen und Hochschulen gibt, ergeben kein deutliches Bild. So unterscheiden die meisten Studien gar nicht zwischen dem Konsum von Medikamenten zur Leistungssteigerung, als Diätpille oder Rauschmittel. Dennoch werden irreal hohe Zahlen immer wieder zitiert, um damit eine zunehmende Bedeutung des Gehirndopings für die Gesellschaft zu suggerieren.

Ein weit weniger alarmierendes Bild zeichnet allerdings die bisher am größten angelegte Untersuchung zur Verbreitung verschreibungspflichtiger Stimulanzien an US-Hochschulen, die 2005 publizierte Studie von Sean McCabe und Kollegen von der University of Michigan. Von den knapp 11 000 befragten Studierenden gaben 2,1 Prozent an, im letzten Monat solche Medikamente mindestens einmal aus nichtmedizinischen Gründen konsumiert zu haben. Für das gesamte Jahr vor der Befragung waren es 4,1 Prozent.

Der Konsum verschreibungspflichtiger Stimulanzien steht offenbar im Zusammenhang mit dem Wettbewerbsdruck an der Hochschule und dem Notendurchschnitt: Je stärker der Wettbewerbsdruck empfunden wurde und je schlechter die Noten waren, desto eher griffen die Studenten zu Stimulanzien.

Unter den 119 Colleges und Universitäten, die in die Untersuchung einbezogen waren, fand sich ein einziger „Ausreißer“, also eine Hochschule, bei der tatsächlich ein Viertel der Studierenden den mindestens einmaligen Gebrauch im Vorjahr angegeben hatte. Bezeichnenderweise richtete sich die öffentliche Aufmerksamkeit fortan auf diesen Ausreißerwert statt auf den statistisch gesicherten Durchschnitt von gerade einmal zwei Prozent „Hirndopern“ unter den Studierenden.

Gehirndoping als Randphänomen

Die für Deutschland vorliegenden Zahlen zeigen ebenfalls, dass es sich beim Gehirndoping eher um ein Randphänomen handelt: Nur etwa ein bis zwei Prozent der Erwerbstätigen greifen regelmäßig bis häufig zu Medikamenten zur Leistungssteigerung oder Stimmungsaufhellung am Arbeitsplatz ohne medizinische Notwendigkeit. Das ergab eine für den DAK-Gesundheitsreport durchgeführte repräsentative Befragung von gut 3000 Erwerbstätigen. Mit 44 Prozent führten Medikamente gegen Angst, Nervosität und Unruhe sowie Antidepressiva mit 35 Prozent die Liste an – nicht etwa die zur Behandlung von Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen (ADHS) verschriebenen Stimulanzien (13 Prozent).

Die Situation an deutschen Schulen und Hochschulen hat eine Forschergruppe um Andreas Franke und Klaus Lieb von der Universitätsklinik Mainz genauer untersucht. Während in vielen Studien nach dem breitgefächerten „nichtmedizinischen Nutzen“ verschreibungspflichtiger Stimulanzien sowie illegaler Drogen gefragt wird, entschieden sich die Mainzer Forscher für eine engere Fragestellung: Sie interessierten sich gezielt für die Verwendung verschreibungspflichtiger Stimulanzien sowie illegaler Drogen zur geistigen Leistungssteigerung – etwa der Verbesserung der Wachsamkeit, der Konzentration oder des Gedächtnisses.

Nach eigenen Angaben haben von den zirka 1500 nichtrepräsentativen Befragten 1,3 Prozent Medikamente und 2,6 Prozent illegale Drogen mindestens einmal im Leben als Gehirndopingmittel gebraucht. Wohlgemerkt: irgendwann in ihrem bisherigen Leben. Für den Vormonat vor der Befragung gaben dies jedoch nur 0,1 Prozent beziehungsweise 0,3 Prozent an. Nur verschwindend wenige Menschen verwenden diese Substanzen also regelmäßig.

Die aktuellsten Zahlen für Deutschland liefert der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Bericht der Hochschul-Informations-System (HIS) GmbH vom Januar 2012. Von den etwa 8000 repräsentativ ausgewählten Teilnehmern gaben fünf Prozent an, seit Studienbeginn schon einmal Gehirndoping betrieben zu haben. Zu den abgefragten Substanzen zählten unter anderem verschreibungspflichtige oder illegale Stimulanzien (Ritalin, Amphetamin, Kokain, Ecstasy), aber auch Betablocker und Cannabis. Der Fokus dieser Untersuchung lag auf der Stressbewältigung und Leistungssteigerung im Studium. Auch hier ist wichtig, nach der Häufigkeit zu unterscheiden: Fast die Hälfte der fünf Prozent griff nämlich nur ganz selten zu diesen Substanzen, während nur 17 Prozent der Verwender – das sind 1 Prozent aller Befragten – zu den häufigen Konsumenten zählten. Nach den eingenommenen Substanzen gefragt, führte Cannabis mit 23 Prozent die Liste an, gefolgt von 18 Prozent für Ritalin, 12 Prozent für Betablocker und 9 Prozent für Amphetamin (Mehrfachnennungen möglich). Immerhin 13 Prozent der Verwender hatten eine ihnen unbekannte Substanz eingenommen.

Verwendete Psychopharmaka sind keine Neuheit

Das heißt: Gehirndoping ist vielen Medienberichten und Expertenmeinungen zum Trotz kein Massenphänomen – mit großer Sicherheit nicht in Deutschland und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch nicht in Nordamerika. Dieser Befund erscheint dann nicht überraschend, wenn man sich die Situation der psychopharmakologischen Forschung allgemein vor Augen führt: Die Substanzen, die in der Gehirndopingdiskussion im Vordergrund stehen, sind meist keine neuentwickelten Mittel, sondern alte Bekannte.

Amphetamin wird seit mehr als einem Jahrhundert erforscht und wurde schon in den 1930er Jahren in Kampfeinsätzen von Soldaten und zur Behandlung von Verhaltensproblemen bei Kindern erprobt. Methylphenidat (Ritalin), eine verwandte Substanz, wurde bereits 1944 von dem Italiener Leandro Panizzon beschrieben und wird seit langem in der Psychiatrie eingesetzt. Wären diese Mittel wirklich die Wunderdrogen, als die sie in der Debatte manchmal stilisiert werden, dann hätte ihre Verbreitung als Gehirndopingmittel sicher nicht bis ins 21. Jahrhundert gedauert.

Die Komplexität der Medikamentenwirkung wird oft unterschätzt. In einer zusammenfassenden Arbeit aus dem Jahr 2005 kommen David Sulzer und Kollegen von der Columbia University in New York zu einem ernüchternden Fazit. Zwar ließen sich dank neuer Technologien nach mehr als hundert Jahren Forschung bessere Hypothesen über die Wirkung von etwa Alkohol oder Amphetamin im Gehirn formulieren, dennoch seien viele alte Fragen zu den Wirkmechanismen nach wie vor nicht geklärt. Trotz intensiver Forschungsbemühungen wissen wir noch relativ wenig über die Langzeitwirkung und -sicherheit der Stimulanzien zur Behandlung von ADHS. Um diese Wissenslücke zu schließen, fordern Pharmakologen mehr Forschungsgeld. Allerdings könnte man es umgekehrt für einen Skandal halten, dass trotz all der Forschung noch keine befriedigenden Antworten vorliegen.

Manche Ethiker bewerten den Stimulanzienkonsum positiv, was angesichts des begrenzten Wissensstands beinahe skrupellos erscheint. Nach der Veröffentlichung des optimistischen Dopingmanifests von Henry Greely und Kollegen von der Stanford University in der angesehenen Fachzeitschrift Nature im Jahr 2008 hagelte es Kritik. So kam es im British Medical Journal zu einem Schlagabtausch zwischen dem Bioethiker John Harris von der University of Manchester, einem der Koautoren des Manifests, und dem Neurologen Anjan Chatterjee von der University of Pennsylvania.

Stimulanzien: schon lange Lifestyledrogen

Für die Sicherheit von Methylphenidat spreche, dass die Substanz häufig als Mittel zur Behandlung von ADHS verschrieben wird und auch in vereinzelten Studien mit gesunden Erwachsenen für zulässig befunden wurde, so Harris. Dem entgegnete Chatterjee, dass die oberste Kontrollbehörde in den USA den Wirkstoff aufgrund seiner ernsthaften Gesundheitsrisiken und seines Abhängigkeitspotenzials erst vor kurzem mit dem schärfsten Warnhinweis versehen hat.

In der Debatte um das Gehirndoping wird gerne vergessen, dass auch bereits früher Stimulanzien weit verbreitet waren, im medizinischen wie nichtmedizinischen Bereich. Einschlägige amerikanische Werbeanzeigen aus den Jahren 1929 bis 1971, die Nicolas Rasmussen von der University of New South Wales in Australien zusammengetragen hat, belegen, dass Stimulanzien schon damals als Lifestyledroge und Gehirndopingmittel verwendet wurden. So sollte Amphetamin beispielsweise nicht nur zur Behandlung von Depressionen geeignet sein, sondern auch Fröhlichkeit, geistige Aufmerksamkeit und sogar Optimismus steigern.

Rasmussen schätzt, dass die Verbreitung von Amphetamin zusammen mit Methylphenidat im frühen 21. Jahrhundert wieder das Niveau der späten 1960er Jahre erreicht hat. Damals konsumierten beispielsweise Lkw-Fahrer Amphetamin, um auf Fernfahrten länger durchzuhalten. Auch in anderen Branchen, selbst in Regierungsbehörden, war die Substanz willkommen. Schließlich wurden im Rahmen der strengen Drogengesetzgebung Richard Nixons starke Kontrollen eingeführt. Wem beispielsweise durch Urintests bei Fernfahrten oder am Arbeitsplatz Rückstände der Substanz nachgewiesen wurden, dem drohten der Verlust seines Arbeitsplatzes und Strafverfolgung.

Man mag vom amerikanischen war on drugs halten, was man will – der Stimulanzienkonsum ist seit Anfang der 1970er Jahre stark zurückgegangen. Erst in den 1990er Jahren wurden wieder größere Mengen von Amphetamin und Methylphenidat produziert. Das veranlasste schon vor 15 Jahren die Weltgesundheitsorganisation, vor dem dramatisch steigenden Ritalinkonsum zu warnen. Trotz solcher Appelle haben sich die jährlichen Produktionsmengen für den darin enthaltenen Wirkstoff Methylphenidat von zirka 1,8 Tonnen im Jahr 1990 auf 56 Tonnen im Jahr 2011 mehr als verdreißigfacht. Der Absatz von Amphetamin ist in diesem Zeit-raum von 417 Kilogramm auf über 28 Tonnen gestiegen, also um das Siebzigfache.

Stressigeres Arbeitsleben als mögliche Ursache

Diesen Unmengen zum Trotz brach Ende 2011 in den USA eine Panik aus, da sich Rezepte für diese Stimulanzien nicht mehr einlösen ließen: Selbst das enorm angestiegene Produktionsniveau reichte nicht mehr, und erst weit im Jahr 2012 kündigte die verantwortliche Kontrollbehörde eine weitere Erhöhung der Produktionsquoten an, um die Knappheit zu beenden. Die Entwicklung ist auch deshalb problematisch, da Rasmussens Schätzungen zufolge etwa zehn Prozent der Konsumenten abhängig werden. Dieses Problem haben die Befürworter des Gehirndopings geschickt ausgeklammert: Indem sie den therapeutischen Einsatz strikt von der Verbesserung „normaler“ Zustände trennen, verschwindet der Medikamentenkonsum vom ethischen Radarschirm, sobald ein Arzt ein Rezept ausstellt. Dass der Hype um das Gehirndoping und die zunehmende Medikalisierung der Bevölkerung womöglich zwei Seiten derselben Medaille sind und dass es soziale Ursachen für diese Phänomene gibt, spielte in der Diskussion bisher kaum eine Rolle.

Eine dieser Ursachen ist der zunehmende Stress am Arbeitsplatz, wie die DAK-Befragung von 2009 zeigt. In der Gruppe der Erwerbstätigen, deren Arbeit durch hohen Stress geprägt ist, gaben 22 Prozent an, dass sie die Verbesserung der Stimmung durch Medikamente zum Ertragen des Arbeitsstresses für vertretbar halten; in der Gruppe derjenigen, die ihre Arbeit überwiegend angenehm und gut zu bewältigen fanden, waren dies nur etwa acht Prozent. Einen noch deutlicheren Zusammenhang ergab die Befragung der HIS GmbH. Unter den Studierenden, die keinen bis geringen Leistungsdruck empfanden, lag der Anteil der zumindest gelegentlichen Konsumenten von „Gehirndopingmitteln“ bei drei Prozent. Bei den Studenten, die sehr starken Leistungsdruck empfanden, betrug er neun Prozent.

Vor diesem Hintergrund erscheinen neuere Hypothesen zur Wirkungsweise der Stimulanzien in einem ganz anderen Licht: Der Pharmakopsychologe Boris Quednow von der Universität Zürich vermutet, dass die Substanzen nicht das Denken, sondern die Motivation verbessern; er spricht daher von einer „sekundären Verbesserung“. Auch der ADHS-Forscher James Swanson verweist darauf, dass die Wirkung der Stimulanzien sowohl über die Steigerung der Motivation als auch die der Aufmerksamkeit funktionieren könnte.

Die experimentellen Befunde zur geistigen Leistungssteigerung sind gerade bei gesunden Versuchspersonen alles andere als eindeutig. Bei langweiligen Aufgaben wie dem Auswendiglernen von Ziffernfolgen finden sich statistisch deutliche, wenn auch kleine Verbesserungen. Bei anderen Aufgaben wie etwa dem Glücksspielexperiment „Iowa Gambling Task“ findet sich kein Unterschied. In komplexeren Aufgaben, bei denen Vorausplanen nötig ist, können die Versuchspersonen durch den Konsum sogar schlechter abschneiden. Eine Erklärung hierfür ist, dass Stimulanzien auch die Impulsivität erhöhen und manche Versuchspersonen dann voreilig reagieren.

Gehirndoping ist für die meisten keine Option

In einigen Studien schätzen Versuchspersonen unter dem Einfluss der Mittel ihre eigene Leistung als besser ein, als sie wirklich war. Thomas Hills und Ralph Hertwig von der Universität Basel wiesen kürzlich noch einmal darauf hin, dass die pharmakologische Verbesserung in einem Bereich wahrscheinlich mit einer Verschlechterung in anderen erkauft wird. Die Annahme „viel hilft viel“ gilt offenbar nicht, wenn es um die Botenstoffe im Gehirn geht. Denn wenn sich die Konzentration bereits auf einem idealen Niveau befinde, dann könnten Steigerungsversuche zum Leistungseinbruch führen.

Vermutlich werden überzeugte Anhänger des Gehirndopings auf neue Substanzen jenseits der Stimulanzien verweisen, wie sie eines Tages womöglich zur Behandlung der geistigen Verschlechterung im Alter entwickelt werden und die dann vielleicht auch Gesunden helfen. Allerdings haben führende Pharmaunternehmen wie Glaxo-SmithKline, Sanofi-Aventis, Pfizer, Lilly, Novartis oder Wyeth kürzlich ihre psychopharmakologischen Labore geschlossen oder deren Schließung angekündigt. Der Grund: Die Entwicklung neuer Medikamente ist in diesem Bereich zu teuer geworden, und große Durchbrüche sind unwahrscheinlich, während die Zulassungsvoraussetzungen und -kosten hier besonders ungünstig sind.

Inzwischen ist fraglich, ob funktionierende Gehirndopingmittel überhaupt auf große Akzeptanz stoßen würden. Für die Mehrheit der befragten Erwerbstätigen der repräsentativen DAK-Studie kam Gehirndoping nicht infrage. Ein ähnliches Bild ergab die repräsentative Studie der HIS GmbH: Für 71 Prozent der Studierenden war Gehirndoping keine Option. Die Zeit ist daher reif, einzugestehen, dass die Versprechen hinsichtlich einer pharmakologischen Leistungssteigerung unrealistisch sind. Stattdessen wäre es lohnend, die gesellschaftliche Dimension ins Blickfeld zu rücken: Warum haben wir überhaupt diese Gehirndopingdebatte, die unter so vielen verkehrten Vorzeichen geführt wird? Wieso ist das Hauptaugenmerk auf die Intelligenzsteigerung gerichtet, wo doch empirisch nachgewiesen ist, dass Intelligenz nur ein Aspekt unter vielen für ein gelingendes Leben ist? Der Leistungsdruck scheint für manche Menschen inzwischen so stark zu sein, dass sie sich wieder verstärkt Stimulanzien verschreiben lassen. Wir sollten darüber nachdenken, ob eine Gesellschaftsform wünschenswert ist, in der man den Alltag nur mit Pillen überstehen kann.

Dr. Stephan Schleim ist Kognitionswissenschaftler und Assistenzprofessor für Theorie und Geschichte der Psychologie in Groningen. Seine Schwerpunkte sind die Philosophie und öffentliche Wahrnehmung der Hirnforschung. Er ist Autor des Buches Die Neurogesellschaft. Wie die Hirnforschung Recht und Moral herausfordert (Heise Zeitschriften, 2011).