Im Zwiespalt unterwegs

Wie frei will ich sein? Wer wandern geht, will aus dem Alltag ausbrechen. Zu wild darf es aber auch nicht sein. Über die Psychologie des Wanderwegs.

Zwei Wanderer laufen einen Weg an einem Berg hoch, umringt von Sträuchern und Nadelbäumen
© Thomas Barwick/Getty Images

Gehen bringt nicht nur Gedanken in Bewegung, sondern stärkt rundum das Selbstbewusstsein. Vorwärtskommen aus eigener Kraft! Das Tempo wird einem nicht aufgezwängt. Die Schritte geben Denken und Erleben Takt, mal im verträumten Schlendrian, mal kraftvoll dem Gipfel entgegen – ein Rhythmus, den man selbst bestimmt.

Von der „Ehre des Fußgehens“ berichtete Carl Julius Weber 1826 und zielte damit auf eine innere Würde des aufrechten Ganges. Auch Johann Gottfried Ebel hatte 1793 in seiner Anleitung, auf die…

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Ganges. Auch Johann Gottfried Ebel hatte 1793 in seiner Anleitung, auf die nützlichste und genussvollste Art in der Schweitz zu reisen die Beziehungen zwischen der physischen Bewegung und dem psychischem Erle­ben im Blick: „Wer zu Fuß reiset, hängt einzig nur von seinem Willen und seinem Vergnügen ab; diese Freyheit ist unbeschreiblich angenehm.“

Der Weg als ein innerer Erfahrungsraum eröffnet sich auch auf dem festgelegten Rundwanderweg. Obgleich sich auf markierten Routen durchaus Widersprüche ergeben: Ich will hinaus ins Freie und dabei unabhängig sein – aber doch lieber geführt und gelenkt. Vor dem Start sind der Verlauf der Strecke und die zu bewältigenden Höhenmeter genauso bekannt wie die Aussichten und Sehenswürdigkeiten. Unterwegs diktieren Wegzeichen die Richtung und garantieren, dass niemand vom rechten Pfad abkommt.

Wanderwege geben Orientierung. Sie ermöglichen für jede Kondition und jedes Bedürfnis stimulierende Erfahrungen, die sich aus dem Zusammenhang von physischer Aktivität und innerem Erleben ergeben. Ein idealer Ausgleich zum gleichförmigen, unduldsamen Takt des Alltags. Die Augen gehen auf, die Sinne öffnen sich. Ein Mäusebussard kreist beim Austritt aus dem Waldweg über einer frisch gemähten Wiese, der Duft von Gras, VogelstimmenVerbindung und Nähe zu einer Natur werden möglich, zu der das tägliche Leben in den Sicherheitskorridoren der Zivilisation oft genug in fremdelnder Distanz steht.

Gegen den "Schnelligkeitsteufel"

Kontraste aus Strapaze und Rast, Anstrengung und Ruhe, Enge und Weite. Von einem Augenblick auf den anderen öffnet sich auf einem Felsvorsprung der Horizont – Himmel und Erde verschwimmen bei Fernsicht. Die Grenzenlosigkeit des Blicks ist faszinierend und gleichzeitig beruhigend, Welt scheint überschaubar. Äußere Unendlichkeit schafft innere Weite. Einsam wandern, als Paar oder in geselliger Gemeinschaft? Gleich wie: Schon die freudvolle Bereitschaft zum Grüßen signalisiert, dass unterwegs das Bedürfnis nach Austausch, Geselligkeit und Kommunikation wächst.

„Komm! Ins Offene, Freund!“ So laden die ersten Zeilen von Friedrich Hölderlins Elegiefragment zum Gang aufs Land. Genau diese Wendung aus einem Drinnen in ein Draußen befreit. Ernst Walter Trojan empfahl 1910 in seiner Wanderkunst – Lebenskunst die Gangart per pedes als probate Rezeptur gegen den „Schnelligkeitsteufel“ und die „nervenfressende Arbeitshetze“ eines rastlosen Lebens in der Moderne. Das Diktat ihres unduldsamen Tempos kon­trastierte er mit bewusster Langsamkeit des Gehens in einer individuell gewählten Geschwindigkeit.

So besehen ist Wandern damals wie heute nichts anderes als eine Wiedergewinnung von Raum und Zeit. Mit der Aufmerksamkeit für das Naheliegende verwandeln sich erwanderte Landschaften in befreundete Räume. Das Wandern als Bewegung um der Bewegung willen ist historisch besehen eine ausgesprochen moderne Form, sich selbst und die Welt zu erfahren. Gehen, weil man will – nicht muss. Erst die „neuere zeit“, so notieren die Brüder Grimm 1854 in ihrem Deutschen Wörterbuch, „kennt wandern als das frohe durchstreifen der natur, um körper und geist zu erfrischen“.

Umwege sind nicht geplant

Aber was will ich denn nun eigentlich? Aufbrechen ins Unbekannte oder garantierte Trittsicherheit? Auf Wanderwegen wird Erleben arrangiert. Letzte Unwägbarkeiten bei Stressabbau und Selbstbesinnung in freier Natur regelt die Wander-App. Umwege, Verirren? Einfach mal die Laufrichtung ändern wie die romantischen Taugenichtse? Das ist nicht geplant.

Rund 300000 Kilometer markierte Wanderwege schätzt der Deutsche Wan­derverband für Deutschland. Die seit Mitte des 19. Jahrhunderts zwischen Alpen und Nordsee gegründeten Gebirgs- und Wandervereine zogen Wegenetze über die Landschaften ihrer Region und möblierten diese mit Hütten und Aussichtstürmen, Wegweisern oder Ruhebänken. In der Industrialisierung avancierte Wandern zur Massenbewegung; die nötigen Wege hierfür bildeten die Infrastruktur für den einsetzenden Tourismus.

Romantisches Wandern, Gehen als Suchbewegung ähnelt eher dem Protestgang gegen ein Weltbild, in dem ansonsten fast alles geplant, berechnet, effizient machbar sein muss. Mitunter hat sich der einst biedere Wanderweg in einen restlos optimierten Erlebnisparcours verwandelt, in ein konsumierbares Fertigprodukt. Der Markt offeriert Fern- und Themenrouten in allen Spielarten: Kloster-, Wein-, Literatur- oder Kunstwanderwege – Jakobswege ohnehin.

Das, wovon man vielleicht davonlaufen möchte, holt einen hier wieder ein. „Nutzerfreundliche“ Markierungen, GPS, Schrittzähler, Wetter-App oder Fitnesstracker lassen nur bedingt romantisches Erleben zu. Immerhin: In dem schönen Wörtchen „Freizeit“ schlummert die etymologische Erinnerung an die Wurzel des althochdeutschen frī – frei und unabhängig. Eben selbstbestimmt. Und vielleicht auch mal querfeldein.

Literatur

Claudia Selheim, Frank Matthias Kammel, Thomas Brehm (Hg.): Wanderland. Eine Reise durch die Geschichte des Wanderns. Ausstellungskatalog. Verlag des Germanischen Nationalmuseums, Nürnberg 2018

Rebecca Solnit: Wanderlust. Eine Geschichte des Gehens. Matthes & Seitz, Berlin 2019

Prof. Dr. Friedemann Schmoll ist Inhaber des Lehrstuhls für Volkskunde (empirische Kulturwissenschaft) an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und arbeitet zur Kulturgeschichte der Natur

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 9/2022: Das Tempo der Liebe