Ein riesiges Skelett empfängt das staunende Publikum im Lichthof. Die Knochen des Dinosauriers sind so montiert, als könnte sich der Gigant gleich wieder in Bewegung setzen. Dieser Widerspruch – die sterblichen Überreste als lebendig zu inszenieren – begleitet die Besucherinnen und Besucher während des gesamten Rundgangs durch die Ausstellung.
Die Natur des Naturkundemuseums umfasst im Wesentlichen Tiere, Pflanzen, Fossilien und Mineralien, die gesammelt, erforscht und ausgestellt werden. Zu manchen Museen…
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und Mineralien, die gesammelt, erforscht und ausgestellt werden. Zu manchen Museen gehören auch Planetarien, die astronomisches Wissen zeigen. Das Museum ist ein Ort, an dem besondere Verhaltensregeln gelten, die teils noch Reminiszenzen an ihre Gründungszeit sind, an die bürgerlichen Institutionen des 19. Jahrhunderts.
Nachdem das Portal und die Kasse passiert sind, schreiten die Besucher langsam die Exponate ab, bleiben in respektvoller Distanz stehen und setzen den Rundgang möglichst in eine Richtung fort, um den Fluss nicht zu stören. Dieses bildungsbürgerliche Ideal der distanzierten Betrachterhaltung wird heute mit interaktiven Maßnahmen durchbrochen. Illustrationen und Text, Touchscreens und bedienbare Elemente vermitteln Informationen und eine immersive Atmosphäre zum Eintauchen in die Themenwelten. Die Kinder drücken möglichst viele Knöpfe und öffnen Klappen. Erwachsene versuchen, ihrem Nachwuchs Wissenswertes zu erklären, dessen Kenntnis an Dinosaurierarten jedoch schnell die elterliche Kompetenz übersteigt.
Die Evolution in einer Nussschale
Nicht nur das Publikum betrachtet die Exponate. Um den Eindruck des Lebendigen entstehen zu lassen, schauen die Tiere mit ihren Glasaugen aus den Vitrinen zurück. Der lebensechte Blick ist ein gestalterisches Ziel der Präparatoren, die ihren Beruf fast wie eine Kunst betreiben. Die Museumswärterin beobachtet die Gäste tatsächlich. Sie verwarnt die besonders Neugierigen oder Unkonzentrierten, die über die Absperrungen treten oder das staubfrei polierte Glas berühren. Auch für die hölzernen Schrank- und Tischvitrinen steht ein Generationenwechsel an, jedoch ist dieses anachronistische Museumsmobiliar so eng mit den allgemeinen Vorstellungsbildern des Museums verbunden wie das obligatorische Dinoskelett.
Die Vitrinen vermitteln zudem Wissenschaftsgeschichte: Schmetterlinge und Käfer sind sorgsam angepinnt, um vergleichende Beobachtungen ihrer Körperformen und Farben zu ermöglichen. Präparierte Säugetiere sind auf Podeste gesetzt, Vögel auf Zweige montiert. Reptilien, Amphibien und Fische, aber auch Mollusken und Parasiten finden sich in mit Formaldehyd gefüllten Gläsern wieder, besonders eindrucksvoll in der Nass-Sammlung des Berliner Museums für Naturkunde inszeniert. Die stillgestellte Perspektive auf die Natur lässt ihre komplexen Zusammenhänge strukturiert und beherrschbar erscheinen.
Die sorgfältige Ordnung der toten Tiere, Pflanzen oder der ohnehin leblosen Mineralien beruhigt. Nebeneinander aufgestellt präsentieren die Präparate die Artensystematik. Diese akkurate taxonomische Ordnung der Lebewesen strukturierte seit Carl von Linnés Veröffentlichungen Species Plantarum (1753) und Systema Naturæ (10. Auflage, 1758) die naturhistorischen Sammlungen an den Höfen Europas.
Der Zeitgeist beeinflusst unsere Naturvorstellungen
Mit weitreichenden Folgen: Die systematischen Sammlungen lösten die Wunderkammern ab, die Pflanzen, Tiere, Kunstwerke, ethnografische Artefakte und auch Steine nach kosmologischen Gesichtspunkten zusammenführten. Die Wunderkammern trennten noch nicht zwischen Kunst, Natur, Technik, Religion. Ihr Zugang über die Gefühle inspiriert auch in jüngster Zeit die Überlegungen für neue Sammlungsarrangements.
Die Forschungsreisen im 19. Jahrhundert veränderten erneut die Sammlungen. Für die Europäerinnen und Europäer sollten über Objekte, Illustrationen und Fotografien entfernte Regionen sichtbar werden. Auch Menschen wurden zum Beleg vermeintlicher Rassentheorien dokumentiert. Die Evolutionstheorie ließ Naturforscher wie Ernst Haeckel nach dem Missing Link suchen und fand höchst rassistische Ausprägungen. Noch heute irritieren manche Sammlungen mit scheinbar natürlichen Hierarchien, wenn sich „Steinzeitmenschen“ oder außereuropäische Kulturen in Vitrinen der Naturgeschichte wiederfinden.
Mit neuen Themen wie Biodiversität, Artensterben und dem zukünftigen Überleben von Menschen ist das heutige Publikum unmittelbar betroffen und wird nun als Akteur und nicht als Ausstellungsobjekt miteinbezogen. Das Museum ist der Ort, um naturwissenschaftliche Erkenntnisse zu inszenieren und damit sinnlich erfahrbar zu machen. Wie sehr die Naturvorstellungen vom Zeitgeist abhängig sind, wird besonders deutlich, wenn die traditionsreichen Sammlungen auf eine aktuelle Szenografie treffen wie beispielsweise in Berlin, Wien, Paris oder New York. Im Museum als Experimentalraum wird sichtbar, dass die Anordnung von Naturwissen dabei immer weniger als eine objektive Sichtweise auf die hochkomplexe Welt erscheint.
Dr. phil. Christina Katharina May ist Kunsthistorikerin und forscht über Tiere und Raum. Sie ist Referentin für Alltagskulturen beim Landesheimatbund Sachsen-Anhalt e.v. und Autorin des Buchs Die Szenografie der Wildnis. Immersive Techniken in zoologischen Gärten im 2. und 21. Jahrundert (Neofelis 2022).
Quellen
Horst Bredekamp: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte. Wagenbach 1993
Susanne Köstering: Natur zum Anschauen. Das Naturkundemuseum des deutschen Kaiserreichs 1871–1914. Böhlau 2003
Karen Wonders: Habitat Dioramas. Illusions of Wilderness in Museums of Natural History. Almqvist & Wiksell 1993
Davide Gambino: The Second Life. Dokumentarfilm. Thurnfilm/Mon Amour Films/Take Five 2020
Alison Griffiths: Shivers Down Your Spine. Cinema, Museums, & the Immersive View. Columbia UP 2008
Anke te Heesen: Theorien des Museums zur Einführung. Junius 2012