„Ansonsten bin ich einfach blind“

Angst ist in der Arbeitswelt sehr präsent, wird aber tabuisiert. Wie kann man richtig mit ihr umgehen? Ein Gespräch mit Psychoanalytiker Marius Neukom.

Eine Schwarze Frau im Anzug lehnt im Büroflur an einer Glasscheibe. Ihre gefalteten Hände hält sie sich verzweifelt vor das Gesicht.
Angst gehört zu unserem Alltag – auch im Job. Doch oft wird sie ignoriert und sogar gezielt gegen Mitarbeitende eingesetzt. Das geht allerdings nur bis zu einem gewissen Punkt gut. © FG Trade/Getty Images

Herr Neukom, Sie sagen, dass man sich klar machen muss, dass Gefühle wie Neid, Angst oder auch Trauer in der Arbeitswelt sehr präsent sind. Gerade die Angst wird im Berufsleben aber eher tabuisiert. Warum wird so ein wichtiger Teil des Menschseins in vielen Unternehmen quasi abgeschnitten?

Arbeiten, handeln können, zielorientiert sein – das verträgt nicht so viele belastende Gefühle wie Angst oder Scham. Es ist daher erst einmal nachvollziehbar, dass man versucht, solche Emotionen zu elimnieren. Aber das wird irgendwann zu einem Bumerang, weil Ignoranz sie nicht einfach verschwinden lässt. Untergründig wirken sie stets weiter. Und das kann zu sehr schwierigen, menschenunwürdigen Situationen führen.

An was denken Sie, wenn Sie sagen: menschenunwürdige Situationen?

Dass nicht mehr beachtet wird, dass Menschen Angst haben oder sich schämen. Alles wird der Leistung und dem Erfolg untergeordnet, und der emotionale Preis wird nicht mehr gesehen. Gerade erfolgreiche Organisationen und Unternehmen, die darauf abheben, dass sie die besten sind, erzeugen auch Verlierer. Das ist okay, aber diese Menschen auszustoßen ist sehr problematisch, es nimmt ihnen ihr Selbstwertgefühl und sie erleben sich als verloren.

Die Organisationen müssten sich um diese Menschen kümmern, dann würden sie sich selbst auch ein bisschen anders darstellen. Sie könnten immer noch die besten sein. Aber sie hätten ein Gefühl dafür, dass sie auch Menschen abhängen, um die sie sich kümmern müssen. Es ist eine ethische Frage.

Ich habe den Eindruck, dass bei Neid oder Aggression eher gesehen wird, was ihre positiven Effekte in der Arbeitswelt sein können – sie erzeugen Konkurrenz und Veränderungsdynamik. Bei der Angst scheint es nicht ganz so offensichtlich. Würden Sie trotzdem sagen: Angst wirkt auch stimulierend in der Arbeitswelt?

Ja, in einem mittleren Bereich ist Angst sehr stimulierend und erzeugt Leistung. Es ist eine Gratwanderung, und das wissen auch die meisten Unternehmen. Der autoritäre Führungsstil arbeitet ganz dezidiert mit der Angst: Das Bestrafen, die Drohung mit Strafe aktivieren Menschen, erzeugen Loyalität und bringen sie auch zu Höchstleistungen. Aber gleichzeitig ist Angst eben der Prototyp einer Unlust-Empfindung. Sie wirkt sehr schnell auch hemmend und beengend.

Kann man sagen: Je hierarchischer eine Organisation ist, desto mehr arbeitet sie mit Angst – oder wäre das zu pauschal?

Nein, das würde ich so unterschreiben. Hierarchie und autoritärer Führungsstil operieren hochgradig mit verdeckter Angst und mit der ganzen Dynamik von Stimulation, Leistung und Loyalität, Nicht-Ausscheren-Können, -Wollen, -Dürfen. Das kann sehr funktionstüchtig sein, aber es kann auch sehr dysfunktional werden, es ist kein stabiles System. Es können interne Konflikte und ganz spezifische Pannen entstehen, die die verdeckte Angst offenlegen.

Was für Pannen können das sein?

Ein Beispiel, das mir in den Sinn kommt: An der Universität in Zürich hat ein gefeierter Herzchirurg merkwürdige Publikationen veröffentlicht und ihm wurde Plagiat vorgeworfen. Die Universität hat ihm gekündigt, es kam zu hässlichen Streitereien und zu Untersuchungen. Und ein Resultat dieser Untersuchungen war: Das ganze Spital lebte in einem Klima der Angst. Das Fehlverhalten war nicht einfach nur die persönliche Verfehlung des Herzchirurgen, sondern es herrschte eine Atmosphäre der Angst, die in dem Krankenhaus nicht angesprochen wurde, nicht angegangen wurde.

Menschen geraten dann stark unter Druck, können nicht mehr sie selbst sein und beginnen, irrationale Dinge zu tun. Was ihr Verhalten nicht entschuldigt, aber eben auch zeigt, dass System und Kultur des Unternehmens dieses mit produzieren.

Sie unterscheiden zwischen Angst und Furcht – können Sie diesen Unterschied erläutern?

Die Angst bezeichnet das unmittelbare Erleben von Angst. Und dieses zeichnet sich genau dadurch aus, dass es keinen Grund, kein Objekt, kein Gegenüber gibt. Furcht wiederum ist das, was wir umgangssprachlich unter Angst verstehen, nämlich Furcht vor etwas Bestimmten zu haben, bezogen auf ein Objekt. In diesem Sinne ist Furcht bereits verarbeitete Angst. Eine objektlose, namenlose Angst muss, damit sie beherrschbar wird, psychisch erst ein Gegenüber bekommen. Das ist dann Furcht als Angst vor etwas. Wenn man beginnt, sich auf dieses Objekt zu fokussieren, kann man wieder funktionieren.

Unter Umständen aber ist man auch in die Irre geleitet, wenn die Angst von innen kommt und dieser Externalisierungsprozess nicht zwingend das adäquate Objekt der Furcht erzeugt oder sichtbar macht. Menschen unterscheiden sich in ihrer Kapazität, Angst und Furcht als Gefühle auszuhalten, stark voneinander. Wer Erfahrung mit Angst gemacht und reflektiert hat, weiß, dass sie einen nicht umbringen kann und muss darum nicht stets ein Objekt finden.

Wie kann ich als Führungskraft lernen, zwischen Angst und Furcht zu unterscheiden?

Die Führungskraft muss eine eigene Erfahrung mit ihrer Angst und ihrer Furcht gemacht haben, um die Dynamik zu kennen. Um zu erleben, dass Angst objektlos ist und sich bei ihr Fantasien bilden, in denen das Objekt hergestellt wird. Und dass diese Fantasien aus ihrer eigenen inneren Welt, ihrer Angstwelt entstammen. Und wenn sie diese Erfahrungen gemacht hat, hat sie nicht mehr so viel Furcht vor der Angst und kann Strategien und Fantasien entwickeln, um die eigene Angst zu beruhigen.

Die Führungskraft muss also Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion im Bereich der Emotionen, spezifisch der Angst, lernen, damit die Angst integriert statt eliminiert werden kann. Integriert heißt: Die Angst bekommt Wort und Wahrnehmung, sie wird eingebunden in Beziehungen. Und dann können die Chefin oder der Chef auch eine beruhigende Funktion für andere einnehmen.

Das ist das Gegenprogramm zu der Idee „Die Angst muss weg“. Eine Richtungsänderung. Die meisten Menschen kommen zu mir in die psychotherapeutische Praxis mit einem Angstthema und fragen: Wie kriege ich die Angst los? Und ich sage dann immer als erstes: Wir müssen erst einmal richtig in sie hineinkommen. Das kann natürlich beängstigend sein. Aber das mache ich ja im Rahmen einer beruhigenden Funktion: „Wir werden das überleben, Sie werden das überleben, ich werde das überleben, und so können wir gemeinsam näher herangehen.“

Wie kann ich als Führungskraft konkret Erfahrungen mit meiner Angst machen?

Solche Erfahrungen können Vorgesetzte in Coachings oder Psychotherapien sammeln. Das heißt: Vertrauenswürdige Menschen finden, mit denen zusammen diese Themen angeschaut und anhand von konkreten Situationen untersucht werden können. Das kann auch in Gruppen geschehen. Meist geht es um Emotionalität schlechthin, aber Angst ist eben der Prototyp der Unlust-Emotionen.

Das Ganze ist allerdings nur dann sinnvoll, wenn die Kultur der Firma Emotionen auch zulässt – man darf die Führungskräfte nicht zu Abfallbehältern machen, die die ganze Angst aufnehmen. Das heißt, die Unternehmenskultur muss so sein, dass Gefühle Platz haben, dann kann man sich auch diesem ganz heißen Eisen der Angst annähern.

Wenn ich mich als Vorgesetzte nicht mit meiner Angst beschäftige und diese diffus bleibt: Welche Folgen kann das haben?

Grundsätzlich ist es nicht per se schlecht fürs Funktionieren. Aber es wird immer Situationen geben, in denen ich mit der manifesten – also beobachtbaren – Angst eines Mitarbeiters konfrontiert bin. Und wenn ich ein Gefühl dafür und einen Umgang mit meiner eigenen Angst habe, dann kann ich dies aufnehmen und verhindern, dass seine Angst nur noch in eine hemmende Richtung geht. Ansonsten bin ich in diesem Bereich einfach blind.

Das kann gut und lange funktionieren. Aber es gibt sicher Momente, in denen es nicht funktioniert. Und dann besteht das Risiko, dass es ganz aus dem Ruder läuft – und ich werde ahnungslos sein, warum.

Kann es auch sein, dass ich als Chef Risiken zu sehr suche, wenn ich meine Ängste verdränge?

Ja, aber da besteht oft eine Verwechslung von Angst und Gefahr. Die Person sucht die Gefahr, weil es einfacher ist, sich mit der externen Gefahr herumzuschlagen als mit der eigenen Angst. Das ist natürlich für gewisse Arbeitsbereiche absolut nötig, hat aber einen hohen Preis. Ich denke da zum Beispiel an Extremsportlerinnen und -sportler, die auch kleine Unternehmen sind, sie selbst und ihr ganzes Umfeld leben ja von ihrem Sport. Die müssen das Ganze so anordnen. Aber einige sterben auch dabei.

Die Folgen können also dramatisch sein – der eigene Tod; häufig auch einfach eine eingeschränkte Fähigkeit, sich auf andere Menschen einzulassen. Das betrifft natürlich nicht nur Extremsportlerinnen, ich denke auch an Trading und ähnlich risikoreiche Berufe.

Erst einmal würde ich als Laie ja denken: Wenn meine Vorgesetzte ein wenig ängstlicher ist, hat sie ein gutes Sensorium für Gefahren. Sie wird den Markt genau beobachten, sie wird mitbekommen, wenn das Team in Schieflage gerät. Würden Sie dem zustimmen?

Das müsste man vermutlich im Detail anschauen. Generell unterscheide ich zwischen funktionaler und dysfunktionaler Angst. Ich denke da zum Beispiel an Rechts- oder Steuerberater, die ganz schön pedantisch und ängstlich sein können. Das hilft ihnen enorm, weil sie mit dieser Angst Katastrophen-Szenarien entwerfen und darauf aufbauend alle möglichen Lösungen entwickeln können. Deren Angst hat dann einen hohen funktionalen Anteil.

Wie kann ich als Chef lernen, die Ängste meiner Teammitglieder zu erkennen?

Andere sehen und sich selbst zeigen können. Was nicht trivial ist. Dazu braucht es informelle Gespräche, in denen es mal nicht um Ziele und Projekte geht, nicht um Bewertung und Leistung, sondern um Persönliches und eben auch: um Gefühle. Ich muss als Führungskraft etwas von meiner Gefühlswelt preisgeben, aber adäquat. So, dass auch die anderen etwas von ihren Emotionen zeigen können.

Das heißt, ich muss als Vorgesetzter ein Gesprächsthema mitgestalten, in dem es Raum gibt für Gefühle und Austausch. Denn wenn die Kolleginnen und Kollegen die unerwünschten Emotionen alle zu verstecken beginnen, dann hat die Angst natürlich gar keinen Platz im Unternehmen.

Sie sagen, Gefühle „adäquat“ preisgeben. Was heißt das in Bezug auf die Angst: Wie darf ich als Führungskraft meine Angst zeigen?

Die Vorgesetzte muss das möglichst reflektiert und verarbeitet tun. Also nicht die nackte Angst preisgeben. Aber wenn sie Erfahrungen mit der eigenen Angst gemacht hat und diese dosiert zeigt, dann ist das ein Segen. Dann erzeugt es auch kein Problem, sondern Gefolgschaft, und die eigene Autorität wird gestärkt, die Glaubwürdigkeit erhöht.

Das müssen allerdings sorgfältig ausgewählte Situationen sein, denn natürlich ist die Angst der Führungsperson immens bedrohlich für die Mitarbeitenden. Die lehnen sich an, orientieren sich an der Führungskraft, folgen ihr, müssen ihr folgen. Und wenn diese plötzlich unkontrolliert in sich zusammenfällt, dann schwächt sie ihre Rolle und verliert Gefolgschaft.

Aber wenn die Persönlichkeit auf der emotionalen Seite gut ausgebildet ist, kann sie sich mit all ihren Gefühlen hinstellen und sowohl ihre Ängste zeigen als auch sich behaupten, wo es angebracht ist. Das erzeugt dann vielleicht auch flache Hierarchien mit starkem Vertrauen, die langfristig funktionstüchtig sind.

Woran würde ich merken, dass ein Mitarbeiter seine Ängste auf mich projiziert?

Wenn ich meine Angst wahrnehmen und ausdrücken kann, dann kann ich auch aussortieren. Dann kann ich, wenn ich morgens mit einem Albtraum aufwache, darüber nachdenken und sagen: Dieser Teil kommt von innen, von mir. Und der andere Teil, der kommt aus einem Gespräch mit einem Mitarbeiter. So kann ich vorsichtige Hypothesen erstellen – es gibt keine Gewissheiten. Diese Gefühlsregungen sind nicht einfach das Problem der anderen, wir sind immer gemeinsam da drin.

Dann kann ich den Mitarbeiter auf meinen Eindruck ansprechen und sehen, ob im Gespräch eine Entspannung eintritt, ob er handlungsfähiger wird oder nicht. Wenn nicht, muss ich dranbleiben. Wenn ja, haben wir es vorerst gelöst. Eigentlich ist es sehr konkret – sobald man gelernt hat, darauf zu achten.

Sie sagten vorhin, dass es für den Austausch von Gefühlen auch informelle Räume der Begegnung geben muss. Wie wirkt sich vor diesem Hintergrund das Homeoffice auf Angst in Organisationen aus?

Ja, also spontan würde ich sagen: ungünstig. Weil das Homeoffice tendenziell isoliert und vereinzelt und genau diese Erfahrungsräume schwieriger zu haben sind. Die ganze Struktur von Onlinekommunikation vereinfacht das nicht, sondern erschwert es, vor allem auf Dauer.

Ich denke, darum waren die Menschen doch auch sehr erleichtert, sich mal wieder sehen zu können. Denn es ist ein beruhigender Austausch, wenn man die andere Person erlebt. Die Video-Situation tendiert dazu, dass starke Projektionen entstehen, die auch nicht durch noch mehr Video aufgelöst werden können. Die Tendenz ist, dass die Emotionen nicht so gut ausgetauscht werden können und die Angst umso mehr verlangt, dass man sich sieht. Wenn Angst ins Spiel kommt, dürfte die Video-Situation dies nicht verbessern, sondern eher akzentuieren.

Marius Neukom ist Psychoanalytiker mit eigener Praxis in Zürich und Mitautor des Readers Angst in Organisationen (Springer 2021).

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 11/2022: Angstfreier leben
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