Die Qual der Wahl

Therapiestunde: Der 25-Jährige zieht zurück zu den Eltern. Die Therapeutin sieht in der Vermeidung ein Phänomen unserer Zeit. Wie kann sie ihm helfen?

Die Illustration zeigt einen Mann, der auf seine Stirn schielt, auf der das Loading-Symbol ist und seinen Kopf dabei auf die Hände stützt
Was er einmal machen will bzw. was ihm Spaß macht, weiß er noch nicht. Aber bis dahin wird er herumsitzen und es ergrübeln. © Michel Streich für Psychologie Heute

Ich sehe mich als ambulant arbeitende Psychologische Psychotherapeutin und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin einer ganz neuen Gruppe von Klientinnen und Klienten gegenüber. In den 36 Jahren meiner therapeutischen Tätigkeit gab es immer wieder „konjunkturelle Wellen“ im Hinblick auf die Diagnosen. Das ist gar nichts Außergewöhnliches. Das, was sich im Moment abzeichnet, hat jedoch nicht nur psychologisch-psychotherapeutische Relevanz, sondern wird zu einem gesellschaftlichen Problem: die jungen…

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psychologisch-psychotherapeutische Relevanz, sondern wird zu einem gesellschaftlichen Problem: die jungen Erwachsenen, die die Schwellenanforderung nicht bewältigen, in die – auch wirtschaftliche – Eigenverantwortung zu gehen und eine altersentsprechende psychische Reife zu entwickeln.

Da ist zum Beispiel ein junger Mann, 25 Jahre alt, der nach einem abgebrochenen Studium wieder zurück in sein Kinderzimmer gezogen und konsequent damit beschäftigt ist, Vorsätze zu entwickeln, sich um eine Ausbildungsstelle zu kümmern – um diese Vorsätze genauso konsequent zu prokrastinieren. Zusätzlich gerät er immer mehr in soziale Isolation und wird immer einsamer. Die Frage, ob er denn anknüpfen könne an frühere Freundschaften, verneint der junge Mann. Er sei schon immer zurückhaltend, habe ja auch nichts zu erzählen, keine Erlebnisse und Erfahrungen, in seinem Leben passiere ja nichts.

Seinen beruflichen Platz habe er auch noch nicht gefunden, es sei ihm auch peinlich, sich in der eigenen Verwirrung und Ratlosigkeit zu zeigen. Er lebe von Bürgergeld, was „eigentlich“ gut sei. Aber die früheren Bekannten hätten studiert, eine Ausbildung gemacht oder gar schon eine Familie gegründet. Auf der Suche nach einer Spur, wie es in seinem Leben weitergehen könnte, frage ich: „Wofür interessieren Sie sich denn?“ Langes Schweigen. „Ich weiß nicht so recht.“ „Es gab doch offensichtlich schon Entscheidungen, die Sie getroffen haben, als Sie sich für das Studium interessiert haben.“ „Schon, aber ich wusste auch keine Alternative.“ „Gibt es denn Fähig­keiten, von denen Sie wissen, dass Sie die haben?“ Schweigen.

Angst vor der Verantwortungsübernahme

„Was war dann nicht passend an dem, was Sie studiert haben?“ „Es mach­te keinen Spaß und es war mir zu viel Stress.“ „Was würde Ihnen denn Spaß machen?“ Schweigen. „Das, was ich gemacht habe, nicht.“ „Sie suchen doch gerade nach einer Ausbildungsmöglichkeit. In welchem Bereich denn?“ „Schon wieder im technischen Bereich. Aber eigentlich will ich da gar nicht mehr rein.“ „Welche Bereiche kämen denn noch infrage?“ „Ich weiß nicht.“ So rätseln wir weiter und es wird immer deutlicher, dass es rein theoretisch Optionen gibt, die auch von außen unterstützt würden, jedoch wegen des „Spaßfaktors“, der sich nicht einstellen mag, und der fehlenden inneren Resonanz nicht zum Zuge kommen. Die emotionale klinische Nulllinie bleibt.

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Möglichkeiten sind denkbar, aber halt nur denkbar, nicht fühlbar. Das, was ins Fühlen kommt, ist nicht positiv. Es ist die Angst, die falsche Entscheidung zu treffen, sich festzulegen und dann nicht mehr aus der Zwangsjacke der Verpflichtungen herauszukommen, sich nicht erfüllt zu erleben durch die Wahl, aber auch keine andere Wahl als erfüllend zu erleben. Der Anspruch, dass Arbeit für „Spaßgefühle“ und Beziehungserleben zuständig ist, trägt zur Lähmung bei.

Arbeit nimmt mir die Freiheit weg, dass ich tun kann, was ich will.“ Auf den Zug springe ich auf: „Was wollen Sie denn tun?“ Schweigen. „Welche Freiheit meinen Sie denn? Worin sind Sie denn jetzt in Ihrer Lebenssituation frei?“ „Na ja, ich kann halt machen, was ich will.“ „Aber was ist denn das, was Sie tun und wollen und Ihnen ein Gefühl von Freiheit gibt?“ Schweigen. „Verstehe ich das richtig, dass das, was Sie als Freiheit bezeichnen, gar nicht Freiheit ist, sondern der Raum der Vermeidung und des Ausweichens vor den anstehenden Aufgaben? Bedeutet Freiheit die Vermeidung aversiver Zustände durch die Konfrontation mit sich selbst? Die Begegnung mit der eigenen Unsicherheit, der Überforderung durch Optionen und Alternativen? Die Verzweiflung, weil es keine innere Klar­heit für Entscheidungen gibt, und die Angst, falsche Optionen zu wählen, sich dafür selbst verantwortlich zu machen und sich die Schuld zu geben, sich zu schämen dafür, dass es nicht gelungen ist, eine gute Wahl zu treffen? Würden Sie sagen, die Prokrastination in die Scham und Schuld und depressive Zustände bringt Freiheit?“ Langes Schweigen.

„Nein, wenn Sie das so sagen, ist das keine Freiheit. Aber doch noch besser, als etwas tun zu müssen, worauf ich keine Lust habe. Und dann andere Dinge nicht tun zu können.“ Ich wittere noch mal meine Chance: „Was ist das, was Sie dann lieber tun, als in Verantwortlichkeit und Struktur zu gehen, die Sie als Fremdbestimmung erleben?“ Schweigen.

Es macht gerade keinen Spaß, aber das ist okay

Die Qual der Wahl, die Fülle der Optionsscheine und Möglichkeiten und keine realen Bezüge – das scheint mir ein sich ausbreitendes Phänomen unserer Zeit zu sein, an dem ein nicht unerheblicher Teil unserer jungen Generation „scheitert“: Die Fülle an Optionen und Möglichkeiten, die tatsächlich realisiert werden könnten, bedeutet, die Verantwortung gegebenenfalls auch für eine falsche Wahl tragen zu müssen. Mit dieser Anforderung fühlt sich der Klient überfordert und tut das, was naheliegt: Er vermeidet aversive Emotionen durch konsequente Ablenkung und Prokrastination, die autodestruktive Züge und Auswirkungen annehmen.

Im Verlauf der Gespräche wächst meine Verwunderung, was sich da entwickelt und wohin das auch führen wird. Welches Elend bedeutet das für die betreffenden jungen Menschen, die ihre Potenziale nicht nutzen, sich von sich und dem gesamten Leben sofort über- statt gefordert fühlen, in die Sozialversorgung gehen, weil sie auch anspruchslos geworden sind? Die Dynamik der Vermeidung von Schuld und Scham durch Prokrastination und damit Kumulation von Schuld und Scham durch Prokrastination hat so viel Selbstwertschutzfunktion, dass das Risiko einer Veränderung nicht eingegangen werden kann. Locus of control – das Erleben von Selbstbestimmtheit – zeigt sich nur noch durch Ausweichen, nicht durch Akzeptanz, Entscheidungsklärung oder Handeln.

Die Pseudoargumente „Spaß“ und „Erfüllung“ bei gleichzeitiger Selbstsabotage nutze ich zur Konfrontation. Ich werde pädagogisch und überdeutlich, habe nur einen Joker, aber den spiele ich aus. „Herr X., wir haben draußen 35 Grad, vor meinem Haus ist eine Baustelle, da stehen die Männer in sengender Hitze und arbeiten. Meinen Sie, die haben gerade Spaß an dem, was sie da tun? Ich glaube nicht, aber sie haben eine Verantwortung übernommen für die wirtschaftliche Sicherheit für sich und ihre Familien und kommen ihren Aufgaben nach. Verantwortungsübernahme und das Eingehen von Verpflichtungen machen wahrlich nicht zwangsläufig Spaß! Aber sie sind Teil des Erwachsenwerdens und der Selbstverantwortung. Sie aber legitimieren die Nichtübernahme an Verantwortung damit, dass Sie Ihren Spaßfaktor noch nicht gefunden haben und Ihre Freiheit nicht aufgeben wollen, nutzen das Sozialsystem, bis Sie vielleicht herausgefunden haben, was Ihnen Spaß macht.“

Ich rechne damit, dass der junge Mann aufspringt, mir den Vogel zeigt oder nie mehr kommt. Nichts davon tritt ein. Er schaut mich an, stumm, ernst. Es fehlen ihm die Worte. Klar. Aber ich sehe, dass es in ihm arbeitet. Das ist meine Hoffnung. Es ist gut ausgegangen: Der junge Mann kommt zwei Wochen später und berichtet, dass er zwei Bewerbungen verschickt hat und sich um ein WG-Zimmer in der Stadt kümmern will. Er ist mittlerweile ausgezogen und macht die Ausbildung, obwohl sie ihm keinen Spaß macht, wie er beteuert. Aber ich sehe ihn das erste Mal lächeln.

Gertrud Skoupy ist als Psychologische Psychotherapeutin, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin in Lauf an der Pegnitz tätig.

* Persönliche Daten und alle Einzelheiten, die den Klienten erkennbar machen könnten, wurden verändert.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 2/2025: Stürmische Zeiten - stabiles Ich