Herr Professor Uchino, es gibt Menschen, auf die wir uns bedingungslos verlassen können, aber auch solche, die keine Gelegenheit verstreichen lassen, uns eins auszuwischen. Daneben existiert aber noch eine dritte Sorte: Menschen, die Freund und Feind zugleich sind – im Englischen frenemies genannt. In der Forschung spricht man auch von „ambivalenten Beziehungen“. Was versteht man darunter?
Beziehungen zu Personen, die sich uns gegenüber manchmal in einer positiven und manchmal in einer negativen Weise…
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zu Personen, die sich uns gegenüber manchmal in einer positiven und manchmal in einer negativen Weise verhalten. Fast die Hälfte der Kontakte in unseren sozialen Netzwerken zählt zu dieser Kategorie. Sogar bei verheirateten Paaren hegen – zumindest in den USA – zwischen 40 und 45 Prozent ambivalente Gefühle füreinander. Diese Zahl hatte uns ursprünglich selbst überrascht. Inzwischen haben wir sie jedoch mehrfach bestätigt. Der Hauptgrund könnte darin liegen, dass im gemeinsamen Alltag einer Partnerschaft Konflikte schwer vermeidbar sind.
Wie lässt sich Ambivalenz messen?
Wir haben dazu ein Instrument entwickelt, den Social Relationships Index, kurz SRI. Er enthält Fragen zum sozialen Netzwerk der Teilnehmenden – zu ihren Eltern, Ehepartnern, Familienmitgliedern, Arbeitskolleginnen, Freunden. Zu jedem einzelnen dieser Kontakte stellen wir zwei Fragen: „Wie sehr empfinden Sie diese Person als hilfreich, wenn Sie Unterstützung benötigen, zum Beispiel in Form von Rat, Verständnis oder einem Gefallen?“ Und: „Wie sehr ärgern Sie sich in solchen Situationen über diese Person oder regen sich über sie auf?“
Mal angenommen, Sie erzählen einem Freund von einem Streit mit Ihrer Chefin, und er kritisiert Sie oder spielt Ihre Gefühle herunter. Er kann das dann möglicherweise für Unterstützung halten, in Wirklichkeit ist es für Sie aber sehr verletzend.
Und im Gegensatz dazu sind gute Freunde diejenigen, die uns in solchen Situationen aufrichten?
Ja. Bei den ambivalenten Beziehungen trifft dagegen beides zu: Sie sind manchmal ein Rückhalt, manchmal aber auch ein Ärgernis. Diese Mischung aus Positivem und Negativem ist für sie charakteristisch. Wir haben in einer Reihe von Studien zeigen können, dass dieser Mix schlecht für uns zu sein scheint.
Schon die bloße Anwesenheit einer Person, der wir ambivalent gegenüberstehen, lässt unseren Blutdruck steigen. Ambivalente Beziehungen führen zudem zur vermehrten Bildung bestimmter Blutproteine, die auf eine Beeinträchtigung des Immunsystems hindeuten. Bei Betroffenen verkalken die Herzkranzgefäße stärker und ihre Zellen altern schneller.
Bedeutet das, dass ambivalente Beziehungen krank machen?
Dazu fehlen uns noch die Daten. Es ist aber gut möglich, dass sie auf lange Sicht unsere Gesundheit negativ beeinflussen. Interessanterweise zeigen unsere Untersuchungen, dass die gefundenen Effekte vor allem dann auftreten, wenn Gut und Schlecht zusammentreffen: In vielen Beziehungen gibt es zumindest ab und zu negatives Verhalten der anderen Person gegenüber. Und wir haben in unserer Arbeit nachgewiesen, dass selbst dieses kleine bisschen, wenn es mit positivem Verhalten kombiniert wird, für uns Stress bedeutet.
Ihre Daten deuten darauf hin, dass unsere Frenemies uns sogar mehr stressen als unsere Feinde. Warum ist das so?
Kritik von jemandem, den wir nicht mögen, können wir leicht abschütteln. Wir sagen uns dann einfach: „Diese Person ist halt ein Idiot.“ Kurzfristig mag uns ihre Bemerkung ärgern, aber das geht schnell vorbei. Bei einer ambivalenten Freundin ist das anders – wir legen auf ihre Meinung Wert. Wenn sie etwas sagt, das uns verletzt, dann schmerzt uns das mehr und trifft uns zudem über einen längeren Zeitraum. Wir grübeln darüber nach: Ist da irgendetwas Wahres dran? Oder: Warum sagt sie so etwas, nach all den Jahren der Freundschaft?
Es beschäftigt uns also länger, und das macht es für die Gesundheit relevanter. Hinzu kommt, dass wir mehr Kontakt zu unseren ambivalenten Beziehungen haben als zu unseren Feinden. Dadurch entsteht einfach häufiger die Gelegenheit für belastende Interaktionen.
In einem Ihrer Experimente haben Sie Menschen gebeten, in Ihr Labor zu kommen und jemanden zur Unterstützung mitzubringen. Fast die Hälfte wählte eine ambivalente Freundin oder einen ambivalenten Freund. Warum verlassen wir uns auf Personen, deren Unterstützung wir uns nicht sicher sein können?
Das ist eine gute Frage. Immerhin sind typischerweise mehr als die Hälfte unserer Beziehungen zu anderen rein positiv. Warum wählen wir nicht jemanden von denen? Eine Teilantwort scheint zu sein, dass wir nicht unbedingt bewusst vor Augen haben, wie viel Stress ambivalente Freundinnen oder Freunde für uns bedeuten.
Denken Sie zum Beispiel an jemanden, mit dem Sie sich im Normalfall super verstehen. Erst wenn Sie anfangen, mit ihm über Politik zu diskutieren, kommt das Negative zum Vorschein. Es kann sein, dass Sie sich nur in diesem Moment der Ambivalenz in Ihrer Freundschaft bewusstwerden.
Überschattet dieser Aspekt die Beziehung auch zu anderen Zeiten?
Es sieht zumindest so aus. Wir haben gezeigt, dass sich Ambivalenz auf die Physiologie von Menschen auswirkt, auch wenn sie nur neben der betreffenden Person sitzen. Also selbst dann, wenn sie gar nicht mit ihr interagieren und zum Beispiel über Politik diskutieren – allein das Zusammensein mit ihr, der Aufenthalt im selben Raum erhöht die Herzfrequenz. Sie scheinen bereits durch die Anwesenheit der ambivalenten Freundin gestresst zu sein.
Warum ist das so?
Ich denke – auch wenn ich keine Daten habe, um das zu belegen –, dass es sich um eine Art konditionierte Reaktion handelt: Sie haben aufgrund vorheriger Erfahrungen gelernt, negative Gefühle mit dieser Person zu assoziieren. Ihre bloße Anwesenheit reicht dann später aus, um diese Gefühle wieder auszulösen.
Nehmen Sie im Unterschied dazu einen Menschen, den Sie vorbehaltlos lieben: Das Zusammensein fühlt sich einfach gut und angenehm an. Bei ambivalenten Freundschaften hingegen fehlt dieses Gefühl von Geborgenheit, Vertrauen und Sicherheit zum Teil. Und das bedeutet Stress.
Man fühlt sich unbehaglich, weil man die ganze Zeit etwas auf der Hut sein muss?
Ganz genau. Denken Sie an das Beispiel mit der Politik: Sie müssen aufpassen, was Sie sagen und was nicht, damit es nicht wieder zum Streit kommt.
Wie entstehen ambivalente Beziehungen?
Oft wurzeln sie in frühkindlichen Bindungserfahrungen in der Familie. Die Bindungen, die wir zu unseren frühen Bezugspersonen haben, beeinflussen langfristig unser Vertrauen in andere. Denn wenn uns selbst die Eltern nicht vorbehaltlos unterstützen, warum sollten wir das dann später im Leben von anderen erwarten? In der Kindheit werden die Weichen für die Erwartung gestellt, wie verlässlich Beziehungen normalerweise sind. Später im Leben beeinflussen diese Erwartungen dann, wie wir Informationen aus unseren neuen Beziehungen verarbeiten.
Menschen mit solchen Vorerfahrungen schauen also genauer hin, ob ihre Partnerin oder ein Freund sie tatsächlich unterstützt?
Genau. Hinzu kommt ein zweiter Punkt: Sie tendieren dazu, so zu agieren, dass sie genau die Art von Verhalten hervorrufen, die sie fürchten. Angenommen Sie sind unsicher in Ihrer Beziehung: Sie werden Ihre Partnerin ständig genau beobachten, ob Sie ihr vertrauen können. Und wenn die dann verärgert reagiert, werten Sie das als Bestätigung: Sie liebt mich im Grunde nicht.
In Beziehungen besteht immer eine komplexe Wechselwirkung zwischen den Erwartungen der einen Person, ihrem Verhalten, das daraus resultiert, und der Reaktion der anderen Person. Dieser Kreislauf kann das Verhältnis zwischen beiden nachhaltig in eine bestimmte Richtung lenken.
Wir werden also durch unsere frühkindlichen Beziehungen auf einen bestimmten Weg festgelegt?
Ja. Ich glaube aber nicht, dass wir Zeit unseres Lebens auf diesem Weg bleiben müssen. Das ist jedoch eine Frage, zu der noch Forschungsbedarf besteht.
Die Wirtschaftswissenschaftlerin Naomi Rothman untersucht seit einigen Jahren Ambivalenz am Arbeitsplatz. Ihr zufolge arbeiten Frenemies in Teams ziemlich gut zusammen. Sie sind zum Beispiel motivierter, eine gute Leistung zu erbringen und dafür hart zu arbeiten. Überrascht Sie das?
Als diese Arbeiten herauskamen, dachte ich ursprünglich: Ich kann mir nicht so ganz vorstellen, wie das möglich sein soll. Naomi Rothman hat zum Beispiel gezeigt, dass Ambivalenz dazu führt, dass die Teammitglieder kreativer und flexibler sind. Andererseits erzeugt Ambivalenz Stress, und normalerweise führt Stress bei Menschen dazu, dass sich ihr Blickwinkel verengt. Allerdings gibt es auch das sogenannte Yerkes-Dodson-Gesetz. Danach ist ein mittleres Erregungsniveau am förderlichsten für die Leistungsfähigkeit. Zu viel Stress verringert die Leistung, bei zu wenig Stress sind die Mitarbeitenden nicht engagiert. Der sweet spot ist also der Mittelweg.
Es könnte sein, dass ambivalente Bindungen das Erregungslevel zwar erhöhen, aber so moderat, dass die Teammitglieder das Beste aus sich herausholen können. Aus dieser Perspektive klingen die Ergebnisse dann wieder plausibel.
Würden Sie es für klug halten, gezielt Frenemies zusammenarbeiten zu lassen?
Aus der Leistungsperspektive mag das sinnvoll sein. Meine Frage wäre aber, ob eine solche Strategie nicht noch andere Konsequenzen hat: Wie wirkt sie sich auf die Fehlzeiten aus? Oder auf andere Aspekte des Arbeitsumfelds? Die Forschung zu Ambivalenz am Arbeitsplatz ist zwar äußerst interessant, sie steckt aber noch in den Kinderschuhen.
Wie sollten wir mit ambivalenten Beziehungen umgehen?
Meine erste Antwort auf diese Frage ist immer: Versuchen Sie, die Ambivalenz aufzulösen. Dafür gibt es verschiedene Möglichkeiten. Einer der ersten Schritte ist, das Problem offen anzusprechen und zu versuchen, etwas zu ändern. Dazu müssen aber beide Parteien erst mal bereit sein.
Bei Problemen in der Partnerschaft besteht zudem die Möglichkeit, eine Eheberatung aufzusuchen. Aus meiner Sicht wird diese Möglichkeit heute noch viel zu wenig genutzt. Schließlich erforschen wir momentan, ob zum Beispiel auch bestimmte Arten der Meditation helfen können, die Ambivalenz in Beziehungen zu verringern – oder zumindest besser mit ihr zu leben.
Sie sagten, dass wir uns der Ambivalenz in unseren Beziehungen nicht immer bewusst sind. Ist das auch ein wichtiger Schritt: sich vor Augen zu führen, wo es hakt?
Ja. Sie sollten sich selbst fragen: Woher kommt dieses negative Gefühl, wenn wir zusammen sind? Betrifft es nur einen bestimmten Bereich, zum Beispiel die Politik? Ist es, weil die Person nicht für Sie da war, als irgendwann etwas wirklich Belastendes in Ihrem Leben passiert ist? Manchmal liegen die Gründe für Ambivalenz lange zurück. Untersuchungen über ältere Erwachsene zeigen, dass ein empfundener Verrat auch noch 50 Jahre später die Beziehung deutlich belasten kann.
Für die Ursachenforschung kann es auch hilfreich sein, Tagebuch zu führen: Was ist heute beim Treffen mit diesem Freund passiert? Ist es gut gelaufen oder nicht? Und wenn nicht: Was könnte der Auslöser gewesen sein?
Und wenn zum Beispiel die politische Einstellung der Auslöser ist: Sollten wir dieses Thema dann einfach meiden?
Wenn sich diese Auslöser leicht vermeiden lassen, ist das wahrscheinlich das Einfachste. Aber es gibt Dinge, denen man nicht ausweichen kann. In diesem Fall müssen Sie das Thema ansprechen. Natürlich ist das nicht einfach. Das Problem bei solchen Gesprächen ist, dass Menschen sehr schnell in die Defensive geraten können. Wenn das passiert, wird es nicht funktionieren. Vielleicht müssen Sie dann überdenken, ob Sie diese Freundschaft aufrechterhalten oder zumindest in engem Kontakt bleiben wollen.
Manchmal muss man also einfach das Risiko eingehen und sehen, ob es klappt? Selbst wenn das das Ende der Beziehung bedeutet?
Das kann passieren, ja. Eine ambivalente Beziehung zu beenden ist allerdings aus meiner Sicht der allerletzte Schritt. Man sollte zumindest versuchen, die Probleme zu lösen, die die Ambivalenz verursachen. Und dazu gehört auch, diese schwierigen Gespräche zu führen. In den meisten ambivalenten Beziehungen gibt es viele Dinge, für die es sich zu kämpfen lohnt.
Bert Uchino ist Professor für Sozial- und Gesundheitspsychologie an der University of Utah. Er erforscht seit über 30 Jahren die gesundheitlichen Effekte von ambivalenten Beziehungen.
Zum Weiterlesen:
Bert N. Uchino u.a.: Social relationships and health: Is feeling positive, negative, or both (ambivalent) about your social ties related to telomeres? Health Psychology, 31/6, 2012, 789–796. DOI: 10.1037/a0026836