Das Gespräch ist per E-Mail verabredet: eine Beratung in einer Beziehungskrise. Frau Hart* kommt überpünktlich, bedankt sich für den Termin und legt gleich los. Sie ist um die vierzig Jahre alt, sportlich gekleidet, nur wenig geschminkt, hat eine fröhlich-zupackende Art. Sie erinnert mich an eine Wanderführerin, die jedes einzelne Mitglied ihrer Gruppe für die Schönheiten des Weges begeistern möchte und zu ihrem eigenen auch noch den Rucksack eines Fußkranken trägt.
„Ich habe ein Buch über meine Beziehung…
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und zu ihrem eigenen auch noch den Rucksack eines Fußkranken trägt.
„Ich habe ein Buch über meine Beziehung gelesen“, beginnt sie und nennt auch eine Autorin. „Ich gerate immer an die falschen Männer, ich suche den guten Vater, den ich nicht gehabt habe, und verliebe mich dann in toxische Narzissten, die sich auf keine Beziehung einlassen können. In dem Buch steht, dass sich diese Männer nie ändern und dass die einzig richtige Entscheidung die ist, sich so schnell wie möglich zu trennen. Das habe ich auch versucht! Aber ich konnte es nicht. Jetzt sind wir wieder zusammen. Aber er sagt, er wolle keine Beziehung. Er will schon mit mir zusammen sein, aber er will mir nichts versprechen. Ich halte das nicht aus. Er kann doch morgen eine kennenlernen, die ihm besser gefällt.“
„Ich habe auch meinen Stolz!“
„Was gefällt denn Ihnen an ihm?“ „Wenn wir zusammen sind, ist es schön, er ist aufmerksam; wenn wir wegfahren, Urlaub machen, ist es wunderbar, da gibt es keine Probleme. Aber er will sich nicht einlassen auf mich. Er kann sich nicht festlegen. Wenn ich frage, wann wir uns treffen, sagt er, er weiß es noch nicht. Und ich warte dann jeden Abend auf ihn, das ist doch blöd! Und wenn ich dann genervt bin und was mit einer Freundin ausmache, will er mich sehen. Soll ich dann der Freundin absagen? Das würde ich am liebsten tun, aber ich habe auch meinen Stolz, und dann gefällt mir der Abend mit der Freundin nicht… Finden Sie mich nicht schrecklich?“ „Nein – warum sollte ich?“ „Weil ich nicht weiß, was ich will, und nicht geschafft habe, was die Psychologin in dem Buch geraten hat.“
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Ich ärgere mich heimlich über die Kollegin, die ein Buch über toxische Narzissten geschrieben hat. Wenn sie wirklich ihre Leserinnen mit voreiligen Gewissheiten unter Druck setzen sollte, hat sie keinen guten Job gemacht! Da ich aber nicht weiß, was wirklich in dem erwähnten Buch steht, halte ich mich zurück. Ich habe selbst erlebt, wie in Büchern gelesen wird, was der Autor gar nicht schreiben wollte.
Eingeforderte Liebesbeweise
„Wenn ich richtig verstanden habe, ist es eine schöne Beziehung, solange Sie nicht versuchen, von ihm den Beweis zu bekommen, dass Sie sich sicher sein können?“ „Ja, solange ich nicht herausfinden will, was es ist, was wir da zusammen haben, ist es gut. Aber ich muss das doch wissen!“ „Sie sind unglücklich, wenn die Beziehung nicht definiert wird, während Ihr Freund unglücklich wird, wenn Sie von ihm eine Definition verlangen?“
Sie zögert, denkt nach. „Ja, so könnte man das sehen.“ „Verstehen Sie, warum er so ist?“ „Manchmal schon. Er war schon mal verheiratet, ich ja nicht. Seine Ehe ist schiefgegangen, die Frau war Borderlinerin, hat ihm Szenen gemacht. Aber das kann er doch nicht an mir auslassen! Ich war lange genug Single. Ich hätte gern eine richtige Beziehung. Und er sagt nie, dass ich die Richtige bin. Er sagt eher, ich soll das bloß nicht denken. Aber als ich mich getrennt habe, war er traurig und hat gesagt, wenn ich irgendwann Hilfe brauche, ist er für mich da. Wie kann er das machen und gleichzeitig behaupten, dass er keine Beziehung mit mir hat?“
Ich halte nicht viel von einem Begriff wie dem toxischen Narzissmus. Er wertet und verführt zu einem Täter-Opfer-Schema: Hilfe, mich hat jemand vergiftet! Ich habe in letzter Zeit öfter verärgerte Frauen in ähnlicher Weise von narzisstischen Männern sprechen hören, wie vor vierzig Jahren ärgerliche Männer über hysterische Frauen lamentierten. Beides scheint mir gleich unproduktiv.
Auch passt das von Frau Hart geschilderte Verhalten eigentlich nicht in das von ihr zitierte Modell. Ein Narzisst macht Versprechungen, schwört große Liebe und beutet aus. Der Freund meiner Klientin fürchtet, überhaupt etwas zu versprechen. Abgesehen von der mangelnden Liebes- und Beziehungsklärung scheint er sie aber nicht auszunützen oder schlecht zu behandeln.
Einfach auf Liebesschwüre verlassen?
Aber wie kann ich ihr vermitteln, dass Diagnosen in Liebesbeziehungen Macht versprechen, aber in Ohnmacht münden? Ich überlege kurz, ob ich sagen soll, dass ich mit einer Psychoanalytikerin verheiratet bin und wir es seit vierzig sorgsam vermeiden, mit den Begriffen unseres Handwerks aufeinander loszugehen. Ich verwerfe das, es mag eindrucksvoll sein, ist aber auch eitel und geht nicht auf ihre Not ein.
Ich stelle lieber noch eine Frage. „Er verspricht also eher weniger, als er hält?“ „Ja, eben, wenn wir zusammen sind, denke ich oft, ich will ihn und keinen anderen, ich sage ihm das auch, und dann kommt nichts!“ „Es kommt vielleicht nichts, aber es ist doch etwas da“, sage ich, „ich meine, wenn Sie nichts klären wollen, fühlt es sich gut an?“ „Ja, aber – kann man sich denn auf solche Gefühle verlassen?“„Kann man sich auf Liebesschwüre und Eheversprechen verlassen?“ Sie stutzt. „Eigentlich auch nicht“, sagt sie leise.
Dann wird sie wieder energischer. „Ich habe schon eine Therapie gemacht, an mir gearbeitet. Warum kann er das nicht auch tun? Er wollte nicht mitkommen, er ist mit sich im Reinen, behauptet er. Ich will auch keine Therapie mehr, ich bin gekommen, weil ich von Ihnen eine Antwort will: Hat die Beziehung eine Chance oder nicht? Wird er sich ändern?“
Das Baby, das in die Brust beißt
„Sie kennen Ihren Freund seit einigen Jahren; ich kenne ihn eine halbe Stunde vom Hörensagen. Glauben Sie wirklich, ich kann Ihnen dazu etwas sagen, das eine bessere Grundlage hat als Ihre Erfahrungen?“ „Sie sind der Experte, Sie haben schon viele Paare gesehen, Sie müssten das beurteilen können!“ „Als Experte kann ich nur sagen, dass unsere Gefühle keine sichere Orientierung bieten – aber doch die beste, die wir haben. Und ich kann auch noch was über Austausch sagen. Kennen Sie die Geschichte von dem Baby, das in die Brust beißt?“ Sie schüttelt den Kopf.
„Das Baby beißt in die Brust, weil es fürchtet, dass die Mutter sie zurückzieht. Und die Mutter zieht sie zurück, weil das Baby beißt. Deshalb beißt das Baby noch mehr, und die Mutter…“ Jetzt grinst sie ein wenig. „Sie meinen, er zieht sich zurück, wenn ich Druck mache, und ich mache Druck, weil ich Angst habe, dass er sich zurückzieht?“ „Genau so!“
Sie wirkt jetzt entspannter. „Sie meinen also nicht, dass ich eine Versagerin bin, weil ich es nicht schaffe, mich von einem Narzissten zu trennen?“ „Ich denke, Sie sollten sich eher von solchen Begriffen trennen. Eine Diagnose macht nur Sinn, wenn sie wissenschaftlich begründet ist. In unseren Liebesbeziehungen können wir nicht sachlich sein. Außerdem steckt in der Diagnose ein Gefälle: Ich weiß besser, wer und was du bist. Da ist Vorsicht angebracht.“ „Aber ich lese doch solche Bücher und komme zu einem Experten, weil ich mich schwach und unterlegen fühle!“ „Das verstehe ich, aber ich bin mir nicht sicher, ob Ihr Freund das auch so sieht.“
Unsere Zeit ist fast um. „Wie verbleiben wir?“„Ich lasse das jetzt erst einmal sacken und rede mit meinem Freund. Vielleicht will er ja doch eine Paartherapie machen. Dann melde ich mich wieder.“
Wolfgang Schmidbauer arbeitet als Autor und Psychoanalytiker in München. Sein Buch Animalische und narzisstische Liebe. Zur Paaranalyse der romantischen Bindung ist 2023 bei Klett-Cotta erschienen.
* Persönliche Daten und alle Einzelheiten, die die Klientin erkennbar machen könnten, wurden verändert.