Die geheimen Muster meiner Familie

Unsere Familiengeschichte ist ein Schatz, der die Erfahrung von vielen Generationen umfasst. Ein Blick zurück hilft schädliche Muster zu überwinden

Die Illustration zeigt eine Familie, bestehend aus Großvater, Tochter und zwei Enkelkindern, die gemeinsam eine alte gemusterte Tapete überstreichen
„Wenn ich groß bin, will ich so werden wie Opa!“ – „Und ich wie Mama!“ © Paul Thurlby für Psychologie Heute

Stellen Sie sich vor, Sie stehen in der Mitte eines Raumes und finden einen symbolischen Ort für Ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie drehen sich von der Gegenwart aus in Richtung Vergangenheit, betrachten nun alles, was in Ihrer Familie schwierig, einschränkend und schmerzhaft gewesen ist, und trauern, schimpfen und klagen. Und danach fragen Sie sich: Was war nützlich und stärkend? Welche Geschichten haben mich ermutigt? Wer hat mich gefördert oder getröstet? Wer war Vorbild?

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Welche Geschichten haben mich ermutigt? Wer hat mich gefördert oder getröstet? Wer war Vorbild?

Sie nehmen einen Stock in die Hand, verwenden ihn wie eine Angel und holen weit aus. Aus dem Schlamm der Vergangenheit fischen Sie das erste Goldstück, das Ihnen ins Auge springt, drehen sich noch einmal um, wenden den Blick in Richtung Zukunft und werfen das Goldstück dorthin. Sie können frei entscheiden, wo es landen soll. Wollen Sie es ganz nah bei sich haben oder es etwas weiter weg platzieren als leuchtendes Ziel, auf das Sie sich Schritt für Schritt zubewegen?

Mit dieser Übung macht Anke Lingnau-Carduck, systemische Therapeutin und Ausbilderin für systemische Familientherapie und Beratung, immer wieder gute Erfahrungen: den Schlamm zu würdigen, ihn aber liegenzulassen, das Gold herauszufischen, es mit Schwung dahin zu schleudern, wo es gerade gebraucht wird – und die neue Ausrichtung als Kraft im Körper zu spüren. Ihr geht es dabei darum, in der eigenen Familiengeschichte auch das Stärkende zu sehen. Einen Blick zu fördern, der nach dem Positiven fragt, ohne die Trauer und die Wut über Verletzungen und Belastungen zu ignorieren oder kleinzureden.

Wiederholungen erkennen

Auf diese Weise die eigene Biografie anzuschauen und sich dabei bewusst für die Generationen davor zu interessieren sei für uns nützlich. Denn in jeder Familiengeschichte finden sich belastende Vermächtnisse und hilfreiche Modelle, Bremserinnen und Förderer, destruktive Glaubenssätze und bestärkende Überzeugungen, die bis in die Gegenwart Kräfte entfalten.

Die Illustration zeigt einen älteren Mann mit einem weißen Bart und Gehstock, seine Tochter und sein Enkelsohn
Welchen Beruf wir wählen und wen wir lieben, liegt auch an Opas und Mamas Einfluss.
Die Illustration zeigt einen älteren Mann mit einem weißen Bart und Gehstock, seine Tochter und sein Enkelsohn
Welchen Beruf wir wählen und wen wir lieben, liegt auch an Opas und Mamas Einfluss.
Besonders hilfreich ist laut Lingnau-Carduck der Blick zurück, wenn man im Alltag wiederholt an Grenzen stößt. Wenn man etwa im Job trotz Stellenwechsel ständig in denselben Machtkonflikten landet; sich immer wieder in denselben Typ Partner verliebt, obwohl von Anfang an die Alarmglocken geläutet haben. Oder sich vornimmt, sich besser zu ernähren, stattdessen aber immer wieder mit Chips und Wein auf der Couch landet, weil es eine Art unsichtbares Band zu geben scheint, das einen daran hindert, gut für den eigenen Körper zu sorgen.

Familie prägt Beruf, Partnerwahl und Gesundheit

Dass die Familie Einfluss auf die berufliche Entwicklung, die Partnerwahl und sogar das Gesundheitsverhalten hat, ist unbestritten. Schon Sigmund Freud sprach von einem Wiederholungszwang und vermutete, dass es eine unbewusste Tendenz gibt, unangenehme oder schmerzhafte Erfahrungen zu wiederholen. Auch Studien legen nahe, dass es Suchtmuster gibt, die zur Wiederholung einladen und die sich über mehrere Generationen ziehen. So werden etwa ein Drittel der Kinder aus alkoholbelasteten Familien als Erwachsene selbst abhängig von Alkohol oder anderen Substanzen.

Auch die Form der eigenen Familie lehnt sich oft an die von Eltern und Großeltern an. So lassen sich etwa Trennungskinder später mit deutlich erhöhter Wahrscheinlichkeit auch selbst wieder scheiden. Dies ist ein Ergebnis einer Studie der Soziologin Henriette Engelhardt-Wölfler und ihres Kollegen Andreas Diekmann. Die Untersuchung wurde später erneut durchgeführt und kam zu ähnlichen Resultaten. Die Forschenden erklären die Weitergabe des Scheidungsrisikos zum einen mit vererbten Persönlichkeitsmerkmalen, zum anderen damit, dass Eltern ihren Kindern bestimmte Kommunikationsstile und Konfliktlösekompetenzen vermitteln – und damit jeweils Risiko- oder Schutzfaktoren für die eigenen engen Beziehungen. Dass es sich lohnt, seine Familienmuster genauer anzuschauen, liegt auf der Hand, denn wenn man bestimmte Prägungen erkennt, günstige und ungünstige Einflüsse identifiziert und versteht, kann man sie leichter verändern.

Eine bewährte Methode ist in der systemischen Therapie das Genogramm. Auf ein großes Blatt wird ein erweiterter Stammbaum gezeichnet über mindestens drei Generationen mit allen, die zur Familie gehören – Eltern, Großeltern, Geschwistern, Cousins, Tanten, Onkeln. Oft hat bereits das Erstellen des Genogramms eine therapeutische Wirkung. Denn beim Aufzeichnen fällt den meisten Menschen auf, dass es einen Familienzweig gibt, über den sie viel wissen, und dass es andere Äste gibt, wo Auslassungen, Lücken und Fragezeichen bestehen. Das ist womöglich ein erster Hinweis darauf, dass es an diesen Stellen etwas zu entdecken gibt. Dass dort Belastungen, aber auch bisher unerkannte Stärken und Schätze verborgen sein könnten. In dem, was ausgelassen wurde, liegen Informationen, die wir noch nicht kennen, die aber auf uns wirken und die wir für unsere Entwicklung nutzen sollten. Deshalb lohnt es sich, Lücken zu füllen, Fotos und Daten zu finden, sich einen Überblick zu verschaffen und erste Vermutungen anzustellen.

Stärkende Verwandte finden

Steht das Genogramm, regt Anke Lingnau-Carduck ihre Klienten an, Familienangehörige zu dem Thema zu befragen, an dem sie sich gerade abarbeiten. Ihr begegnen in ihrer Praxis beispielsweise häufig Menschen um die fünfzig, die lernen möchten, sich besser abzugrenzen. Sie sind frustriert, weil sie sich schon lange damit abmühen und trotz bester Vorsätze immer wieder scheitern. Sie verstehen sich selbst nicht und kommen irgendwann darauf, dass ein Familienmuster dahinterstecken könnte. Hilfreiche Fragen an andere in der Familie wären dann: Was denkst du, wie sind wir in der Vergangenheit mit dem Thema Grenzenziehen umgegangen? Wer konnte sich besonders gut behaupten? Wer konnte es gar nicht? Wem war es nicht wichtig? Was waren die guten Gründe dafür, dass jemand sich nicht abgegrenzt hat?

Dann findet man möglicherweise heraus, dass die Mutter nicht gut nein sagen konnte, weil sie an dem Ort, an den sie ihrem Mann zuliebe gezogen war, nie heimisch wurde und immer Sorge hatte, dort jemanden zu verärgern. Vielleicht nimmt man dann aber auch die Spur von Großtante Gertrud auf, die bekannt dafür war, dass sie sich alles, was ihr lästig war, hervorragend mit einem kecken Spruch oder charmanten Augenaufschlag vom Leib halten konnte. Beide Geschichten aus der Vergangenheit geben Hinweise fürs eigene Leben. Vielleicht könnte man den Gestus der selbstbewussten Großtante ausprobieren. Und erleben, wie sich das anfühlt, wenn man diese Stärke der Familie bewusst nutzt.

Schuld nicht zwingend bei der Herkunftsfamilie suchen

Auch Gunther Schmidt, hypnosystemischer Psychotherapeut und Co-Leiter der sysTelios-Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie, plädiert für einen offenen, interessierten Blick auf die eigene Familiengeschichte. Dabei warnt er aber davor, Probleme, mit denen man im eigenen Leben konfrontiert ist, in einen direkten kausalen Zusammenhang zur Herkunftsfamilie zu stellen: „Es gibt viele Konzepte, die davon ausgehen, dass in der Familiengeschichte die Ursache A zur Wirkung B führt. Natürlich sind die engsten Familienmitglieder prägend. Einseitige kausale Zuschreibungen führen jedoch zu verzerrten Perspektiven.“

Lebensgestaltung sei nach den neusten Erkenntnissen der Hirnforschung immer ein Ergebnis davon, wohin wir unsere Aufmerksamkeit lenken, wie wir uns selbst sehen, welche Aspekte der Vergangenheit und Prägung wir betonen und weiterentwickeln. Die reine Defizitorientierung hat in seinen Augen große Nachteile. Menschen erleben sich dann als Opfer ihrer Familiengeschichte, verlieren ihre Gestaltungschancen aus dem Blick. Familienmitglieder wiederum fühlen sich angeklagt, wehren Gespräche ab oder entwickeln Schuldgefühle. Schaut jemand nur auf das Schmerzhafte, werden die wertvollen Kräfte, die im Schatz der Familien­tradition gespeichert sind, nicht mehr wahrgenommen.

Anke Lingnau-Carduck fällt in diesem Zusammenhang ihre eigene Großmutter ein: Diese hatte mit ihrem kleinen Sohn aus Ostpreußen fliehen müssen und dabei Gewaltvolles und Schmerzhaftes erlebt. Dennoch vermittelte sie ihrer Enkelin eine stärkende Lebenshaltung: „Ich weiß, wie schnell alles vorbei sein kann, besser man kostet jede Minute aus und feiert das Leben.“ Diese Botschaft der Oma sei ihr sehr präsent und stärke sie, erzählt Lingnau-Carduck. Um solche positiven Muster aufzuspüren, ist es allerdings wichtig, sich zu erlauben, auch bewusst danach Ausschau zu halten. Gerade wenn Menschen sich durch die eigene Familie belastet fühlen, haben sie den Blick auf Stärkendes oft kaum geübt.

Vererbte Blockaden aufdecken

„Wenn ich davon ausgehe, dass meine Großmutter traumatisiert war und meine Mutter ebenso und ich es deshalb natürlich auch sein muss, sehe ich mich als Opfer und habe meine Wahlmöglichkeiten nicht mehr im Blick“, ergänzt Gunther Schmidt. Er spricht deshalb bezüglich der Lebenswege einzelner Familienmitglieder ganz generell lieber von „Einladungen“ als von „Ursachen“. Die Einladung, etwas ähnlich zu machen, wie es die Vorfahren taten, etwa ein Suchtverhalten zu entwickeln oder in wechselnden Partnerschaften zu leben, könne stark sein. Sie sei aber kein schicksalhafter Zwang: „Die Vergangenheit ist wichtig, aber sie bestimmt nicht völlig das Erleben in der Gegenwart. Es gibt im Hier und Jetzt die Möglichkeit, eine Einladung auszuschlagen, oder aber den Sog, den sie ausübt, zu ändern.“

Wenn die Großmutter ihre Kinder allein durchgebracht hat und die Mutter ebenfalls, heißt das nicht zwangsläufig, dass die Tochter ebenfalls alleinerziehend leben wird. Es mag sich auch ganz anders entwickeln. Und sollte es doch so kommen, könnte sie von den Erfahrungen ihrer Vorfahrinnen viel lernen. Vielleicht sind deren Pragmatismus und Eigenständigkeit ein Schlüssel, mit der eigenen Lebenssituation konstruktiv umzugehen. Wenn die Personen, die man im Blick hat, noch leben, ist es vielleicht sogar möglich, sie um Rat zu fragen.

Nur auf das Positive und die Ressourcen zu schauen ist laut Schmidt jedoch auch nicht hilfreich. Zu früh nach dem zu fragen, was gut war, produziere Widerstand: „Ich wollte immer lösungsorientiert arbeiten und musste erst lernen, wie wichtig es ist, das Leiden auch zu würdigen“, reflektiert Schmidt. „Viele Menschen haben die Sorge, wenn es ihnen besser geht, könnte es so aussehen, als ob die Verletzungen, die sie erlitten haben, doch nicht so schlimm waren. Dann bringen die besten Interventionen nichts. Erst wenn das Leiden gesehen und anerkannt wird, kann der Blick wieder weiter werden.“

Wie neugieriges und offenes Fragen Bewegung in eine verfahrene Situation bringt, zeigt ein Beispiel aus Anke Lingnau-Carducks Praxis: Ein junges Paar, nennen wir sie Ralf und Sabine Schneider, kam zu ihr. Ralf Schneider hatte vom Arbeitgeber ein attraktives Jobangebot bekommen. Seine Partnerin war begeistert und sagte: „Mach das. Ich komme mit. Ich verstehe gar nicht, warum du nicht längst unterschrieben hast.“ Obwohl er von einer ähnlichen Position immer geträumt hatte, quälte sich Schneider mit der Entscheidung. Aus Verzweiflung ließ er sich zwei Wochen krankschreiben, er konnte weder ja noch nein sagen. Irgendwann kam ihm die Idee, dass seine Blockade vielleicht gar nichts mit dem Jobangebot selbst zu tun hatte, sondern mit seiner Familiengeschichte. Mit diesem Anliegen kam er in die Beratung.

Dort erarbeitete er die Idee, mit seinen Eltern zu sprechen und diese zu fragen: „Wie seid ihr eigentlich zu eurem Beruf gekommen? Wie seid ihr mit beruflichen Chancen umgegangen?“ Die aktuelle Option für einen neuen Job erwähnte er im Gespräch mit den Eltern bewusst nicht. Zu seiner Überraschung erzählte der Vater, dass er als junger Mann gerne Schreiner geworden wäre. Der Großvater wollte jedoch unbedingt, dass er zu einer Versicherung ging. Er beugte sich dem Wunsch, vergaß aber nie seinen ursprünglichen Traum. Sein Leben lang habe er bedauert, kein Handwerker geworden zu sein. Als Rentner konnte er seinem Sohn gegenüber zum ersten Mal eingestehen, wie sehr ihn der Verzicht geschmerzt hatte.

Im Gespräch sagte der Vater einen Satz, der dem Sohn half, seine Blockade aufzugeben: „Falls dir mal etwas angeboten wird, das deiner Leidenschaft entspricht, dann mach das auf jeden Fall. Du wirst es sonst später bereuen.“ Für Ralf Schneider war das eine Art Erlaubnis, er nahm den Job freudig an. „Der Glaubenssatz des Großvaters, dass man seine Träume nicht ausleben sollte, war unbewusst über drei Generationen beim Enkel gelandet. Der Vater hat mit seiner lebenslangen Loyalität gegenüber dem eigenen Vater dafür gesorgt, dass diese Überzeugung beim Sohn ankam, ohne dass sie darüber gesprochen hatten“, erklärt Lingnau-Carduck die unbewusste Dynamik, die Schneider in die Entscheidungsunfähigkeit getrieben hatte. In der Psychologie wird in solchen Fällen von transgenerationaler Delegation gesprochen.

Das Beispiel zeigt einerseits, wie stark ein familiäres Muster über Generationen wirken und Entwicklungen blockieren kann. Andererseits wird spürbar, dass es möglich ist, aus einer Wiederholungsschleife auszusteigen, wenn das Muster erkannt und bearbeitet wird. Unsichtbare Loyalitäten spielen in Familiensystemen oft eine große Rolle und können zu Blockaden führen, die für Außenstehende völlig unverständlich erscheinen.

Auch Betroffene verstehen sich oft selbst nicht und kritisieren sich für ihr Verhalten. Sätze wie „Ich nehme mir immer wieder vor, mehr Sport zu machen, aber ich kriege es nicht hin. Ich bin eben faul“ oder „Ich wünsche mir eine feste Partnerschaft. Warum fange ich immer wieder Affären mit verheirateten Männern an? Wie kann man nur so unfähig sein“ hört Gunther Schmidt in Beratungen oft. Doch seiner Erfahrung nach sind Faulheit oder Unfähigkeit selten der Grund für destruktive Verhaltensmuster. Häufig stecke dahinter ein unbewusster Loyalitätskonflikt: „Da gibt es eine Seite in der Person, der soll es gutgehen. Gleichzeitig gibt es eine andere Seite, die das Gefühl hat, wenn sie es sich gutgehen lässt, macht sie sich schuldig an der Mutter, am Vater oder einem anderen Familienmitglied. Natürlich besteht keine echte Schuld, aber es wird innerlich so verarbeitet.“

„Ich ehre euren Weg, und ich gehe meinen“

Deshalb sei es wichtig, sich zu fragen, welche Folgen es hätte, wenn man sein Verhalten ändern würde: Welche Auswirkungen hätte es auf meine Eltern, wenn ich auf meine Gesundheit achten würde? Wenn ich in einer glücklichen Beziehung lebe? Wenn ich nicht so ängstlich wäre wie meine Mutter, sondern mutig? Schmidt erinnert sich an die Arbeit mit einer jungen Frau, die voller Selbstvorwürfe in die Therapie kam. Sie hatte beste Noten, trotzdem schloss sie ihr Studium nicht ab. Schmidt habe in dieser Beratung vor allem geschaut, welche Loyalitäten im Familienkontext bestehen könnten, die dieses Verhalten begünstigten. Die entscheidende Frage lautete: Was könnte eine Rolle dabei spielen, dass die Studentin sich ihre weitere Entwicklung als Akademikerin nicht erlaubt? Bezogen auf welche unbewussten Erwartungen könnte ihr Verhalten verständlich werden?

„Ich gehe immer davon aus, dass ein solches Verhalten kein Versagen ist, sondern auf einer anderen Ebene eine verstehbare, kluge Handlung. Etwas in der Person versagt sich aus guten Gründen, die nur sichtbar werden, wenn der Blick sich auf das gesamte System weitet.“ Es stellte sich heraus, dass eine Tante im Krieg Dienstmädchen in einer Akademikerfamilie gewesen und dort grausam behandelt worden war. Unter anderem ließ man sie hungern. Die Schilderungen hatten in der Nichte starken Eindruck hinterlassen. Sie hatte sich mit dem Schicksal ihrer Tante identifiziert und unbewusst beschlossen, nie Akademikerin zu werden.

Die gute Nachricht ist: Solche Loyalitäten, die das Leben schmerzhaft einschränken, lassen sich lösen, allerdings nicht auf einer rein intellektuellen Ebene. Die Einsicht, dass man sich als erwachsene Person auch selbst die Erlaubnis geben kann, erfolgreich zu sein, reicht oft nicht aus. Häufig gebe es einen kindlichen, nicht bewussten Wunsch danach, die Zustimmung der Eltern oder Großeltern zu bekommen, beobachtet der Psychologe Roland Kopp-Wichmann. Er schlägt vor, sich den Vater oder die Mutter auf einem Stuhl gegenüber vorzustellen und sinngemäß zu sagen: „Ich ehre euren Weg, und ich gehe meinen. Ich nehme das, was ich von euch bekommen habe, und mache etwas Eigenes daraus.“ Die gute Nachricht: Es ist nie zu spät für eine geglückte Ablösung. Auch im fortgeschrittenen Erwachsenenalter lassen sich Verstrickungen lösen, selbst wenn die Personen, um die es geht, bereits gestorben sind.

Sie wollen mehr von Roland Kopp-Wichmann lesen? Ein Interview mit dem Psychologen und Coach über den Zusammenhang von Konflikten im Job und familiärer Prägung lesen Sie hier: „Der eigene Erfolg wird als Verrat an der Herkunft erlebt“.

Gunther Schmidt arbeitet bei Loyalitätskonflikten oft mit „imaginativen Interviews“. Er bittet seine Klientinnen und Klienten, in die Rolle der Person zu gehen, von der sie sich eine Erlaubnis wünschen. Die junge Studentin führte einen solchen imaginierten Dialog mit ihrer Tante. „Als die Tante ihrer Nichte die Erlaubnis gab, den Abschluss zu machen, konnte die junge Frau ihr Studium beenden.“ Die verinnerlichten Loyalitätskonflikte lockerten sich.

In ihrem Buch Wie die Familie unser Leben bestimmt, zeigt die Ärztin und systemische Therapeutin Birgit Hickey, wie stark der Impuls sein kann, leidvolle Liebesbeziehungen über Generationen zu wiederholen, und wie der Ausstieg aus dem Muster gelingen kann: Eine 50-jährige Patientin beklagte im Erstgespräch, dass sie immer wieder an denselben Typ Mann gerate: „Entweder er ist verheiratet oder in einer anderen Form von Partnerschaft und kann sich nicht ganz für mich entscheiden. Obwohl mir das bewusst ist und es mir nicht guttut, kann ich mich nicht trennen, halte die Dreiecksbeziehung aufrecht.“

Nie feste Beziehungen?

Seit ihrem 20. Lebensjahr hatte sie immer wieder Beziehungen mit gebundenen Männern und war auch nach der Geburt ihrer zwei Kinder nie verheiratet. Als sie in die Therapie kam, trennte sie sich ein weiteres Mal von einem Mann, der nicht bereit war, seine Frau zu verlassen. Im Genogramm der Frau zeigte sich, dass es in der Familiengeschichte mehrfach Dreiecksbeziehungen gab. So hatte einer ihrer Großväter bis an sein Lebensende Außenbeziehungen, die Großmutter erduldete das. Auf der anderen Familienseite waren beide Ehemänner der Großmutter früh gestorben.

Als sie dieses Muster erkannte, wurde der Frau klar, dass sie unbewusst Beziehungserfahrungen aus ihrer Familie wiederholte. „Diese Erkenntnis wirkt sich unmittelbar entlastend auf die Patientin aus. Sie nimmt wahr, dass ihr bisher für sie nicht nachvollziehbares Verhalten in einem größeren Kontext einen Sinn ergibt und sie mit ihren Vorfahren verbindet“, schreibt Birgit Hickey. Und das ist eine gute Basis, um ungute Mustern zu durchbrechen.

Auch Gunther Schmidt hat in der psychotherapeutischen Arbeit immer wieder erlebt, dass es mehr Möglichkeiten gibt als die Wiederholung. Er sei beispielsweise häufig Männern begegnet, die von ihren Vätern geschlagen wurden, die ihrerseits bereits von den Großvätern misshandelt worden waren. „Schon als Kinder haben diese Männer sich vorgenommen, es später anders zu machen und ihren eigenen Kindern die Beschämung und das Leid zu ersparen. Und sie setzen diesen Vorsatz in beeindruckender Weise um.“

Aus belastenden Erfahrungen lernen, es besser zu machen

Für ihn ist das ein Beispiel dafür, wie aus einer höchst belastenden Erfahrung ein konstruktiver Lernprozess werden kann. „Das Leidhafte muss gewürdigt werden, aber auch die Lernprozesse und wertvollen Kompetenzen, die dadurch entwickelt wurden“, findet Schmidt. Zum Beispiel das Wissen darum, wie wichtig es ist, mit Kindern geduldig, verlässlich und liebevoll umzugehen. Oder wie gut es der Atmosphäre in der Familie tut, wenn sich Erwachsene mit eigenen aggressiven Impulsen auseinandersetzen – und verantwortungsvoll damit umgehen.

Die Familientherapeutin Sandra Konrad weist darauf hin, dass der Blick in die Familiengeschichte nicht nur hilfreich sein kann, um sich selbst besser zu verstehen, sondern auch die eigenen Eltern und Großeltern. Dadurch entsteht manchmal neue Nähe. Wenn wir von den Eltern etwas Wichtiges nicht bekommen haben und darüber traurig sind, hilft es, in die Vergangenheit der Eltern zu schauen und zu sehen: Wie sind sie aufgewachsen? Was war ihre Sehnsucht, was haben sie vermisst? „Und vielleicht waren sie uns die besten Eltern, die sie sein konnten in Anbetracht ihrer eigenen Geschichte“, sagt Konrad.Manchmal ist es auch wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass viele der Muster, denen wir in unserer Familiengeschichte begegnen, nur verständlich werden vor dem Hintergrund von zwei Weltkriegen. Das könne helfen, Vorwürfe loszulassen, die wir Richtung Eltern oder Großelterngeneration schicken, so Anke Lingnau-Carduck.

Irgendwann spüre man dann oft einen Punkt, an dem man sagen kann: Ich nehme jetzt eine andere Perspektive ein und schaue mir auch bewusst die Stärken an, die ich in unserer Konstellation entwickeln konnte. So hätten beispielsweise Kinder psychisch kranker Eltern im Erwachsenenleben oft eine große Gelassenheit im Umgang mit gewissen Verrücktheiten, seien geduldig mit Menschen, die etwas anders sind: „Im beengten Raum, in dem sie aufgewachsen sind und viel vermisst haben, konnten sie gleichzeitig Kompetenzen entwickeln, die sich im Erwachsenenleben nutzen lassen“, sagt Lingnau-Carduck.

Inventur der inneren Strategien

Es geht um Inventur: Welche Strategien habe ich entwickelt, die mir Kraft geben, mein Leben zu gestalten? Welche Strategien haben sich gebildet, die mich heute eher behindern? Was will ich bewahren? Was soll zurücktreten? Und wo sind Schätze, die ich noch gar nicht gesehen habe und die ich jetzt anerkennen kann?

So ist es möglich, dass ein Kind psychisch erkrankter Eltern nun bewusster wahrnimmt, welche positiven Einflüsse in der Familie gewirkt haben. Vielleicht gab es Phasen in der gemeinsamen Familiengeschichte, die ruhiger waren und in denen die besonderen Stärken von Vater und Mutter in gemeinsamen Aktivitäten, Gesprächen oder im Alltag hervortraten. In dieser Phase der Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte können laut Anke Lingnau-Carduck auch eher bestimmte Familienkompetenzen wie Humor, Kreativität, Gewissenhaftigkeit, Neugier oder Interesse an Bildung sichtbar werden. Wenn im Beratungsprozess Sätze fallen wie „Meine Mutter hat mir beigebracht, Geschichten zu erzählen“ oder „Mein Vater wollte immer lernen, irgendwie habe ich das von ihm übernommen“, ist das Zeichen dafür, dass man an diesen Schätzen aus der Familie angedockt hat und anfängt, ihnen auch im eigenen Leben mehr Platz zu geben.

Gleichzeitig kann man in dieser Phase auch noch einmal offener auf die gesamte Familiengeschichte gucken, auf Cousins und Cousinen, auf Groß- und Urgroßeltern, und dort bewusster nach Vorbildern suchen, stärkende oder stützende Menschen entdecken. Manchmal erkennt man im Rückblick, wie viel Einfluss ein unterstützender Großvater genommen hat, mit dem man Pilze suchen war und den Gartenzaun repariert hat und der mit seiner besonnenen, zugewandten Art im Nachhinein prägend war.

Oder man schaut sich die früh verstorbene Großmutter in der Genogramm-Arbeit noch mal unter einem anderen Blickwinkel an, entdeckt plötzlich, wie geschäftstüchtig, mutig oder sozial sie im jüngeren Erwachsenenalter gewesen ist.Laut Anke Lingnau-Carduck kann man üben, diese Stärken aus der Familie noch gezielter in den Blick zu nehmen und sie sich zu eigen zu machen. Als einen Teil der Familie, mit dem man verbunden ist. Als Goldstücke, die man sich nur aus dem Schlamm zu angeln braucht. Die so wertvoll sind, dass sie das Leben bereichern.

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Quellen

Barbara Couvert: Vererbte Geschichte. Wie psychische Erfahrungen an nachfolgende Generationen weitergegeben werden. Carl-Auer 2024

Birgit Hickey: Wie die Familie unser Leben bestimmt – Genogramm und systemische Aufstellungen. Carl Auer 2024 (2. Auflage)

Sandra Konrad: Das bleibt in der Familie. Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten. Piper 2014

Mielke H., Gutknecht S.: Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz e.V.: Dossier Kinder suchtkranker Eltern, 2017/1, 1-6

Georg A.K. , Meyenhöfer S, Traubner S., Jana Volkert (2023): Is parental depression related to parental mentalizing? A systematic review and three-level meta-analysis. Clinical Psychology Review, 104, 102322

Radebold H., Bohleber W. , Zinnecker J. : Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten: Interdisziplinäre Studien zur Nachhaltigkeit historischer Erfahrungen über vier Generationen, Beltz Juventa 2009

Schulz, S. (2023): Die intergenerationale Transmission von Scheidung im zeitlichen Wandel. Eine Meta-Analyse mit gepolten Originaldaten. Zeitschrift für Soziologie, 52 (3)

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 9/2025: Die geheimen Muster meiner Familie