Tritt man durch die Eingangstür, wird die Umgebung sofort kleiner. Ob Garderoben, Tische und Stühle, die Küchenzeile oder sogar Waschbecken und Toiletten: Alles im Kindergarten ist der kindlichen Körpergröße angepasst, damit selbst die Jüngsten möglichst selbständig und selbstkompetent ihren Alltag bewältigen können, auf Augenhöhe im wörtlichen Sinn. „Selbstbildung“ lautet das Schlagwort der Elementarpädagogik. Im Gegensatz zur Schule findet Lernen im Kindergarten in erster Linie durch Spielen statt:…
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mentarpädagogik. Im Gegensatz zur Schule findet Lernen im Kindergarten in erster Linie durch Spielen statt: Unbekanntes wird mit allen Sinnen erforscht, neue soziale Rollen und ihre Wirkungen werden ausprobiert, die Leistungsfähigkeit des Körpers wird auf die Probe gestellt.
Bereits 1840 gründete Friedrich Fröbel den ersten Kindergarten der Welt in Blankenburg, Thüringen. Ihn leitete die Intention, Kinder wie Pflanzen im Garten zu umsorgen und ihre Anliegen ernst zu nehmen. Heute gibt es Einrichtungen mit verschiedenen Ausrichtungen, wie etwa Montessori- oder Reggiopädagogik, und mit enormen Raumunterschieden, die sich nicht zuletzt aus den verschiedenen gesetzlichen Vorgaben der einzelnen Bundesländer ergeben. Verantwortlich für Bildungsprozesse, auch räumliche, sind allerorts die Pädagoginnen und Pädagogen, deren Einfluss auf die kindliche Entwicklung nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Sie steuern maßgeblich mit, wie emotional geborgen sich die Kleinen im Kindergarten fühlen.
Die Tragödie, wenn Mama geht
Das Ankommen und Verabschieden von den Eltern erleben die Kinder vor der Tür oder im Flur. Für alle führt der erste Weg zu einem festen Garderobenplatz, der idealerweise mit dem eigenen Foto gekennzeichnet ist. Diese tägliche Routine sowie die Exklusivität des ganz persönlichen Bereichs schaffen Vertrautheit und Sicherheit. Schätze wie heimlich mitgebrachte Schnuller, Tücher mit Zuhauseduft oder Fundstücke wie Glitzersteine können die Kinder hier sicher aufbewahren und bei Bedarf als Trost nach Konflikten oder Misserfolgen rasch hervorholen.
Eltern verbinden diesen Bereich dagegen vielleicht durchaus mit Zeitdruck oder Stress: Eigentlich sollte man schon am Arbeitsplatz sein oder zumindest auf dem Weg, doch das Kind braucht noch Kuschelzeit oder weint, weil ihm der Abschied schwerfällt. In einigen Einrichtungen hängen im Eingangsbereich zudem Infotafeln, die das Herz der Eltern aus verschiedenen Gründen höher schlagen lassen: Fotos und Berichte von Projekten finden sich hier, aber auch Hinweise zum Krankenstand des Personals, zu kursierenden ansteckenden Kinderkrankheiten wie Windpocken oder einer drohenden Läuseausbreitung.
Bohnen, Klötze, Kinderküche
Gespielt wird in den Gruppenräumen oder – je nach Konzeption – in themenspezifischen Funktionsräumen wie dem Bewegungsraum oder dem Atelier. Hier finden Kindergartenkinder bestenfalls einen anregungsreichen Spielraum im doppelten Wortsinn vor. In kleineren und größeren Bereichen, die mit einfarbigen Teppichen oder niedrigen Regalen, gläsernen Schiebetüren oder Vorhängen voneinander abgegrenzt sind, vertiefen sich verschiedene Gruppierungen mitunter ziemlich lautstark ins Gespräch und ins Tun. Je deutlicher die Bereiche abgetrennt sind, desto länger und intensiver findet Spielen und damit Lernen statt, so das Ergebnis einer Studie.
Da kann man Kinder beobachten, die in einer Kiste mit Bohnen emsig löffeln, schütten und umfüllen und dabei wichtige mathematische und physikalische Vorerfahrungen sammeln. Andere schlüpfen vor einem goldgerahmten Spiegel in bunte Verkleidungen oder probieren sich in der Kinderküche in verschiedenen Rollen aus. Auf einem Teppich sind einige Jungen und Mädchen damit beschäftigt, Bausteine in wackelige Höhen zu stapeln, und erweitern dabei ihre Kenntnisse zu Statik und Schwerkraft. Nebenan pinseln zwei junge Künstler in Malschürzen an einer Staffelei Gelb und Blau übereinander und entdecken so Grundprinzipien der Farbenlehre.
Im versteckten Wohlfühlort
Insgesamt herrscht ein turbulentes Treiben auf engem Raum. Während Expertinnen und Experten eine Indoorspielfläche von 6 Quadratmetern pro Kind empfehlen, stehen Kindern in Deutschland im Mittel nur 2,7 Quadratmeter zur Verfügung; die durchschnittliche gesetzliche Vorgabe liegt bei 2,4 Quadratmetern. Dabei ist Bewegung ein besonders wichtiges Bedürfnis von Kindern. Neben der Beengung, crowding genannt, ist die hohe Lautstärke der größte Stressfaktor. Messungen in Kindergärten ergaben eine Belastung von 80 bis 85 Dezibel, was normalerweise den Einsatz von Gehörschutz verlangt.
Der Lärmpegel wirkt sich auf den Spracherwerb und die Qualität der Kommunikation aus, die Aggressivität steigt an und gleichzeitig nehmen passive Verhaltensweisen zu. Von herausragender Bedeutung sind daher Rückzugsorte. Das sind idealerweise nischenartige Höhlen, die mit gemütlichen Materialien und in warmen Farben ausgestattet sind, um einerseits Schutz und andererseits die Verarbeitung von Erlebnissen und Emotionen zu ermöglichen. Dies deckt sich mit der Wahrnehmung von vier- bis sechsjährigen Kindern, die „geheime Verstecke“ und Orte zum Rückzug sowie zum ungestörten Spielen als besondere Wohlfühlorte benennen. Die Welt im Kindergarten mag für Erwachsene klein aussehen – für Kinder passiert hier lebensentscheidend Großes.
Claudia Kirchsteiger studierte soziale Verhaltenswissenschaften und ist Expertin für elementare Bildungseinrichtungen am Institut für Wohn- und Architekturpsychologie in Graz. Seit zwei Jahren arbeitet sie zudem wieder als Elementarpädagogin in Oberösterreich.
Quellen
Joachim Bensel u. a.: Raum und Ausstattung in Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege. In: Susanne Viernickel u. a.: Qualität für alle. Wissenschaftlich begründete Standards für die Kindertagesbetreuung. Herder 2016
Enrico Birkner: Auswirkungen der Raumstruktur eines Kindergartens auf das kindliche Verhalten und Erleben. Forschungsbericht. Technische Universität Dresden 2004
Iris Nentwig-Gesemann, Klaus Fröhlich-Gildhoff: Wohlbefinden und seelische Gesundheit. Konkretisierungen aus der Perspektive von vier- bis sechsjährigen Kindern. Frühe Bildung, 11/3, 2022, 115–124
Rotraut Walden, Simone Kosica: Architekturpsychologie für Kindertagesstätten. Pabst Science Publishers 2011