Der Mensch ist nie allein. Ob in der überfüllten U-Bahn, am heimischen Schreibtisch oder in den endlosen Steppen Sibiriens: Stets ist er von anderen Lebewesen umgeben. Und zwar in einem Ausmaß, das sich die wenigsten von uns vorstellen können: In und auf dem menschlichen Körper tummeln sich rund eine Billiarde Mikroben, vor allem Bakterien und Pilze. Eine Billiarde ist eine Eins mit 15 Nullen. Rein rechnerisch ist Homo sapiens damit mehr Mikrobe als Mensch. Auf jede Zelle seines Körpers kommen rund zehn der…
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kommen rund zehn der winzigen Mitbewohner. Zusammen wiegen sie geschätzt zwei Kilogramm.
Eine ekelhafte Vorstellung? Das wäre ungerecht gegenüber unseren Untermietern. Denn längst haben Forscher erkannt, dass der Mensch ohne sie gar nicht lebensfähig wäre. Sowohl seine Verdauung als auch sein Immunsystem lägen danieder. Und es zeigt sich immer stärker, dass selbst eine Reihe moderner Zivilisationskrankheiten zumindest zum Teil auf eine gestörte Darmflora zurückgehen könnte. Allen voran Übergewicht und Typ-2-Diabetes, wahrscheinlich aber auch psychische Erkrankungen wie etwa Depressionen.
Zahlreiche Gene in den Darmbakterien
In dem bis zu acht Meter langen Verdauungsorgan, dessen Umhüllung mit ihren zahlreichen Ausstülpungen locker eine Fläche von zwei Tennisplätzen einnimmt, leben geschätzt bis zu hundert Billionen Mikroben. Da sie sich im Darm an ein Leben ohne Sauerstoff angepasst haben, sind die meisten von ihnen im Labor nur schwer zu kultivieren. Lange Zeit führten sie deswegen ein Schattendasein. Auf die Spur gekommen ist man ihnen erst, als es vor einigen Jahren möglich wurde, ihre Erbgutfragmente in Stuhlproben zu analysieren. Inzwischen kennt man mehrere tausend Arten von Darmbakterien, die zusammen rund hundertmal so viele Gene mit sich bringen, wie der Mensch besitzt.
Das sich im Darm tummelnde Leben ist in den vergangenen Jahren mehr und mehr ins Zentrum des wissenschaftlichen Interesses gerückt. Mit einem Gesamtbudget von 22 Millionen Euro finanzierte die europäische Forschungskommission in Brüssel zwischen 2008 und 2012 das Projekt MetaHIT (Metagenomics of the Human Intestinal Tract), eine Art Volkszählung unserer Mitbewohner. Die US-Gesundheitsbehörde NIH rief zeitgleich das noch aufwendigere Human Microbiome Project ins Leben. Das mit 115 Millionen Dollar (89 Millionen Euro) finanzierte Vorhaben soll demnächst abgeschlossen werden.
Unser Darm als zweites Gehirn
Der Einfluss unserer Darmbewohner ist nicht auf ihre Behausung beschränkt. „Immer mehr Studien deuten darauf hin, dass die Zusammensetzung der Darmflora Auswirkungen auf den gesamten Organismus hat, vermutlich auch auf unser Gehirn“, sagt Stefan Bischoff, der Direktor des Instituts für Ernährungsmedizin der Universität Hohenheim in Stuttgart.
Dass Darm und Psyche eng miteinander verflochten sind, ist schon seit dem Altertum bekannt. Wer glücklich oder freudig erregt ist, fühlt Schmetterlinge im Bauch. Stress hingegen schlägt den meisten Menschen auf den Magen. Eine wichtige Prüfung steht an, der Chef bittet um ein Gespräch, der oder die Liebste gesteht einen Seitensprung? Schon rumort es heftig im Bauch. Manchen Menschen schnürt Stress regelrecht den Magen zu. Andere fangen wahllos zu essen an, um ihren Kummer zu lindern. Der französische Aufklärer Voltaire soll im 18. Jahrhundert gar konstatiert haben, dass das Wohl und Wehe einer Nation nur allzu oft von der Verdauung ihres Anführers abhänge.
Auch viele Wissenschaftler gehen inzwischen so weit, den Darm als das zweite Gehirn des Menschen zu bezeichnen. Tatsächlich sind in die Wand des großen Organs gut hundert Millionen Nervenzellen eingebettet. Das sind mehr Neuronen, als es im Rückenmark gibt. Die Botenstoffe, mit denen die Nervenzellen des Darms miteinander kommunizieren, sind die gleichen wie im Gehirn. „Der Darm ist viel autonomer als die meisten anderen Organe“, sagt der Biopsychologe Paul Enck von der Medizinischen Universitätsklinik Tübingen. „Im Vergleich zu ihm ist das Herz nur eine dumme Pumpe.“
Schon länger haben Forscher auch erkannt, dass nicht nur das Gehirn Signale an den Darm sendet. Auch das Verdauungsorgan schickt Informationen ans Gehirn – unter anderem ins limbische System, wo Emotionen verarbeitet werden. Mit weitreichenden Folgen: „Der Darm beeinflusst unsere Gefühle und unser Verhalten sehr viel stärker, als wir lange Zeit dachten“, ist Peter Holzer überzeugt. Der Österreicher ist Professor für Experimentelle Neurogastroenterologie an der Medizinischen Universität Graz.
Die Boten des Darms
Tierversuche haben gezeigt, dass es mindestens vier Wege gibt, über die Gehirn und Darm miteinander kommunizieren: über Nerven, Hormone, Zytokine – das sind Botenstoffe des Immunsystems – und über die Bakterien und Pilze des Darms, das Mikrobiom.
Gastroenterologen kennen inzwischen mehr als zwanzig Hormone des Darms, die womöglich einen Einfluss auf die Psyche haben. In Versuchen mit Mäusen konnten Peter Holzer und seine Kollegen etwa zeigen, dass die Tiere depressiv wurden, wenn ihnen ein Darmhormon namens Peptid YY fehlte. Nachdem die Forscher den Nagern das Hormon genetisch entfernt hatten, zeigten sich die Tiere stressanfälliger als gewöhnliche Artgenossen. „Insgesamt legten sie ein Verhalten an den Tag, wie es für Depressionen typisch ist“, sagt Holzer. Das Peptid YY ist kein Einzelfall. Auch für das Hungerhormon Ghrelin habe man einen antidepressiven Effekt nachweisen können, berichtet Holzer.
Darüber hinaus gibt es dem Forscher zufolge Hinweise, dass auch die Zytokine, die Immunbotenstoffe des Darms, Einfluss auf die Psyche ausüben. So habe man in der Vergangenheit immer wieder beobachtet, dass Patienten mit Krebs oder multipler Sklerose, die wegen ihrer Krankheit bestimmte Zytokine, sogenannte Interferone einnehmen mussten, in der Folge eine Depression entwickelten.
Auch der bekannte Zusammenhang zwischen chronischem Stress und Depressionen könnte durch die Zytokine erklärbar sein. „Ständige Erschöpfung trägt vermutlich dazu bei, dass die Darmschleimhaut durchlässiger wird“, sagt Holzer. „So gelangen mehr bakterielle Bestandteile in die Darmwand und aktivieren dort das lokale Immunsystem, das vermehrt Zytokine ausschüttet.“ Diese gelangen ins Gehirn und führen dort womöglich zu depressiven Verstimmungen oder Angsterkrankungen.
Nicht immer psychosomatisch
Manche Forscher spekulieren, dass solche Mikroentzündungen im Darm auch Auslöser des Reizdarmsyndroms sein könnten, das die meisten Ärzte bislang für psychosomatisch hielten. Womöglich hat das Syndrom aber auch eine ganz andere Ursache: „Die Forschung hat zuletzt immer wieder gezeigt, dass das Mikrobiom eine Schlüsselrolle bei der Entstehung des Reizdarmsyndroms einnehmen könnte“, sagte der Spanier Fernando Azpiroz von der Europäischen Gesellschaft für Neurogastroenterologie und Motilität im Februar auf einem Forschertreffen in Madrid. Unter anderem gebe es Hinweise, dass bei den Patienten die Zahl der Bakterienarten im Darm deutlich reduziert sei.
Werden so fundamentale Dinge wie unsere Emotionen und unser Verhalten vom Darm her mitbestimmt – und von den Winzlingen, die in ihm leben? Solche Fragen, so abwegig sie auch anmuten, werden derzeit intensiv erforscht.
Noch zeigen die Studien ein lückenhaftes Bild, aber fest steht: Es gibt ein Wechselspiel zwischen den Bakterien im Darm und unserem Gehirn. Diese Darm-Hirn-Connection wird derzeit vor allem in Tierexperimenten erforscht. Kanadische Forscher um Stephen Collins von der McMaster University in Hamilton etwa verabreichten Mäusen eine Woche lang eine Mixtur von Antibiotika, die bestimmte Bakterien im Darm abtöten.
Die Tiere seien daraufhin sehr viel waghalsiger geworden als ihre unbehandelten Artgenossen, berichten die Wissenschaftler. Gleichzeitig habe man im Gehirn der behandelten Tiere einen erhöhten BDNF-Spiegel feststellen können. Das Protein BDNF (Brain-Derived Neurotrophic Factor) steuert im Gehirn das Wachstum von Nervenzellen. Setzten die Forscher die Antibiotika ab, normalisierten sich sowohl die Darmflora als auch die Hirnchemie und das Verhalten der Tiere.
Durch Darmbakterien zum Draufgänger
In einem weiteren Versuch übertrugen Collins und seine Kollegen die Darmbakterien eines Mäusestamms, der für seine Erkundungsfreude bekannt ist, auf zurückhaltende Artgenossen. Diese wurden daraufhin ebenfalls mutiger. Auch umgekehrt funktionierte das Experiment: Pflanzten die Forscher den von Natur aus neugierigen Mäusen die Darmbakterien der ängstlichen Tiere ein, ließ ihr Erkundungsdrang nach.
Irische Forscher um John Cryan vom University College Cork berichten von ähnlichen Ergebnissen. Sie fütterten einen Teil ihrer Labormäuse mit Bakterien der Art Lactobacillus rhamnosus, die auch in Joghurt enthalten sind. In Kletter- und Schwimmexperimenten zeigten sich die Tiere anschließend mutiger und ausdauernder als die Mäuse der Vergleichsgruppe. Zudem stieg bei ihnen der Spiegel des Stresshormons Kortikosteron in kniffligen Situationen weniger stark an.
Darüber hinaus beobachteten die Forscher, dass sich im Gehirn der Tiere die Zahl der Andockstellen für den angstmindernden Botenstoff GABA erhöhte. Es scheint also, als hätten ihre neuen Darmbewohner die Tiere draufgängerischer gemacht.
Depressionen durch gestörte Darmflora?
In einem zusätzlichen Experiment durchtrennten Cryan und seine Kollegen den Vagusnerv der Mäuse, über den Informationen zwischen Gehirn und Darm ausgetauscht werden. Erst dann fütterten sie die Tiere mit Milchsäurebakterien. Doch diesmal zeigte der Speiseplan keine Wirkung. Offenbar muss diese Verbindung des autonomen Nervensystems intakt sein, damit Bakterien Einfluss aufs Gehirn nehmen, schlussfolgern die Forscher.
„Inwieweit solche Ergebnisse auf den Menschen übertragbar sind, ist aber mehr als fraglich“, gibt der Tübinger Forscher Paul Enck zu bedenken. Sein österreichischer Kollege Peter Holzer geht da schon einen Schritt weiter: „Die Vorstellung, dass das Mikrobiom bei der Entstehung psychischer Erkrankungen eine große Rolle spielt, gewinnt zunehmend an Bedeutung“, sagt er. Patienten, bei denen beispielsweise ein Reizdarm diagnostiziert wurde, leiden oft auch unter Angsterkrankungen und depressiven Verstimmungen. Holzer hält es durchaus für denkbar, dass solche Symptome die Folge einer gestörten Darmflora sind – und nicht die Ursache.
Wer sich mit der Wechselwirkung von Darm und Psyche beschäftigt, wird allerdings immer auf eine entscheidende Frage stoßen: Was war zuerst da, die Henne oder das Ei? Denn dass es einen Zusammenhang zwischen Verdauungs- und psychischen Problemen gibt, sagt nur sehr wenig darüber aus, welche Erkrankung die andere bedingt. „Noch gilt zu beweisen, was hier Ursache und was Wirkung ist“, sagt auch Peer Bork vom Europäischen Laboratorium für Molekularbiologie in Heidelberg.
Genau dieser Frage ist der Biochemiker und Informatiker auf der Spur. Weltweites Aufsehen erregte eine von ihm im Jahr 2011 in der Fachzeitschrift Nature publizierte Studie, der zufolge sich die Darmflora von Europäern ebenso wie die von Amerikanern und Asiaten in drei Gruppen einteilen lässt – und zwar unabhängig vom Alter oder der Gesundheit der Probanden. Bei jedem dieser drei Enterotypen dominieren bestimmte Bakterienstämme.
Probiotika lassen freundliche Gesichter leichter erkennen
Wie es zu einer solchen Gruppenbildung kommt, ist noch offen. Dennoch schlug die Entdeckung hohe Wellen. „Nur wenige Tage nach der Veröffentlichung des Artikels saßen drei koreanische Forscher bei mir“, erzählt Bork. „In der traditionellen chinesischen Medizin unterscheidet man ebenfalls zwischen drei häufigen Typen, und meine Gäste vermuteten einen Zusammenhang zu meinen Beobachtungen.“
Bork bekam Unmengen von E-Mails, zum Teil zwanzig Seiten lang. Die Absender: Menschen mit Darmproblemen, denen kein Arzt hatte helfen können. Sie alle hofften, über eine Manipulierung ihrer Darmflora ihre Beschwerden zu lindern.
Bis dahin allerdings ist es noch ein weiter Weg. Denn methodisch gute Studien am Menschen sind bislang kaum vorhanden. „Mir ist nur eine einzige seriöse Arbeit bekannt, die sich mit der Auswirkung von Probiotika auf die menschliche Psyche befasst hat“, sagt Paul Enck. Diese Studie erschien jetzt in der Juniausgabe der Zeitschrift Gastroenterology. Das Team um Kirsten Tillisch und Emeran Mayer, dem Direktor des Center for Neurobiology of Stress an der University of California in Los Angeles, verabreichte einem Teil seiner Probanden einige Wochen lang Probiotika, also lebende Mikroorganismen. Die anderen Teilnehmer erhielten, ohne es zu wissen, ein Placebo.
Anschließend untersuchten die Forscher das Gehirn ihrer Probanden im Kernspintomografen. Dabei zeigten sich deutliche Unterschiede zwischen den beiden Gruppen. Auch soll es den Teilnehmern, die echte Probiotika erhalten hatten, leichter gefallen sein, freundliche Gesichter auch als solche zu erkennen. „Ob man aus derartigen Ergebnissen allerdings herauslesen kann, dass Probiotika vor psychischen Erkrankungen schützen, halte ich für äußerst zweifelhaft“, sagt Enck.
Ohnehin dürfte es nicht ganz so einfach sein, das Mikrobiom im Darm gezielt zu manipulieren. Sich mit Joghurt glücklich zu essen, wäre wohl zu banal, um wahr zu sein. Denn wie soll sich ein Billionenheer im Darm von ein paar armseligen Bakterientruppen aus dem Joghurtbecher beeinflussen lassen?
Meine Darmflora und ich
Nichtsdestoweniger sind Forscher auf der ganzen Welt gewillt, mehr über die Einflüsse des Mikrobioms auf den Menschen herauszufinden. Auch der Heidelberger Forscher Peer Bork: Sein Ziel ist, die Darmflora von mindestens 5000 Menschen genetisch zu analysieren und sie mit den Ernährungs- und Lebensgewohnheiten der Probanden zu vergleichen.
Da solche Forschung teuer ist, hat er ein ganz besonderes Projekt ins Leben gerufen: my.microbes heißt es und soll Menschen bewegen, ihre Darmflora auf eigene Kosten, derzeit noch knapp tausend Euro, entschlüsseln zu lassen. Zahlreiche Interessierte sind diesen Schritt schon gegangen. Insgesamt haben die Wissenschaftler inzwischen mehr als tausend Stuhlproben analysiert.
„Anhand der Proben können wir bereits einzelne Krankheiten diagnostizieren und Resistenzen gegen Antibiotika nachweisen“, sagt Bork. Und noch etwas kann der Forscher versprechen: „Sobald wir genügend Teilnehmer zusammen haben, machen wir aus unserer Seite ein soziales Netzwerk.“ Dann können sich Probanden mit einer ähnlichen Darmflora weltweit über ihre Beschwerden austauschen und so den Ursachen womöglich gemeinsam auf die Spur kommen. Gut, dass der Mensch auch in dieser Hinsicht nicht allein ist.
Quellen
Klaus-Dietrich Runow: Der Darm denkt mit – Wie Bakterien, Pilze und Allergien das Nervensystem beeinflussen. Südwest, München 2011
P. Bercik, S. Collins u.a.: The intestinal microbiota affect central levels of brain-derived neurotropic factor and behavior in mice. Gastroenterology, 141, 2011, 599–609
J. Bravo, J. Cryan u.a.: Ingestion of Lactobacillus strain regulates emotional behavior and central GABA receptor expression in a mouse via the vagus nerve. PNAS, 108, 2011, 16050–16055
M. Arumugam, P. Bork u.a.: Enterotypes of the human gut microbiome. Nature, 473, 2011, 174–180
K. Tillisch u.a.: Consumption of fermented milk product with probiotic modulates brain activity. Gastroenterology, 144, 2013, 1394–1401
Das Darmprojekt um Peer Bork finden Sie hier: http://my.microbes.eu