Das Selbst willkommen heißen

Was immer wir tun, unsere inneren Stimmen geben „ihren Senf“ dazu. Das kann ausbremsen und entmutigen. Wie gehen wir mit diese Stimmen richtig um?

Eine junge Frau mit dunklen, kurzen Haaren und gelbem Shirt sitzt vor ihrem Laptop und denkt über sich nach
Was tun, wenn innere Stimmen „ihren Senf“ dazugeben und einen ausbremsen? © Westend61/Getty Images

Der Kauf eines neuen Autos steht an. Seit längerem schon haben Sie ein ganz bestimmtes Modell im Auge. Das Design gefällt Ihnen ausgesprochen gut, die Automarke ist eingeführt – also auf zum Händler und eine Probefahrt vereinbart. Alles prima, nur als Zweitürer möchten Sie den Wagen nicht, es müsste schon ein Viertürer sein, sonst ist auf der Rückbank zu wenig Raum. „Im Viertürer haben die Mitfahrer auch nicht mehr Platz, das scheint nur so“, klärt der Verkäufer Sie auf. Der Platzmangel: ein Manko. Ein…

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Verkäufer Sie auf. Der Platzmangel: ein Manko. Ein weiteres: der Preis. Sie bekommen für dieses Geld einen weitaus besser ausgestatteten Wagen.

Und jetzt geht es los, das Stimmengewirr in Ihrem Kopf. Da ist der Designfreak, der schon lange begeistert ist von diesem Auto. Sein Argument: „Wann werden denn schon vier Leute in diesem Auto transportiert?“ Nun aber meldet sich der Vernünftige und meint: „Wenn du im Auto sitzt, siehst du das tolle Design gar nicht.“ Die Sparsame stört sich am Preis: „Du zahlst nur das Image.“ Das sind aber nicht die einzigen Stimmen, die auf Sie einschwätzen. Da gibt es noch die Mütterliche, die meint, das Auto habe zu viele PS und sei damit eine potenzielle Gefahr. Und eine andere Stimme, die wohl dem Kritiker in Ihnen gehört, verurteilt Sie als „angeberisch“ und „statussüchtig“. Prompt fühlt sich die Bescheidene angesprochen und glaubt, sich verteidigen zu müssen: „Ich brauche doch kein Statussymbol.“ Und das Kind in Ihnen quengelt vielleicht: „Ich hätte aber Spaß an dem Auto!“ Was also tun, wie sich entscheiden? Die Verwirrung ist perfekt.

Was hier in der fiktiven Situation „Autokauf“ passiert, ist nichts Ungewöhnliches. Wir alle sprechen häufig nicht mit einer Stimme, sondern werden oft durch die unterschiedlichsten Meinungen, die sich aus unserem Inneren melden, verunsichert. Nicht immer ist uns das bewusst – in der Regel laufen diese Prozesse unbemerkt ab, beeinflussen aber unsere Gefühle und oft auch unsere Handlungen. Je nach Situation fühlen wir uns dann hin und her gerissen, suchen nach perfekten Lösungen, wissen nicht, wie wir uns entscheiden sollen oder betrachten uns als unfähig, die Dinge geregelt zu bekommen. Eher selten wissen wir ganz klar, was wir wollen und dass wir schon alles richtig machen werden.

Innere Stimmen: „Saboteure“ und „Mentoren“

Die Autorin Ursula M. Wagner unterteilt die inneren Stimmen in Saboteure und Mentoren. Denn einige sind uns wohlgesonnen, andere aber blockieren und irritieren uns. Unser Wohlbefinden und unsere Zuversicht hängen davon ab, welche Gruppe sich am lautesten durchsetzen kann. Sind die Mentoren am Ruder, sind wir zufriedener mit uns und unserem Handeln; bestimmen die Saboteure das Geschehen, fällt uns das Leben eher schwer.

Es gibt Stimmen, die uns beeinflussen? Das hört sich zunächst etwas „verrückt“ an. Doch die Saboteure und Mentoren, die sich in unserem Seelenleben tummeln, sind kein Hinweis auf eine seelische Erkrankung, sie haben nichts mit Schizophrenie oder der multiplen Persönlichkeitsstörung zu tun, bei der ein Mensch bestimmte Persönlichkeitsteile abspaltet und von einer Sekunde auf die andere ein völlig verändertes Verhalten annehmen kann. Die inneren Anteile eines gesunden Menschen repräsentieren vielmehr die „normale Vielfalt unserer Psyche“, erklärt der Psychotherapeut Richard C. Schwartz. Therapeuten haben diese Vielfalt seit jeher mit unterschiedlichen Metaphern beschrieben. Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, hat darauf aufmerksam gemacht, dass wir nicht „Herr im eigenen Hause“ sind, sondern dass unser Fühlen, Denken und Handeln durch Kräfte, die aus dem Unbewussten wirken, beeinflusst wird. Moderne Psychologen und Seelenexperten sprechen von „Schemata“, „Ich-Anteilen“, „Gewohnheitsmustern“, „Teilen“, dem „inneren Team“ oder von der „inneren Familie“, deren Mitglieder je nach Situation die Regie führen.

Wie auch immer man das Geschehen in uns nennt, es ist sinnvoll, seinen Einfluss bewusster wahrzunehmen, als wir das in der Regel tun. Denn nur selten leben die verschiedenen Teile in trauter Eintracht und in einem ausgewogenen Verhältnis nebeneinander. Meist sind die Saboteure in der Überzahl, und die Mentoren können sich nur selten Gehör verschaffen. Erschwerend kommt hinzu: Die einzelnen Teile ziehen nur selten an einem Strang. „Wir sind keineswegs immer ein Herz und eine Seele“, erklärt der Psychologieprofessor Friedemann Schulz von Thun, der für das vielstimmige Innenleben die Metapher des „inneren Teams“ verwendet. Die heftigen Meinungsverschiedenheiten unter den Teammitgliedern können uns sehr belasten und uns in allen möglichen Lebenskontexten mit ihrer unterschiedlichen Einschätzung der Lage irritieren. Ob in Alltagssituationen (Soll ich die Freundin zur Rede stellen?), bei Lebensentscheidungen (Kann ich den ungeliebten Job kündigen?) oder bei herausfordernden Aufgaben (Ist die Arbeit schon gut genug?) – die Stimmen geben „ihren Senf“ dazu. Sie kritisieren, haben Bedenken, machen uns Angst, entmutigen uns, treiben uns an, und nur in Ausnahmefällen flüstern sie uns Lobendes und Bestärkendes ins Ohr. 

Die Stimmen meinen es gut mit uns

So unterschiedlich sich die Stimmen äußern und so negativ ihr Wirken erscheint – alle haben eines gemeinsam: die Motivation. Sie meinen es gut mit uns, erklären die Psychotherapeuten Tom und Lauri Holmes, denn sie „entstehen mit dem Ziel, uns bei der Anpassung an körperliche, seelische und soziale Bedürfnisse zu helfen“. Ohne sie könnten wir die diversen Aufgaben des Lebens nicht bewältigen.

Am einfachsten zu verstehen ist dabei der Sinn jener „Teile“, die unser Überleben sichern. Sie sorgen dafür, dass wir nicht verhungern und uns fürsorglich um unseren Nachwuchs kümmern. Andere Teile, Richard C. Schwartz nennt sie Manager, unterstützen uns darin, „die Beziehung zu unserem sozialen Umfeld möglichst erfolgreich zu gestalten“, wie das Autorenpaar Holmes schreibt. Die Manager wissen, was richtig und falsch, was gut und böse ist und was sich gehört. Sie repräsentieren Moral und Gewissen, sie sind unser Über-Ich. Manager entstehen in der Kindheit. Im Prozess der Erziehung ziehen sie ihre Schlussfolgerung aus den Verboten und Geboten, mit denen Eltern ihre Kinder konfrontieren.

So weit, so gut. Doch wie reale Personen können auch unsere inneren Teilpersönlichkeiten durch Übereifer und zu große Besorgnis ihr eigentlich gutes Wirken ins Gegenteil verkehren.

Dann mutieren die Manager zu Tyrannen, die in unangenehmer Weise aktiv werden: als innere Kritiker, denen nichts gut genug ist, was wir tun; als Antreiber, die uns keine Pause gönnen; als Anerkennung Suchende, die dafür sorgen, dass wir unsere eigenen Interessen vernachlässigen; als Hilfsbereite, die wollen, dass wir unsere Bedürfnisse zugunsten anderer hintanstellen; als Entwerter, die uns als dumm und inkompetent erscheinen lassen, oder als Perfektionisten, die immer nur das Beste von uns erwarten.

Stress kann „verbannte“ innere Teile reaktivieren

Warum aber schießen die Manager derart über das Ziel hinaus? Um das zu verstehen, muss man sich mit einer weiteren Gruppe von inneren „Teilen“ vertraut machen: Richard C. Schwartz nennt sie die Verbannten. Bei ihnen handelt es sich um Erfahrungen, die wir irgendwann aus dem bewussten Erleben verdrängt haben: schmerzhafte Kindheitserinnerungen, traumatische Erfahrungen, Demütigungen, Kränkungen, schamvolle Erlebnisse. „Verbannt“ können aber auch jene Teile sein, die wir als nicht liebenswert, als falsch und unerwünscht wahrnehmen mussten, weswegen wir versuchten, sie loszuwerden. So manchem erging es in der Kindheit wie der Autorin Debbie Ford, die von den Eltern hören musste: „Sei nicht ärgerlich, sei nicht selbstsüchtig, sei nicht gemein, sei nicht gierig. ‚Sei nicht‘ war die Botschaft, die ich internalisiert habe … Ich glaubte, dass ich all diese Impulse loswerden müsste, um in meiner Familie und der Welt überleben zu können. Also tat ich es. Langsam schob ich sie so weit in meinem Bewusstsein zurück, dass ich vergaß, dass sie jemals existiert hatten.“

Verbannte müssen verbannt bleiben, wir haben Angst vor ihnen. Denn die Gefahr ist groß, dass sie durch andere Menschen (die unsere „wunden Punkte“ drücken) oder durch Stresssituationen aktiviert werden. „Alles, was uns in unserer Lebensgeschichte (und in unserer Stammesgeschichte) widerfährt, schlägt sich in unserer Seele nieder, je nachdem, wie wir es verarbeiten. Und was sich innerlich niedergeschlagen hat, ist allzeit bereit, wieder geweckt zu werden und sich im Bedarfsfall zu melden“, schreibt Friedemann Schulz von Thun. Das aber ist nicht in unserem Sinne. Wenn wir unsere verbannten Teile spüren, dann werden damit auch die mit ihnen in die Verbannung geschickten Gefühle wieder spürbar – das Gefühl der Minderwertigkeit, der Scham, der Bedürftigkeit, der Verletzlichkeit.

Um die Verbannten in der Verbannung belassen zu können und uns vor ihrer Aktivität zu schützen, müssen die Manager aktiv werden. Sie versuchen sozusagen im Vorfeld, eine möglicherweise drohende Aktivierung des Verdrängten abzufangen. Zum Beispiel indem sie uns auf Trab halten und uns dazu bringen, dass wir möglichst nett, tüchtig, fleißig, stark und perfekt sind.

„Feuerbekämpfer“ und „Manager“: Schutz zum Preis des Zwanghaften

Sollten die Manager mal nicht aufgepasst haben und die Verbannten aktiviert worden sein, ruft das eine weitere Gruppe von „Teilen“ auf den Plan – die Feuerbekämpfer. Sobald Gefühle der Wertlosigkeit, der Selbstzweifel, der Angst auftauchen, lenken sie uns ab: beispielsweise durch intensiveres Arbeiten, durch Essen oder Alkohol, durch stundenlanges Fernsehen, surfen im Internet oder durch exzessives Sporttreiben. Beide Gruppen, Manager wie Feuerbekämpfer, handeln in bester Absicht – sie versuchen, uns vor unseren verdrängten Teilen zu schützen. Doch so positiv ihre Motive sind, sie haben keinen guten Einfluss auf unser Wohlbefinden und unsere Lebenszufriedenheit, wie Richard C. Schwartz ausführt: „Zum Beispiel führen viele Menschen, die von Managern dominiert werden, ein schales Leben, das nur darauf ausgerichtet ist, ihre Sicherheit zu garantieren. Menschen, die von ihren Feuerbekämpfern ‚überfallen‘ werden, erleben einen Zustand ständiger Unruhe, in dem sie von einer Ablenkung zur nächsten unterwegs sind und nicht mehr zur Ruhe kommen aus lauter Angst, dass ihre Verbannten die Oberhand gewinnen könnten … Jeder, der von einer dieser drei Gruppen dominiert wird, hat etwas Zwanghaftes und Eingeschränktes an sich, weil nur ein kleiner, extremer Teil von ihnen präsent ist.“

Das klingt entmutigend. Können wir überhaupt ein freies Leben führen, wenn diese inneren Persönlichkeiten so mächtig sind? Müssen wir wie Marionetten auf die Aktivitäten unser Manager, Feuerbekämpfer und Verbannten reagieren? Nicht, wenn wir eine Instanz aktivieren, die sich aus einer übergeordneten Warte um die diversen Stimmen kümmert.

Richard Schwartz nennt diese Instanz das „Selbst“, Schulz von Thun spricht vom „Oberhaupt“, und beide meinen damit einen Bewusstseinszustand, der es uns ermöglicht, das Treiben unserer „Teile“ aus sicherer Distanz zu betrachten und steuernd einzugreifen. „Seine Aufgabe besteht darin, sich um einzelne Teammitglieder zu kümmern, die innere Dynamik in konstruktive Bahnen zu lenken und dafür zu sorgen, dass der Mensch als Ganzes sich nach außen so verhält, dass es für ihn und nach Möglichkeit auch für andere gut ist“, erklärt die Psychotherapeutin Dagmar Kumbier die Funktion des Oberhauptes.

„Innere Teile beobachten, ohne von ihnen vereinnahmt zu werden“

Die Arbeit mit den „inneren Teilen“ oder dem „System der inneren Familie“ hat das Ziel, diese Instanz, das Selbst, zu stärken und handlungsfähig zu machen. Denn wenn das Selbst nicht aktiv werden kann, führt das zu einem „erbärmlichen Selbstkonzept“, so Schwartz.

Menschen glauben dann, „die vielen extremen Gedanken und Gefühle, welche sie erleben, machten aus, wer sie sind“. Können wir dagegen mithilfe des Selbst unseren Zorn auf den Partner, das lähmende Schamgefühl oder die ständig kritisierende Stimme in uns als einen „Teil“ von uns betrachten, „erlangen wir etwas Distanz zu den überwältigenden Emotionen“, erklärt das Autorenteam Tom und Lauri Holmes. Wir sind dann „in der Lage, innere Teile zu beobachten, ohne von ihnen vereinnahmt zu werden. Wir sind dann nicht der Ärger oder die Trauer. Der ärgerliche oder traurige Persönlichkeitsteil sind nicht mit uns verschmolzen.“

Im Idealfall kennt das Oberhaupt alle Teile, interessiert sich für ihre Meinung, aber macht sie sich nicht zu eigen, sondern versucht, aus der Vielzahl der Stimmen diejenige herauszufiltern, die ihm selbst am meisten entspricht. Das Selbst braucht dazu eine grundsätzliche „Willkommenshaltung“, erklärt Friedemann Schulz von Thun. „Was immer sich in mir regt und rührt, was immer in mir aufkommt, sei mir willkommen als Sendbote eines Geschehens, das auch zu mir gehört, selbst wenn es nur ein Teil von mir ist.“ Ganz besonders sollte das Selbst jene Teile willkommen heißen, die nicht so recht in sein Bild von sich zu passen scheinen. Nur so kann es verhindern, dass diese Teile „eine Untergrundbewegung gründen und eine Machtergreifung der Seele versuchen“, wie Schulz von Thun meint.

Die Autorin Ursula M. Wagner beschreibt, wie diese „Willkommenshaltung“ in der Realität erarbeitet werden kann. Folgende Schritte sind dazu notwendig:

• Zunächst sollte man alle Teammitglieder – auch die unangenehmen – einladen und sie auffordern, ihre Ansichten zu der anstehenden Entscheidung oder einem Problem zu äußern.

• Dann hat das Oberhaupt die Aufgabe, die Teammitglieder zu identifizieren: Wer spricht da? Der Kritiker? Die Sorgenvolle? Der Unbekümmerte? Der Traditionelle? Gibt es auch unterstützende Stimmen?

• Im nächsten Schritt wird das Team strukturiert. Wer vertritt ähnliche Ansichten, welche Meinungen passen zusammen? Auf diese Weise werden die „Unterstützer“, die „Gegner“ oder die „Neutralen“ sichtbar.

• Nun geht es darum, gemeinsam zu handeln und zu entscheiden. Ursula M. Wagner empfiehlt in dieser Phase: „Sprechen Sie über Ihr Ziel mit jeder Figur einzeln, fragen Sie, was passieren müsste, damit die Figur Ihr Vorhaben unterstützt, bringen Sie einzelne Mitglieder miteinander in Dialog.“

Wer so vorgeht, hat am Ende einen guten Eindruck davon, was wirklich in ihm geschieht. Er ist dann den inneren Stimmen nicht mehr ausgeliefert, sondern kann ihren gut gemeinten Rat und ihre Einwände aus einem gewissen Abstand heraus sichten und bewerten.

Im Fall des anstehenden Autokaufs kann am Ende eines solchen, vom Oberhaupt geleiteten Teamdialogs die Entscheidung stehen: „Ich fahr einfach mal ein anderes Modell Probe, das meinem vernünftigen Teil sinnvoller erscheint und den sparsamen beruhigt. Wenn der Fahrspaß gewährleistet ist, wäre das ein guter Kompromiss. Und mein nach Freude suchendes Kind ist dann auch zufrieden.“

Literatur

  • Tom Holmes, Lauri Holmes: Reisen in die Innenwelt. Systemische Arbeit mit Persönlichkeitsanteilen. Kösel, München 2013 (3. Auflage)

  • Dagmar Kumbier: Das Innere Team in der Psychotherapie. Methoden- und Praxisbuch. Klett-Cotta, Stuttgart 2013

  • Friedemann Schulz von Thun, Wibke Stegemann (Hg.): Das Innere Team in Aktion. Rowohlt TB, Reinbek 2004

  • Friedemann Schulz von Thun: Miteinander reden 3. Das „Innere Team“ und situationsgerechte Kommunikation. Rowohlt, Reinbek 2013 (21. Auflage)

  • Richard C. Schwartz: IFS. Das System der Inneren Familie. Ein Weg zu mehr Selbstführung. Books on Demand, Noderstedt 2008

  • Richard C. Schwartz: Systemische Therapie mit der inneren Familie. Klett-Cotta, Stuttgart 1997

  • Ursula M. Wagner: Das Kairos-Prinzip. So finden Sie den richtigen Zeitpunkt für den beruflichen Wechsel. Campus, Frankfurt a. M. 2013

Welche „Teile“ verursachen welche Symptome?

Depression und Bulimie aus der Sicht des inneren Teams

Das Modell des „inneren Teams“ oder der „inneren Familie“ ist sehr gut geeignet, um sich selbst besser kennenzulernen und Klarheit in schwierigen Lebenssituationen zu finden. Es wird daher zunehmend in Coaching- und Beratungsprozessen eingesetzt. Aber auch zur Diagnose seelischer Erkrankungen ist das Modell geeignet, denn es bietet die Möglichkeit einer sehr individuellen Diagnose. „Diagnostische Etiketten wie ‚Depression‘, ‚Prüfungsangst‘, ‚Arbeitsstörung‘ sind sehr abstrakt und allgemein“, schreibt Friedemann Schulz von Thun. Sie gehen von den beobachtbaren und beschreibbaren Symptomen aus. Arbeitet man dagegen mit dem Modell des inneren Teams, so fragt man nach den inneren Vorgängen, die zu den entsprechenden Symptomen führen. Dann kann „die Depression von Hans ein sehr anderes Gesicht haben als die Depression von Franz; erst im Bild des inneren Teams tritt die individuelle Dynamik zutage“, so Schulz von Thun.

Die Psychotherapeutin Dagmar Kumbier verdeutlicht dies beispielhaft an den Störungsbildern „Depression“ und „Bulimie“. Im Falle einer Depression kann man davon ausgehen, dass heftige Gefühle in die Verbannung geschickt worden sind und von Managern bewacht werden. Diese sorgen mit ihren je individuellen Methoden dafür, dass die verdrängten Gefühle nicht gespürt werden müssen. Häufig sind bei einer Depression folgende „Teile“ aktiv, wie Kumbier schreibt:

Da gibt es den Wütenden, der aggressiv ist, sich wehren möchte, der aber von einem Manager in Schach gehalten wird, weil ein Konflikt gefürchtet wird.

Meist existiert ein Teil, der um einen Verlust trauert, diese Trauer aber nicht zeigen darf, weil ein Manager befürchtet, dass die Trauer dem Umfeld des Betroffenen nicht zugemutet werden kann.

Und manchmal wird auch ein spielerischer, lebensfroher Teil in der Verbannung gehalten, weil es ein anderes Teammitglied gibt, das diese Positivität nur schwer aushalten kann.

Gelingt es den Managerteilen nicht mehr, das Verbannte zu beherrschen, machen sich die abgespaltenen Gefühle bemerkbar, und die Depression taucht auf. Sie ist die Folge des Konfliktes, der sich zwischen den Gefühlen, die endlich gespürt werden wollen, und den sie bewachenden Managern entwickelt. In der Psychotherapie steht dann im Vordergrund „die Erkundung dessen, was die Abspaltung dieses Teammitglieds nötig gemacht hat, und die Suche nach einem anderen Umgang mit den zugrunde liegenden Erfahrungen und Gefühlen“, erklärt Kumbier.

Bei einer Essstörung wie der Bulimie liegen nach dem Modell des inneren Teams zwei kindliche Teammitglieder in Konflikt. Der eine Teil versucht mit äußerst rigiden Methoden das Essverhalten zu kontrollieren, der andere wehrt sich verzweifelt gegen dieses strenge Regiment. Je intensiver die Teile agieren, desto schlimmer ist der Teufelskreis zwischen ungezügeltem Essen und Erbrechen ausgeprägt. In der Arbeit mit dem inneren Team liegt das Interesse vor allem auf den Entstehungsbedingungen der beiden konkurrierenden Teile: Gab es jemanden in der Familie, der dick und unmäßig in seinem Essverhalten war oder sehr kontrolliert und lustfeindlich? Versucht der kontrollierende Teil dann möglicherweise alles, um nicht so zu werden wie das schlechte Vorbild? Oder ist die Essstörung ein „Versuch der Selbstversorgung und des Trostes“, weil man früher zu wenig emotional genährt worden ist?

Quelle: Dagmar Kumbier: Das Innere Team in der Psychotherapie. Methoden- und Praxisbuch. Klett-Cotta, Stuttgart 2013

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 11/2013: Unsere inneren Stimmen