In der Gruppentherapie: Herr K.* ist Mitte 50 und leidet an wiederkehrenden Depressionen. Sie begannen vor einigen Jahren, nachdem er seine Anstellung als Orthopädietechniker verloren hatte. Gegen einen wiederholt abgelehnten Rentenantrag hat er gerade Widerspruch bei der Rentenkasse eingelegt, während das Jobcenter ihn für nicht vermittelbar hält. Immer wieder klagt er in der Therapie über die Behörden, die ihn nicht ernst nähmen. Dabei habe er seit Anfang 20 eingezahlt. „Das ist doch keine…
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über die Behörden, die ihn nicht ernst nähmen. Dabei habe er seit Anfang 20 eingezahlt. „Das ist doch keine Gerechtigkeit!“ Die anderen Patienten und Patientinnen nicken erbost.
Die Rolle verlassen
Mit meiner eigenen, linksliberalen politischen Gesinnung merke ich, wie ich Herrn K. innerlich zustimme. „Ja, es muss mehr umverteilt werden. Wer braucht schon leerstehende Luxuslofts, während meine Patientinnen und Patienten in Not auf der Straße landen?“, denke ich, halte mich jedoch in meiner Rolle als Therapeut zurück. Mit dieser therapeutischen Zurückhaltung und mit meinen Werten stoße ich jedoch an eine Grenze, als Herr K. zu einer Tirade ansetzt, in der er schließlich erklärt: „Und den Ukrainern und der Waffenindustrie blasen sie hier das Geld in den Hintern, während sie uns das Gas aus Russland abdrehen!“ Nach diesem Satz, für den Herr K. von einigen in der Runde Zustimmung erntet, unterbreche ich ihn und schäme mich zugleich, es nicht schon früher getan zu haben. Ich zögere, mich selbst vor der Gruppe politisch zu positionieren, wie es gerade mein Patient tat. Sprach hier ein Patient oder ein Bürger?
Ich entscheide mich schließlich, für einen Moment meine Rolle zu verlassen und mich gemäß meiner eigenen Einstellung zu äußern:„Ich möchte Ihnen sagen, dass ich Ihre politische Meinung nicht teile und Sie zum Teil Fakten verdrehen: Russland hat die Ukraine überfallen und tötet dort jeden Tag unschuldige Menschen wie Sie und ich. Was Russland da tut, möchte ich persönlich nicht durch meine Gasrechnung mitfinanzieren. Aber zurück zu uns: Wir können hier in der Therapie die Gesellschaft und Politik nicht ändern. Hier geht es um Sie. Was können Sie selbst tun?“ Herr K. atmet tief ein und erklärt dann fast trotzig: „Was ich tun kann? Ich bin in meiner Partei aktiv – der AfD.“ Ich erwidere: „Aber wenn Ihnen das reicht, warum sind Sie dann hier? Was ist Ihr Ziel in dieser Behandlung? Über Politik zu diskutieren und andere von etwas zu überzeugen oder etwas an Ihrem Leben zu ändern, damit es Ihnen besser geht?“
Faszination des „starken Führers“
Immer wieder kommen wir in der Gruppentherapie an diesen Punkt, an dem Herr K. mit rotem Kopf und verbitterter Stimme über die politischen Verhältnisse sprechen möchte und dabei in nahezu agitatorischer Weise auf die anderen Mitglieder der Gruppentherapie einredet. Ein Punkt, an dem wir trotz aller klärenden Gespräche nicht weiterkommen, so dass wir beschließen, die Behandlung in einer Einzeltherapie fortzuführen. In diesem veränderten Rahmen wird es möglich, mit Herrn K. auf die Hintergründe seiner Beschwerden, aber auch seines politischen Ressentiments einzugehen.
Wir sprechen über seine Biografie, über seine strengen Eltern, die wie auch die Lehrer in der Schule keinen Widerspruch duldeten, das Ende der DDR, das, wie mich Herr K. mehrfach korrigiert, von ihm und seinen Eltern nicht als „Wende“, sondern als „Zusammenbruch“ erlebt wurde, die Aberkennung seiner Ausbildung im Logistikbereich, seine neue Ausbildung, der mehrfache Verlust des Arbeitsplatzes durch „betriebliche Umstrukturierungen“. Das alles habe ihm jedes Mal den Boden unter den Füßen weggezogen. Dann seien „die Flüchtlingsströme gekommen, die Impfdiktatur, die Klimaregierung und jetzt auch noch der Krieg der NATO gegen Russland“ – das hätte ihm klargemacht, dass sich etwas ändern müsse in diesem Land. So sei er schließlich der AfD beigetreten.
Immer wieder kommt mir in unseren Gesprächen das klassische Konzept des autoritären Charakters der Frankfurter Schule in den Sinn, mit dem eine Persönlichkeit mit einer Tendenz zu autoritären und faschistischen Ideologien beschrieben wird. Der Grundgedanke besteht darin, dass Unterwerfung und Unterordnung gegenüber einer starken Autorität vom eigenen Gewissen entlastet, während gleichzeitig innere Wut über eigenes Versagen an den Schwächeren der Gesellschaft ausagiert werden kann.
Die systematische Entwertung eigener Bedürfnisse und Fähigkeiten sowie die gleichzeitige, mitunter gewaltsame Unterwerfung gegenüber der elterlichen, später staatlichen Autorität scheint mir bei meinem Patienten jene besondere Mischung zu erzeugen: einerseits der mal versteckte, mal offene Hass gegen alles Fremde, „die Ausländer“, und gegen „die da oben“ und den linken Mainstream, der alles lenke; andererseits dieser nahezu kindliche Wunsch nach Anerkennung und Gemeinschaft im Zeichen einer vermeintlich tieferliegenden und umfassenden Autorität („wir Deutschen“) und Vergangenheit, in diesem Fall der DDR – wobei zum Teil auch eine romantische Verklärung Russlands und eine Faszination für seinen heutigen „starken Führer“ Putin hinzutritt.
Als politisches Wesen spürbar werden
In unseren therapeutischen Gesprächen gehen wir auf die Ursprünge dieser Sehnsüchte ein und analysieren Herrn K.s Tendenz, sich selbst infolge der sozialen Entwertungen auch immer wieder selbst zu entwerten. Wir suchen nach Möglichkeiten, mit sich (und anderen) einfühlsamer und nachsichtiger zu sein und im konkreten Umfeld Selbstbestätigung und Anerkennung zu erfahren – anstatt eigene biografische Enttäuschungen im politischen Ressentiment gegen andere auszuleben.In dieser therapeutischen Arbeit wissen wir beide um die gegenseitige Ablehnung unserer politischen Gesinnungen. Immer wieder stößt Herr K. Diskussionen an, in denen er versucht, mir Zustimmung abzuringen, etwa über die angebliche „Klimahysterie“ oder die „Genderdiktatur“. Und ein ums andere Mal widerspreche ich ihm, weise auf die Gefahren hin, die ich in seinen Ansichten für unsere Demokratie sehe, und auf die Ängste, die seine Äußerungen bei mir auslösen.
Dabei ist mir die morgendliche Lektüre der Tageszeitung eine Hilfe. Dies erachte ich mittlerweile als therapeutische Pflicht, um auf gelegentliche Fakenews und Halbwahrheiten, die Herr K. in seinen Sticheleien verwendet, angemessen reagieren zu können. Diese kurzen „Stammtischintermezzi“ sind in mehrfacher Hinsicht wichtig: In ihnen testet Herr K. unsere therapeutische Beziehung. Denn darin werde ich hinter meiner Rolle als Therapeut für ihn als politisches Wesen spürbar und damit auch als Therapeut für ihn authentischer, gerade auch indem ich ihm widerspreche.
Die Interemezzi sind zudem politischer (Mikro-)Diskurs und damit wichtig für unser demokratisches System, von dessen Funktionieren auch die Versorgung psychisch Kranker abhängt. Vor allem aber agiert Herr K. in diesen Diskussionen seine Wut und Enttäuschung aus, was teilweise nötig scheint, um diese überhaupt erst im Nachhinein mit mir auf ihre Ursprünge hin untersuchen zu können. Dass Herr K. dies zulässt, ist Ausdruck davon, dass unsere therapeutische Beziehung belastbar ist. Jedoch: Eine solche Auseinandersetzung mit sich selbst wird im Therapieverlauf immer schwieriger.
Herr K. scheint in seiner Wut und in seiner Unzufriedenheit keine Resonanz mehr in seinem Umfeld zu finden. Zunehmend gerät er in hitzige Diskussionen mit anderen, bis sich seine Partnerin schließlich von ihm trennt. Verbittert zieht er sich immer weiter zurück, verlässt kaum noch seine Wohnung und erscheint auch zu unseren Terminen nicht mehr. Endlich erreiche ich ihn per Telefon. In einer erneuten schweren Depression hat er seit Tagen nichts mehr zu sich genommen und wird schließlich über den Sozialpsychiatrischen Dienst in die Klinik eingewiesen. Nach der stationären Behandlung will er sich wieder bei mir vorstellen.
* Persönliche Daten und alle Einzelheiten, die den Patienten erkennbar machen könnten, wurden verändert
Dr. med. Dr. phil. Samuel Thoma ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie an der Hochschulklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der MHB, Immanuel-Klinik Rüdersdorf.
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