Liegt ein Monster unter meinem Bett? Ich will heute nicht in die Schule. Und morgen auch nicht. Ich kriege Panik, wenn ich an den Klimawandel denke. Wenn Kinder und Jugendliche Ängste haben, ist es wichtig zu wissen: Was ist normal, auch bezogen auf Alter und Entwicklungsstand? Und ab wann sollten Eltern und Lehrerinnen genauer hinschauen?
Über diese Fragen hat Psychologie Heute-Chefredakteurin Dorothea Siegle mit Professorin Dr. Silvia Schneider und Kinder- und Jugendlichentherapeut Andreas Fryszer via Zoom…
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Liegt ein Monster unter meinem Bett? Ich will heute nicht in die Schule. Und morgen auch nicht. Ich kriege Panik, wenn ich an den Klimawandel denke. Wenn Kinder und Jugendliche Ängste haben, ist es wichtig zu wissen: Was ist normal, auch bezogen auf Alter und Entwicklungsstand? Und ab wann sollten Eltern und Lehrerinnen genauer hinschauen?
Über diese Fragen hat Psychologie Heute-Chefredakteurin Dorothea Siegle mit Professorin Dr. Silvia Schneider und Kinder- und Jugendlichentherapeut Andreas Fryszer via Zoom gesprochen. In dem 90-minütigen Live-Talk konnten nicht alle Fragen der Zuschauerinnen und Zuschauer beantwortet werden. Wir haben die häufigsten Chat-Fragen zusammengefasst und sie den beiden Expertinnen im Nachgang gestellt – hier sind ihre Antworten.
Alter bei Ersterkrankung
Sie sagen, Ängste entwickelten sich bereits sehr früh in der Kindheit, bei 50 Prozent haben sich diese bereits bis zum Alter von elf Jahren entwickelt. Sind Angsterkrankungen eine der ersten psychischen Erkrankungen überhaupt?
Schneider: Ja, das ist so. Man muss sich klarmachen, dass Angsterkrankungen der Schrittmacher für andere psychische Störungen sind, die sich im weiteren Lebensverlauf entwickeln können. Wir wissen aus einer breit angelegten US-amerikanischen Studie, dass es zwei Störungsbilder gibt, die besonders früh beginnen: Das sind die Angsterkrankungen und das ist ADHS, also die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung. Bei der amerikanischen Befragung berichtete die Hälfte aller Menschen mit einer diagnostizierten Angsterkrankung, dass sie bereits mit elf Jahren die erste Angsterkrankung hatten. Dreiviertel der Befragten sagte, sie hatten schon vor dem 24. Geburtstag die ersten Angsterkrankungen. Die Trennungsangst, die bereits vor dem sechsten Lebensjahr beginnt, gibt recht zuverlässig Auskunft darüber, wer im frühen Erwachsenenalter an Panikstörungen oder an Agoraphobie – das ist die Angst, das eigene Zuhause zu verlassen – erkranken wird. Daran docken sich im Erwachsenenalter typischerweise die Depression und sucht- und substanzbezogenen Störungen an, das ist das klassische Verlaufsmutter.
Ab welchem Alter treten Phobien erstmalig auf?
Fryszer: Phobien treten schon relativ früh auf, bereits ab dem zweiten Lebensjahr. Ein Beispiel aus meiner Praxis: Ein dreijähriger Junge hat panische Angst vor Spinnen. Die hat er im Alter von eineinhalb bei einem Thailand-Urlaub erworben. Da lag er mit seinen Eltern am Strand, die Eltern haben, während er schlief, kurz etwas geholt. Der Junge wurde wach, die Eltern waren weg, dabei krabbelte eine Spinne über die Decke. Die Eltern waren gleich wieder da und sahen die Spinne noch. Die Phobie ist eine Lernerfahrung wie bei der klassischen Konditionierung nach Pawlow: Die Spinne wurde von dem Jungen mit dem Zustand des Alleinseins verknüpft. Die meisten Phobien hören in der Regel mit neun oder zehn Jahren einfach wieder auf.
Trauma als Krankheitsursache
Können frühkindliche traumatische Erfahrungen Ängste auslösen? Das fragen sich Eltern, deren heute 5-jährige Tochter in der zehnten Lebenswoche längere Zeit auf einer Isolationsstation im Krankenhaus verbringen musste. Aufgrund der Infektion mussten die Eltern Maske und Schutzkleidung tragen und waren zeitweise von dem Mädchen getrennt. Heute verweigert sie sich ärztlichen Untersuchungen. Ab wann können Kleinkinder Erinnerungen bilden?
Schneider: Wir gehen davon aus, dass Erinnerungen, erst ab ca. drei Jahren gebildet und abgerufen werden können. Das Mädchen wird also den Krankenhausaufenthalt vermutlich nicht bewusst erinnern können. Aus Forschungen an Primaten, die ohne die Mutter sein mussten, wissen wir aber, dass das Fehlen von taktilen Reizen und Berührungen negative Auswirkungen auf den Nachwuchs hat. Das ist auch beim Menschen so. Das Mädchen hat möglicherweise eine ähnliche Erfahrung gemacht.
Ich sehe aber noch etwas anderes: Auch mit den Eltern hat dieser Klinikaufenthalt etwas gemacht, ich gehe davon aus, dass die Trennung von der Tochter und die Sorge auch sie stark belastet haben. Dadurch entwickelten sie womöglich Erwartungen, was dieses Ereignis mit der Tochter machen könnte. Sie nehmen die Tochter dann auch in dieser Hinsicht wahr und achten auf bestimmte Verhaltensweisen besonders sensibel. Kinder können nonverbale Botschaften sehr gut wahrnehmen. Man darf diese unbewussten Prozesse nicht unterschätzen. Die Art und Weise, wie man sein Kind sieht, beeinflusst sein Selbstbild. Es ist verständlich, dass die Eltern besonders sensibel und fürsorglich mit der Tochter umgehen, wenn sie annehmen, dass sie sehr früh ein traumatisches Erlebnis hatte. So bekommt das Kind eine ganz bestimmte Rolle zugeschrieben, die es übernimmt. Dann kommt man zu dem Schluss: Mein Kind muss zwangsläufig Angst vor Ärzten haben.
Wie geht man mit einem Kind um, dass etwas Schlimmes erlebt hat?
Schneider: Ich finde es wichtig, dass man seinen Kindern etwas zutraut, denn sie sind stärker, als Eltern mitunter denken. Wir tun unseren Söhnen und Töchtern keinen Gefallen, wenn wir sie als hilflose Wesen betrachten, die nicht in der Lage sind, das Leben anzugehen. Auch mit einem Trauma kann man weiterleben. Natürlich ist eine traumatische Erfahrung immer eine Narbe, aber ein Trauma kann, wenn es bearbeitet wird, in das Leben integriert werden. Es kann einen letztendlich sogar stärken. Daher: auch wenn Kinder etwas Schlimmes erlebt haben, können sie ein glückliches Leben führen.
ADHS und Angsterkrankung gleichzeitig
Welcher Zusammenhang besteht zwischen einer Angsterkrankung und ADHS?
Schneider: Hier existiert eine Komorbidität, das bedeutet, dass zwei Krankheiten gleichzeitig vorkommen. Grundsätzlich handelt sich jedoch um zwei voneinander getrennte Störungsbilder, bei etwa ein Drittel der Kinder kann neben der Angststörung auch eine ADHS auftreten. Bei ADHS sprechen wir von einer externalisierenden Störung, die sich vor allem im Verhalten zeigt und gut von außen beobachtet werden kann. Bei Angst sprechen wir von einer internalisierenden Störung, die sich im Inneren des Kindes abspielt und schwerer von außen zu beobachten ist. In der zeitlichen Reihenfolge tritt die ADHS typischerweise zuerst auf und dann folgt die Angst. Es gibt zwischen den beiden Erkrankungen weniger genetische Überlappung. Das gemeinsame Auftreten lässt sich eher folgendermaßen erklären: ADHS-Kinder machen sehr früh negative Erfahrungen mit ihrer Umwelt, sie werden aufgrund ihres auffälligen Verhaltens häufig ausgegrenzt oder bestraft und fühlen sich deshalb mit der Situation überfordert. Das kann ein Nährboden für Angststörungen sein.
Beeinträchtigung der kognitiven Entwicklung
Können sich Angsterkrankungen nachteilig auf die kognitive Entwicklung, also auf die geistigen Fähigkeiten, auswirken?
Schneider: Hier entstehen keine Beeinträchtigungen, im Sinne von: Diese Kinder und Jugendlichen sind intellektuell beeinträchtigt. Allerdings können sich kognitive Auffälligkeiten und Biases, also Wahrnehmungsverzerrungen, entwickeln. Die Betroffenen lernen beispielsweise sehr früh, nach potenziellen Gefahren Ausschau zu halten. Zudem springen sie schneller auf Gefahren an als andere und reagieren auf sie mit einem vermeidenden Verhalten.
Zusammenhang Hochbegabung und Ängste
Besteht ein Zusammenhang zwischen einer möglichen Hochbegabung und Ängsten?
Schneider: Hochbegabung kann zu einer Angsterkrankung beitragen. Hochbegabte können sehr sensibel auf Umweltreize reagieren, das macht sie dann auch ein Stück weit ängstlicher. Man kann andererseits sagen, dass eine Hochbegabung auch dabei helfen kann, besser zu bewältigen. Aufgrund der ausgeprägten intellektuellen Begabung der Kinder und Jugendlichen kann man ihnen Angstsymptome gut erklären und ihnen sagen, was sie tun können, um besser damit zurechtzukommen.
Extreme Angst vor Gefahren
Eine Siebenjährige hat Angst vor Vergiftung, Herzinfarkt, Stromschlag. Sie ist zudem sehr unsicher, unkonzentriert in der Schule und hat häufig Alpträume. Sie fürchtet sich, versehentlich mit Giftstoffen in Berührung gekommen zu sein oder Vogelbeeren gegessen zu haben. Was ist da los?
Fryszer: Ich sehe hier zum einen beunruhigende Sorgengedanken: Ich könnte etwas Giftiges gegessen haben. Zum anderen sind das konkrete Ängste wie etwa vor einem Stromschlag. Ich würde auf beides jeweils verschieden reagieren. Ab einem Alter von fünf, sechs Jahren verstehen Kinder, dass es reale Gefahren gibt. Sie lernen dann, dass die Gefahr doch nicht eintritt. Da hilft ein Stück weit die Erklärung der Eltern, dass sie sich beispielsweise vor einem Stromschlag nicht fürchten müssen, weil der sich nicht einfach so ereignet. Wenn man aufpasst, passiert nichts. Diese Vergewisserung hilft. Die Angst des Mädchens vor Vergiftung geht eher in die Richtung einer generalisierten Angststörung, wenn man es pathologisieren will. Dabei hat man viele Gedanken, die einen terrorisieren können. Etwa, dass man gleich tot umfällt, wenn man normale Bauchschmerzen hat.
Hier wäre es gut, mit dem Kind die beunruhigenden Gedanken durchzugehen. Man bittet die Kinder, ihre Befürchtungen aufzuschreiben oder zu benennen, falls sie noch nicht schreiben können. Es sind meist immer die gleichen Horror-Szenarien, die sich nur wiederholen. Sind sie identifiziert, kann man mit dem Kind eine Beobachtungsaufgabe geben: Immer, wenn die Angst, vergiftet zu sein, aufkommt, soll es den belastenden Gedanken erkennen. Dann gilt es, sich an eine Umformulierung zu erinnern, die man erarbeitet hat. Sie könnte etwa lauten: „Es stimmt, Vogelbeeren sind giftig. Ich bin aber keiner begegnet. Mir kann nichts passieren. Alles ist gut.“ Im Kern geht es darum, das Kind in eine Beobachterposition zu bringen und damit Distanz zu gewinnen. Dann kommt der entlastende Satz dazu, der Sicherheit schafft.
Wir haben viele Fragen von Eltern bekommen, die berichten, dass sich ihre Kinder vor vielen irrationalen und unwahrscheinlichen Dingen fürchteten, sie sehen in allem Gefahren und Katastrophen. Was raten Sie hier?
Schneider: Den Konsum der sozialen Medien zu reduzieren! Kinder im Alter von 5,6,7 Jahren sind noch nicht in der Lage zu abstrahieren. Sehen sie ein Unglück am anderen Ende der Welt, erscheint ihnen diese Bedrohung als real. Auch ältere Kinder erhalten über die sozialen Medien Informationen, die nicht altersadäquat sind. Eltern sollten Nachrichten gemeinsam mit den Kindern ansehen, die Ereignisse müssen von den Erwachsenen begleitet werden, indem man den Kindern beispielsweise auf einer Karte zeigt, dass die Katastrophe sich auf einem anderen Kontinent ereignet und man sehr weit von diesem Geschehen entfernt ist. Wir wissen aus einer Vielzahl an internationalen Untersuchungen zu verschiedenen Problemstellungen: Mit einem reduzierten Medienkonsum geht auch ein verbessertes psychisches Empfinden einher.
Soziale Ängste und Trennungsängste
Ein fünfjähriger Junge geht nie von sich auf andere Kinder zu. Sprechen ihn andere an, reagiert er sehr verhalten. In der Kita spielt er nur, wenn seine beiden Freunde da sind. Die Mutter sorgt sich, dass ihr Sohn zum Außenseiter wird und will ihm helfen. Wie können Eltern feststellen, ob ihr Kind introvertiert ist oder an einer Angsterkrankung leidet? Was raten Sie?
Fryszer: Es ist sinnvoll, dass man einem Kind erst einmal Zeit lässt, seinen eigenen Stil zu finden. Im Alter von fünf Jahren kann sich noch ganz viel verändern. Parallel könnten die Eltern soziale Situationen aktiv unterstützen und ihr Kind ermuntern. Soziale Ansätze könnten positiv verstärkt werden, indem man Kontakte zu anderen Kindern anbahnt. Oder das Kind auffordert, einen Kindergeburtstag zu feiern, auch wenn es sagt, es habe keine Lust. Die Schwierigkeit der Eltern besteht darin, die Individualität ihres Kindes zu akzeptieren und gleichzeitig einen Entwicklungsoptimismus zu verinnerlichen. Die innere Haltung einzunehmen: Das wird schon, er oder sie macht seinen oder ihren Weg. Anstatt zu befürchten, dass das Kind zum Außenseiter und Eigenbrötler werden wird.
Ein Vater sorgt sich um seinen Jungen (5 Jahre), der überhaupt nicht alleine sein kann. Die Mutter kann bei offener Haustür nicht zum Briefkasten gehen, ist der Sohn im Auto und der Vater muss kurz noch etwas holen, bleibt der Junge nicht alleine sitzen. Sollten die Eltern sich professionelle Hilfe holen oder selbst „trainieren“? Sie raten ja, das Kind nicht vor Angst auslösenden Situationen zu bewahren, sondern „reinzugehen“.
Fryszer: Genau. Ich würde empfehlen, mit dem Kind kleinste Schritte auszumachen. Dann kann man sehen: Lässt der Junge sich darauf ein oder nicht? Ich würde probieren, ob er alleine in sein Zimmer geht, wenn die Tür auf ist und die Eltern sich nebenan aufhalten. Es ist ratsam, kleine Dinge zu vereinbaren, auszuprobieren. Verlangen, dass das Kind sich der Angstsituation ein wenig aussetzen muss. Eine Art Mini-Expositionstherapie in kleinen Schritten. Und darauf aufbauen, jeden Erfolg loben und immer neue Schritte gehen. Professionelle Hilfe würde ich mir nur holen, wenn der Junge absolut nicht kooperationsbereit ist.
Woran kann es liegen, dass Ängste nur im Zusammenhang mit bestimmten Personen auftauchen? Konkret: Ein Kind hat nur dann panische Angst vor Insekten, wenn die Mutter anwesend ist.
Fryszer: Es könnte sein, dass das Kind seine Ängste ausschließlich gegenüber der Mutter zum Ausdruck bringt. Die gute Nachricht lautet: Das Kind hat diese panischen Ängste nicht bei anderen Menschen. Es könnte sinnvoll sein, das Kind ein wenig loszulassen. Es darin zu unterstützen, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten. Das klingt für mich nicht nach einem Fall, um den man sich viele Gedanken machen müsste.
Sexuelle Orientierungssuche löst Ängste aus
Eine 15-Jährige identifiziert sich als Transgender. Die Eltern fragen sich, ob es einen Zusammenhang zwischen einer frühen Sexualisierung und Ängsten gibt? Die Tochter reagiert häufig emotional über, schließt sich im Zimmer ein. Was sollten die Eltern beachten? Wie können sie den Selbstwert stärken?
Fryszer: Ich würde keinen Zusammenhang zwischen Ängsten und früher Sexualisierung vermuten. Mir sind dazu auch keine Untersuchungen bekannt. Das Mädchen ist stark in der Findung hinsichtlich ihrer geschlechtlichen Orientierung, sie schießt laut der Eltern emotional über. Das ist bei 15-Jährigen nichts Außergewöhnliches. Dennoch bekommt sie/er ihre Emotionsregulation nicht gut auf die Reihe. Sollte sie/er offen sein dafür, Beratung und Hilfe anzunehmen, dann wäre es gut, wenn er/sie sich Unterstützung holt. Die Tochter könnte sich beispielsweise bei einer Erziehungsberatungsstelle für eine Einzelberatung anmelden, dazu würde ich ermuntern.
Nichtsprechen nach Isolation
Eine Vierjährige war krankheitsbedingt bis zum dritten Lebensjahr sozial isoliert, bis auf Kontakte zu den Großeltern. Allerdings sprach das Mädchen nicht mit dem Großvater. Seit einem Jahr besucht sie eine Kita. Die ersten sechs Monate sprach sie kaum ein Wort mit den Erzieherinnen oder den anderen Kindern. Das ändert sich nun. Nach eigenen Aussagen fühlt sie sich in der Kita wohl. Seit rund drei Wochen überkompensiert sie bei fremden Menschen und tobt wild herum. Die Eltern fragen sich, ob das normal ist.
Fryszer: Am Verhalten des Mädchens ist aus meiner Sicht nichts pathologisch. Ich dachte kurz wegen des Großvaters an „selektiven Mutismus“, aber der liegt hier nicht vor, das Mädchen spricht ja mit den Erzieherinnen und den anderen Kindern. Nun geht es stärker aus sich heraus, beginnt zu toben. Ich würde den Eltern empfehlen, die Entwicklung weiter zu unterstützen, die Kleine geht ihren eigenen Weg. Ich sehe nicht, dass sich hier eine Störung anbahnt, da würde ich noch ein bisschen Zeit verstreichen lassen und abwarten. Denn das Mädchen holt gerade nach einer langen Isolation Jahre an fehlenden sozialen Kontakten nach.
Eine weitere Frage zu selektivem Mutismus, dem Nichtsprechen in bestimmten Situationen: Zählt selektiver Mutismus zu den Angsterkrankungen? Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?
Fryszer: Es kommt vor, dass Kinder ausschließlich Zuhause sprechen. Wird das total konsequent und über einen längeren Zeitraum durchgehalten, spricht man von selektivem Mutismus. Längerer Zeitraum hieße für mich über ein Jahr hinweg. Da wäre eine Kinder-Psychotherapie schon gut und hilfreich. Selektiver Mutismus gilt als eigenständiges Störungsbild. Wir therapieren Kinder vorzugsweise in Gruppentherapie, dabei nehmen sie meist eine gute Entwicklung und beginnen zu sprechen. Bei einer Diagnose muss man sich den familiären Hintergrund ansehen, es könnte sein, dass die Familie sehr zurückgezogen lebt, das kann auch eine Ursache sein. Selektiver Mutismus taucht auch im Zusammenhang mit Autismus-Spektrum-Störungen auf. Dann müsste das Sozialverhalten auch in anderen Bereichen gestört sein. Ein Kind wäre dann wenig zugänglich und könnte schwer die Stimmungen anderer erkennen.
Schulangst und Lernbeeinträchtigungen
Eine Lerntherapeutin, die mit Kindern mit Dyskalkulie und Dyslexie arbeitet, fragt sich, wie sie diese bestmöglich unterstützen kann. Die Kinder, darunter auch Erstklässlerinnen, litten unter verschiedenen Ängsten: Trennungsangst von den Eltern, Angst zu lesen und zu schreiben. Ist es empfehlenswert, erst die Angststörung zu bearbeiten und danach die Lernstörung anzugehen? Löst die Lernstörung die Ängste erst aus?
Fryszer: Meiner Erfahrung nach kann man eine einseitige Kausalität in diesem Fall nicht herstellen. Da gibt es keine Linearität. Angst kann dafür sorgen, dass es dem Kind schwerfällt, bestimmte Lernschritte zu gehen, da es unter großem Stress steht. Die Wissenschaft kennt das Phänomen als Window of Stress Tolerance, das besagt: ein mittleres Stresslevel begünstigt das Lernen. Wird es überschritten, laufen kognitive Prozesse nicht mehr richtig ab. Ein hohes Stressniveau beeinträchtigt das Großhirn, das wir für komplexe Lernprozesse brauchen. Umgekehrt ist es so, dass es mich stresst zu lernen, wenn ich per se Lernschwierigkeiten habe. Dann befeuert sich das gegenseitig, es entsteht ein zirkuläres Verhältnis. Ich würde der Lerntherapeutin empfehlen, eine möglichst entspannte Situation mit den Kindern herzustellen, so dass deren Stressbelastung unterbrochen wird. Ich würde die Angst gar nicht thematisieren, sondern versuchen, spielerisch die Kinder in einen entspannten Zustand zu bringen, und dann die Lerntherapie durchführen.
Entspannungsmethoden bei Angst vor Prüfungen und Zahnarzt
Welche Entspannungstechniken eignen sich für Kinder?
Fryszer: Hier verhält es sich bei den Kindern wie bei den Erwachsenen: Bei manchen funktioniert dies besser, bei anderen jenes. Ich würde schauen: Arbeitet dieses Kind eher über den Körper oder über mentale Vorstellungen? Bei Ersterem würde ich Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson empfehlen, bei Letzterem Autogenes Training. Man sollte beides ausprobieren und sehen: Was macht dem Kind mehr Spaß? Wo ist es mehr dabei? Auch wenn Entspannungstechniken für Kinder sehr hilfreich sind, möchte ich eine Einschränkung vornehmen: Die Erwartung, dass Kinder diese Techniken in schwierigen Situationen problemlos ausführen können, ist nicht realistisch. Gerade kleine Kinder sind in stressigen Situationen nicht in der Lage, sich emotional selbst zu regulieren. Hat man die Methoden aber mehrfach eingeübt, können Eltern den Kindern dabei helfen, in die Übungen reinzukommen.
Furcht vor dem Zahnarzt ist über alle Altersstufen hinweg ein Problem. Wie bringt man den Nachwuchs dazu, sich behandeln zu lassen?
Fryszer: Die große Schwierigkeit besteht hauptsächlich darin, eine kooperative Zahnärztin zu finden. Eine, mit der man ausloten kann, was beim Kind geht, und dann dazu Absprachen treffen. Ist die Zahnärztin bereit, einmal außerhalb der Praxis in den Mund zu gucken? Auch hier gilt: Man muss die kleinen Schritte finden, die bei dem Kind und der Zahnärztin möglich sind. Das bedeutet auch, einen gewissen Druck aufzubauen, dass das Kind diese kleinen Schritte geht. Man kann auch mit dem Kind darüber sprechen, wie weit es bereit ist, sich auf die Behandlung einzulassen, wenn der Vater oder die Mutter während der Behandlung mit ihm in Körperkontakt stünden, etwa die Hand auf der Schulter oder auf den Bauch legten. Man kann dann anregen, dass das Kind so atmet, dass die Hand sich hebt und senkt. Das wäre eine angeleitete Entspannungsübung.
Welche Techniken könnten schon Grundschulkindern dabei helfen, akute Panikattacken außerhalb des eigenen Zuhauses zu bewältigen?
Fryszer: Panikattacken sind eigentlich eher unüblich in diesem Alter, die setzen meist erst später ein. Es hilft, sich klarzumachen, dass eine Panikattacke vorübergeht, sie hat einen Peak und dann ebbt sie wieder ab. Das kann man auch einem Kind erklären. Sollte die Panikattacke während des Unterrichts stattfinden, ist es hilfreich, dass das Kind sich sehr aufrecht mit dem Oberkörper hinsetzt und sich bewusst macht, wo es in Körperkontakt mit dem Stuhl ist. Solche Körpersignale vermitteln Sicherheit. Auf diese Wahrnehmung sollte es sich konzentrieren. Wichtig ist, dem Kind zu erklären, sich bei einer aufkommenden Panikattacke auf den Atem und die Körperwahrnehmung zu konzentrieren. Auch wenn man denkt: ich drehe komplett durch!, kann man sich sicher sein, dass eine Panikattacke nicht gefährlich ist und von alleine aufhören wird.
Wie kann man Jugendliche mit akuter Angst vor Prüfungen und Blackouts unterstützen?
Fryszer: Man könnte vorab mit den Jugendlichen die Situation durchimaginieren: Wie wird das sein? Was sagt die Lehrerin, wenn sie reinkommt? Welche Gefühle kommen dann bei dir hoch? Wie bei einer inneren Fantasiereise spielt man das Geschehen im Geiste durch. Dabei sollte die Atmung tief und ruhig sein. Das ist im Grunde genommen eine Desensibilisierung, bei der man dem Jugendlichen hilft, sich in der Prüfungssituation zu fokussieren und zu entspannen. Die Entspannung kann man auch an eine aufrechte körperliche Haltung koppeln. Oder man sagt: Führe einen Bodyscan durch, bei dem du deine körperlichen Empfindungen konkret wahrnimmst. Wo spürst du die Spannung oder Unruhe? Wie fühlt sich das an? Dann erklärt man, wenn du das Aufgabenblatt bekommst und die Panik aufsteigt, nimmst du eine aufrechte Haltung ein, denn mit der äußeren Haltung ändert sich auch die innere Haltung. Bei dieser Übung bedarf es keiner Therapeutin, sondern zugewandten Eltern.
Psychotherapeutische Verfahren und Medikation
Die kognitive Verhaltenstherapie kommt bei Angsterkrankungen sehr häufig zum Einsatz. Weshalb?
Schneider: Die kognitive Verhaltenstherapie ist bei Angsterkrankungen die wirksamste Methode, zahlreiche Studien können das bestätigen. Zudem hat sie sich in der Praxis bewährt. Keine andere Methode oder Technik reicht an die kognitive Verhaltenstherapie heran. Bei 70 Prozent der Behandelten lässt sich durch sie eine Verbesserung erzielen. Wir machen sehr gute Erfahrungen mit der Expositionstherapie, bei der man die Betroffenen den jeweiligen Ängsten konkret aussetzt. Das geschieht spielerisch. Diese Therapieform muss professionell und systematisch vorbereitet werden, wir treffen immer auch Absprachen mit den Kindern und Jugendlichen. Haben Sie die Exposition durchlebt, wächst ihr Selbstwertgefühl, die Ängste nehmen ab. Bei den restlichen 30 Prozent, die nicht auf die Verhaltenstherapie ansprechen, sollte man andere Behandlungsmethoden ausprobieren.
Wäre Brainspotting eine Möglichkeit? Oder würden Sie andere Methoden empfehlen?
Brainspotting ist bislang nicht für Angsterkrankungen im Kindesalter untersucht. Ergänzend zu Kognitiver Verhaltenstherapie können Interventionen zur Förderung eines gesunden Lebensstils zur Anwendung kommen:
Regelmäßige Sportaktivitäten (bis zu 3 Mal die Woche)
Psychoedukation zur Schlafhygiene
Psychoedukation zu ausgewogener, gesunder Ernährung
Falls durch Kognitive-Verhaltenstherapie-Programme keine Reduktion der Angstsymptomatik erreicht werden kann, kann eine achtsamkeitsbasierte Behandlung (Akzeptanz- und Commitment-Therapie, ACT) oder eine psychodynamische Kurzzeittherapie in Erwägung gezogen werden.
Ist der Einsatz von Virtual Reality in Form von speziellen Brillen in der Therapie sinnvoll?
Schneider: Wir haben bei einem unserer Projekte bei jungen Patientinnen mit VR-Brillen gute Erfahrungen gemacht. Zahlreiche Studien belegen, dass Therapie mit Virtual Reality funktioniert, auch bei Heranwachsenden mit spezifischen Phobien wie etwa vor Spinnen oder vor Höhe. Problematisch ist eine körperliche Nebenwirkung der Technologie: Virtual Reality stimuliert bei Kindern widersprüchliche Bewegungsinformationen im Ohr, das kann starke Übelkeit erzeugen (Motion Sickness).
Seit der Pandemie besteht ein Engpass bei Therapieplätzen, das bringt monatelange Wartezeiten mit sich. Empfiehlt es sich, einen Heilpraktiker oder eine Heilpraktikerin für Psychotherapie aufzusuchen?
Schneider: Die Gesetzliche Krankenversicherung übernimmt hierfür die Behandlungskosten nicht. Heilpraktikerinnen für Psychotherapie sind zudem nicht für die Therapie von Kindern und Jugendlichen ausgebildet. Ich würde eindeutig dazu raten eine Beratungsstelle oder einen Schulsozialarbeitenden vorzuziehen, das sind niedrigschwellige Angebote, die über gut ausgebildete Fachkräfte verfügen.
Was halten Sie davon, Kindern mit einer Angststörung homöopathische oder pflanzliche Mittel zu geben?
Schneider: Wir haben keinerlei empirische Belege für deren Wirksamkeit bei Angsterkrankungen. Die vorliegenden Studien genügen meist nicht den Anforderungen von Wissenschaftlichkeit, sie sind nicht so angelegt, dass sie Placebo-Effekte ausweisen. Mehrere Studien konnten zeigen, dass Placebos eine vergleichbare Wirkung wie Medikamenten haben. Eine belastbare Untersuchung wurde von australischen Forschenden durchgeführt, die Gruppen von Kindern entweder Placebos oder SSRI-Medikamente (Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer) verabreichten. Beides erzielte positive Effekte, die Ängste nahmen ab. Warum also nicht auch ein gut eingeführtes pflanzliches Medikament verabreichen, wenn es einen Placebo-Effekt erzielen kann? Allerdings ist unklar, ob die Effekte nachhaltig sind und überdauern.
Mehr über die Expertinnen:
Professorin Dr. Silvia Schneider ist Leiterin des Lehrstuhls Klinische Kinder- und Jugendpsychologie der Ruhr-Universität Bochum
Andreas Fryszer ist Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut und Kinder- und Jugendlichentherapeut und arbeitet in eigener Praxis in Frankfurt am Main
Mehr Informationen:
Ein Überblick über das Thema von der AOK:
https://www.aok.de/pk/magazin/familie/eltern/aengste-bei-kindern-wie-sie-ihren-nachwuchs-staerken/
Zum Weiterlesen:
Für Profis und Laien:
Gerald Hüther: Wege aus der Angst. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage 2020
Heim Omer, Eli Lebowitz: Ängstliche Kinder unterstützen: Die elterliche Ankerfunktion. (2. Auflage) Vandenhoeck & Ruprecht Verlage 2015
Wilhelm Rotthaus: Ängste von Kindern und Jugendlichen. Carl-Auer Verlag GmbH 2021
Für Eltern:
Wilhelm Rotthaus: Ängste von Kindern und Jugendlichen: Erkennen, verstehen, lösen. Das Elternbuch. Carl-Auer Verlag GmbH 2021
Für Kinder:
Elisa Eckartsberg: Du bist also meine Angst? (neues Cover-gleicher Inhalt Edition). Juniek Verlag 2021