Hallo und auf Wiedersehen

Ort des Verlassens und Ankommens, Symbol des Fortschritts, Kreuzungspunkt, Konsumtempel und: Anlass zum Träumen. Über die Psychologie des Bahnhofs.

Eine große Bahnhofshalle mit Gleisen, Bahnsteigen und sehr vielen Menschen
Der Bahnhof kann Aufbruch bedeuten und Veränderung – oder einfach nur Abwechslung. © Sami Sarkis/Getty Images

Menschen in Bewegung, eine geradezu überwältigende Vielzahl an Geräuschen, Gerüchen und Informationen – Bahnhöfe sind außerordentlich mannigfaltige sinnliche Orte. Um mit dem komplexen Charakter dieser Eindrücke umzugehen, regulieren wir normalerweise unsere Wahrnehmung, steuern unsere Aufmerksamkeit und blenden eine Vielzahl von Dingen aus. Anstatt auf all die unterschiedlichen Gestalten zu achten, die uns umströmen, halten wir den Blick fest auf die Anzeigetafel gerichtet: Wo fährt der Zug ab? Ist er…

Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen

wir den Blick fest auf die Anzeigetafel gerichtet: Wo fährt der Zug ab? Ist er verspätet?

Wer jedoch beim Besuch des Bahnhofs die Sinne öffnet und der Umwelt seine volle Aufmerksamkeit schenkt, wird schnell ins Staunen geraten. Die meisten Bahnhofsgebäude umfassen beispielsweise eine Vielzahl von Atmosphären und Soundscapes, also Landschaften aus Tönen. Geht man zur Rushhour noch in einem geschäftigen Brummen unter, so erzeugen die eigenen Schritte des Nachts einen beinahe unheimlichen Hall. Bremsende Züge, Lautsprecheransagen, die Gespräche anderer – dies alles löst sich ineinander auf und ist ein Echo der Mannigfaltigkeit des Lebens in der Großstadt.

Auf dem Weg zur Arbeit oder zurück geht es oft gedrängt und in einem Strom von Menschen hinein und wieder hinaus. Die Begegnung mit anderen, egal ob erwünscht oder geduldet, gehört zur Nutzung des Bahnhofs dazu. Treffen wir auf uns bekannte Gesichter, wird unsere Stimmung auf die Probe gestellt. Sind wir gut genug gelaunt für den Austausch von freundlichen Floskeln, auch wenn uns eigentlich anderes beschäftigt? Oder sollten wir uns mit einem kurzen Gruß begnügen?

Solche Zusammentreffen sind manchmal unangenehm, bergen aber auch positives Potenzial. Wir können kleine Gespräche führen, alltägliche Sorgen teilen oder über einen verspäteten Zug gemeinsam die Köpfe schütteln. Der einigermaßen offene Raum des Bahnhofs bietet außerdem Wahlmöglichkeiten, wir können seine Nutzung in gewissem Umfang Stimmung und Charakter anpassen, mal einer Begegnung ausweichen, mal ein Gespräch suchen. Konflikte am Bahnhof oder Bahnsteig sind somit etwas anders gelagert als im geschlossenen Zug, wo sie auf ganz andere Weise zu eskalieren vermögen.

"Wie ein Bahnhof ist diese Welt"

Der Bahnhof ist auch Startpunkt besonderer Erfahrungen außerhalb der eingeschliffenen Bahnen des Pendelverkehrs. Er kann Aufbruch bedeuten und Veränderung – oder einfach nur Abwechslung. Er ist der Ort, an dem wir mit einer langen Umarmung endlich willkommen geheißen werden. Er ist aber auch Ort enttäuschter Erwartungen und schmerzvoller Abschiede.

Wie ein Bahnhof ist diese Welt. Ein Zug fährt ab, ein anderer hält.“ So hat es der französische Chansonnier Gilbert Bécaud schon vor über fünfzig Jahren gesungen. Der Bahnhof ist gleichzeitig Ort großer Einsamkeit und vielleicht überlauter Geselligkeit. In ihm überschneiden sich grauer Alltag und große Gefühle. Die Tatsache, dass wir dort häufig zum Warten genötigt werden, gibt diesen Erfahrungen nur noch mehr Raum und Gewicht.

Der Bahnhof ist Stätte einer Vielzahl höchst persönlicher und individueller Erfahrungen. Gleichzeitig ist er wie nur wenige andere Orte ein Symbol der Moderne. In achtzig Tagen um die Welt? Das war nur vorstellbar, nachdem die Eisenbahn es erlaubt hatte, große Distanzen rasch und sicher zu überbrücken.

Fortschritt und Zuflucht

Das Bahnhofsgebäude sollte diese Errungenschaft zeigen – als Tor zur Stadt. Das war schon im 19. Jahrhundert so, in Chicago genauso wie in Algier, Delhi oder Leipzig. Und auch wenn der Bahnhof in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gegenüber dem Parkplatz an Stellenwert verloren hat, so ist er immer noch ein zentraler Ort.

Doch damit geht auch eine Mehrdeutigkeit einher. Der Bahnhof und das angrenzende Viertel sind Kreuzungspunkt für nahezu alle sozialen Schichten, von Wohlstand bis Elend, für Menschen in vielerlei Stimmungen und Lebenslagen. In den vergangenen zwanzig Jahren hat sich dies verändert. Bahnhöfe sind von offenen Orten des Reisens zu hochregulierten Orten des Konsums geworden. Das eröffnet neue Möglichkeiten der Erfahrung, verdrängt aber auch den Raum für anderes.

Der Wartesaal etwa, in dem auch einmal ein Obdachloser vor schlechtem Wetter Zuflucht sucht, weicht dem Supermarkt und der zugangsgeregelten Lounge. Sicherheitsdienste sorgen für Ordnung und halten Randgestalten und Abweichende draußen. Das macht das Erlebnis Bahnhof angenehmer und sicherer, aber in sozialer Hinsicht auch ausschließender und ärmer. Der gesicherte Charakter des Bahnhofs steht so in einem Spannungsverhältnis zu dem Bahnhof als Zufluchtsort für Gestrandete, verkörperlicht von der immer noch wichtigen Bahnhofsmission.

Der Bahnhof bleibt für uns ein zwiespältiger Raum. Und doch hat er etwas Einzigartiges, das uns manchmal ganz unverhofft packt. Wenn wir auf die Anzeigetafel schauen und dort Paris, Krakau oder Norddeich Mole lesen, kann uns das Fernweh heimsuchen und zum Träumen bringen. Denn auch wenn vieles am Bahnhof reguliert ist und er von Videokameras und Sicherheitspersonal überwacht wird, auch wenn er heruntergekommen und von verwirrend vielen Sinneseindrücken durchzogen ist – er ist genauso Tor zur Stadt wie Tor zur weiten Welt.

Lars Frers ist Professor am Institut für Kultur, Religion und Gesellschaftskunde an der Universität Sørøst-Norge in Notodden, Norwegen, und leitet dort das Promotionsprogramm im Bereich Kulturstudien. Seine Forschungsschwerpunkte sind Raum, Materialität und multisensorische Methoden.

Quellen

Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben. In: Rüdiger Kramme u.a. (Hg.): Georg Simmel. Gesamtausgabe in 24 Bänden. Band 7: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908, Band I, 116 bis 131. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1995.

Lars Frers: Einhüllende Materialitäten. Eine Phänomenologie des Wahrnehmens und Handelns an Bahnhöfen und Fährterminals. Transcript, Bielefeld 2007.

R. Murray Schafer: The Soundscape. Our Sonic Environment and the Tuning of the World. Destiny Books, Rochester 1993.

Rainer Kazig: The Effects of Atmospheres. In: Michael Volgger, Dieter Pfister (Hg.): Atmospheric Turn in Culture and Tourism. Place, Design and Process Impacts on Customer Behaviour, Marketing and Branding, 107–117. Emerald, Bingley 2019.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2022: Was treibt mich an?