Jeffrey Dahmer mordet wieder. Und Millionen Menschen schauen ihm dabei zu. In sicherem Abstand, vom Sofa aus. Wochenlang hielt sich die Netflix-Serie über den US-Amerikaner, der zwischen 1978 und 1991 mindestens 16 Menschen quälte, tötete, zerlegte und teilweise verspeiste, weltweit auf Platz eins.
Der Streaminghit gebar eine bizarre Challenge; damit sind Aktivitäten in den sozialen Medien gemeint, bei denen tausende Userinnen und User ein Verhalten vor laufender Smartphonekamera imitieren. Die Fans der…
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Smartphonekamera imitieren. Die Fans der Serie filmten sich, wie sie Fotos von Jeffrey Dahmers Opfern in den Händen hielten, und lösten mit mehr als 3 Millionen Abrufen auf der Plattform TikTok einen Hype aus. Onlineshops reagierten prompt und bieten nun T-Shirts und Sticker mit den Gesichtern der bekanntesten Serienmörder an.
Millionen Klicks für Mordlust
Das noch junge Medium Podcast beschäftigt sich ebenfalls intensiv mit ihnen. Den Journalistinnen Paulina Krasa und Laura Wohlers gelang mit Mordlust hierzulande ein Quotenhit, mit dem sie auch vor Publikum auftreten. Das Magazin Stern Crime etablierte sich bereits nach wenigen Ausgaben. „Der Erfolg überrascht mich nicht“, sagt Redaktionsleiter Bernd Volland, denn „Mordfälle bewegen die Menschen“. Gerade die Taten von Serienmördern scheinen die Leserinnen und Leser zu interessieren. Das monothematische Stern Crime-Sommerbuch zum Thema fand besonders große Nachfrage.
Die Brutalität des Bösen ist dieser Tage ein Bestseller. True Crime nennt sich das Genre, das sich von wahren Verbrechen aus der Drogenkriminalität, dem organisierten Verbrechen, der Spionage und der Wirtschaftskriminalität zu Unterhaltungsstoffen inspirieren lässt. Augenscheinlich gilt dabei: Je abscheulicher ein Vergehen, desto größer die Anziehungskraft auf das Publikum. Der Serienmörder ist dabei der Star.
Das wirft die Frage nach dem Timing auf. Der Angriffskrieg gegen die Ukraine, Extremwetter als Folge des Klimawandels, die Energiekrise, die Pandemie – die Wirklichkeit befindet sich gefühlt im Krisenmodus in Endlosschleife. Doch weshalb flüchtet sich eine Gruppe von Menschen ausgerechnet in eine imaginative Welt, in der größtmögliche Grausamkeit herrscht?
Aus kriminologischer Sicht gilt ein Täter, der in mindestens drei verschiedenen Situationen getötet hat, als Serienmörder. Geprägt hat den Begriff höchstwahrscheinlich der Berliner Kriminalbeamte Ernst Gennat, der in den 1930er Jahren daran mitwirkte, den neunfachen Intensivtöter Peter Kürten, den die Boulevardpresse den „Vampir von Düsseldorf“ nannte, aufs Schafott zu bringen. Ungeachtet dessen reklamierte in den 1970er Jahren der US-Kriminologe und FBI-Agent Robert Ressler die Serial-Killer-Urheberschaft für sich. In jenem Jahrzehnt erschauderte die Öffentlichkeit angesichts der Bluttaten der Charles-Manson-Sekte und des mindestens 30-fachen Mörders Ted Bundy.
Fiktive Schocker
Filmemacher auf der ganzen Welt bedienen seit Jahrzehnten das Sujet mit fiktiven Schockern als Kassenfüller. Hollywood wetzte 1991 mit der Figur des Kannibalen Dr. Hannibal Lecter in Das Schweigen der Lämmer die Messer. In den letzten Jahren allerdings entdeckte die Unterhaltungsindustrie das Gänsehautpotenzial der Realität ganz neu: Eine Mischung aus Fakten und Fantasie entstand. True Crime entwickelte sich zu einem eigenen Genre.
Borwin Bandelow, Gerichtsgutachter und Professor an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Göttingen, vergleicht den medialen Konsum der bizarren Bilder mit einer Achterbahnfahrt: „Unserem primitiven Angstsystem wird suggeriert, dass wir in der nächsten Kurve herausfliegen. Angsthormone werden im Gehirn ausgeschüttet, aber auch Endorphine, die uns bei dem befürchteten Aufprall durch Schmerzfreiheit und Euphorie schützen sollen. Nach der Kurve ist plötzlich die Angst weg – und die Endorphine verschaffen uns ein Glücksgefühl.“
Ähnlich verhalte es sich bei den True-Crime-Geschichten: „Erst erlebt man Angst und Schrecken, aber am Ende ist der Täter überführt, die Erleichterung groß und man kann zufrieden ins Bett gehen.“ Bandelow zufolge ist es dem Angstsystem unseres Körpers egal, ob es dabei mit der Realität zu tun hat oder mit einer Geschichte. Das Gehirn, so der Psychiater, reagiere auf die Streamingfolge wie auf eine echte Bedrohung. Areale im Hirnstamm machen sich dann etwa für Angriffs- und Fluchtreflexe bereit, die der Frontallappen, der für die kognitiven Funktionen zuständig ist, die ganze Zeit über im Zaum hält.
Horror als Training
Einen weiteren Erklärungsansatz liefert die US-Soziologin Margee Kerr. Sie vermutet, dass die schockierenden Geschichten vielen Menschen als eine Art Übungsterrain dienen: Sie setzten sich in einem geschützten Raum Stress und Angst aus und erlebten, dass sie mit der Situation umgehen können. Daraus erwächst Kerr zufolge ein größeres Selbstbewusstsein. In ihrem Buch Scream. Chilling Adventures in the Science of Fear beschreibt die Sozialwissenschaftlerin diesen Zusammenhang mit der surrogate theory (Ersatztheorie), nach der in einer sicheren Umgebung durchlebte Ängste dem Individuum das Gefühl vermitteln, diese beherrschen zu können.
Diese therapeutische Wirkung stellt sich jedoch nicht bei allen Menschen gleichermaßen ein. Im Gegenteil. Finnische Forschende stellten fest, dass verstörende Medieninhalte bei sehr sensiblen und ängstlichen Personen zu noch größerer Furcht führten.
Die Tatsache, dass sich Menschen, bei denen der Konsum von True Crime eher panikähnliche Gefühle auslöst, dennoch aus dem Genre bedienen, wird oft als paradox of horror bezeichnet. Fans sogenannter Splatterfilme, in denen es besonders blutig zugeht, bestätigen, dass Angst auch Spaß machen kann. Laut einer Studie der University of Pennsylvania sind unter den Freunden des Horrorfilms die Persönlichkeitseigenschaften Neurotizismus und Angst überdurchschnittlich ausgeprägt.
Bedrohung mental simulieren
Erste Hinweise legen nahe, dass zudem geschlechterspezifische Vorlieben das Mediennutzungsverhalten prägen. Dass Frauen laut einer gemeinsamen Umfrage von Bundeskriminalamt und Max-Planck-Institut viel häufiger als Männer Angst vor Verbrechen haben, könnte einen Hinweis darauf geben, warum nicht nur beim erfolgreichen Stern-Ableger Crime 81 Prozent der Leserschaft weiblich sind, sondern Frauen auch den überwiegenden Teil der Hörerschaft von einschlägigen Podcasts stellen.
Eine US-amerikanische Untersuchung unterfüttert die Theorie von dem irrigen Bestreben, sich durch mehr Informationen vor Verbrechen zu schützen: True-Crime-Bücher werden besonders gerne von Frauen gelesen, wenn darin Frauen die Opfer sind. Die Schlussfolgerung erscheint jedoch sehr vereinfacht und wenig fundiert.
Amanda Vicary, Professorin für Psychologie an der Illinois Wesleyan University, vermutet hinter der Begeisterung für True Crime ein evolutionäres Verhalten, die morbide Neugier. Wir erhoffen uns einen Vorteil, wenn wir verstehen, warum der Täter getötet hat und welche Warnzeichen vorausgingen. Die morbide Neugier hat sich Vicary zufolge „aus der Not entwickelt, Bedrohungen zu entdecken und mit ihnen umzugehen (Bedrohungsmanagement); sie wird angetrieben zum einen durch die Motivation, Informationen zu sammeln (Neugier), und zum anderen durch die Fähigkeit, potenzielle Bedrohungen mental zu simulieren (Imagination)“.
Gefahr kitzelt angenehm
In der Geschichte gibt es offenbar immer wieder Perioden, in denen Serienmörderstorys nachgerade Hochkonjunktur haben. Psychiater Borwin Bandelow ist der Überzeugung, dass die aktuellen Krisen einen Einfluss auf unser subjektives Erleben haben: „Die vermeintliche Sicherheit ist uns genommen worden.“ Er sieht in der Beschäftigung mit den Taten von Serienmördern eine Möglichkeit, die daraus entstehenden Ängste abzubauen. Dabei helfen uns unsere Fluchttendenzen, die sich in unserem Kopf abspielen. Eskapismus heißt das Zauberwort, hinter dem sich laut Medienpsychologie zunächst auch eine wichtige Motivation verbirgt, überhaupt den Fernseher, das Laptop oder Smartphone anzuschalten. Wir wollen der harten Realität für ein Weilchen entfliehen.
Das könnten wir auch mit seichter, humorvoller Unterhaltung, nur spielt die Beschäftigung mit dem Horror von Serienmorden unserer Psyche noch einen Trumpf zu: Ein Ausflug in eine angenehme Gedankenwelt lässt unser Belohnungssystem kalt. Einer Gefahr, auch wenn sie sich nur auf dem Bildschirm abspielt, entgegenzutreten kitzelt es jedoch angenehm.
Der Filmwissenschaftler Marcus Stiglegger, der an der Fachhochschule Münster unter anderem Filmanalyse und Medienethik lehrt, sagt: „Unkontrollierbare Faktoren wie Krisen und Krieg führen derzeit zu einer großen Verunsicherung und zum Gefühl, völlig ausgeliefert zu sein.“ Das bringe es mit sich, dass der Fokus der Aufmerksamkeit auf Nebeninhalte verschoben werde, um die Bedrohung gefühlt auf einen kleinen Raum zu begrenzen – zum Beispiel auf den Serientäter und seine Taten.
Durch die mediale Beschäftigung gelangen wir laut Stiglegger zu der Überzeugung, ein angsteinflößendes Thema sei beherrschbar. „So bewusst wir auch leben, die Polschmelze können wir nicht ändern. Gemeinsam im Podcast oder in einem Spielfilm einen Killer zu jagen scheint dagegen möglich. Das ist befriedigend für den Zuschauer.“
Spannende Rätsel und ungelöste Fälle erwecken den Columbo-Instinkt in uns. Die sozialen Medien eröffnen dabei neue Möglichkeiten der Interaktion und befeuern die Mordlust. Besonders das Publikum von True-Crime-Podcasts beteiligt sich auf nie dagewesene Art: Es begibt sich auf Spurensuche und sammelt Indizien mit dem Ziel, Justizirrtümer aufzudecken.
Auf Hobbykillerjagd
Authentizität und das Aufdecken der Wahrheit sind ohnehin Schlagworte unserer Zeit, aber sie bestimmen eben auch das neudefinierte Genre: „Hier tritt True Crime als soziales und vernetztes Phänomen auf den Plan“, sagt Medien- und Kulturwissenschaftler Jan Harms. „Der detektivische Aspekt ist nicht zu trennen von den digital-kulturellen Neuerungen.“
So ging in Chicago mit Serial im Jahr 2014 erstmals ein Podcast auf Sendung, der binnen zwei Jahren 80 Millionen Downloads erzielte und sich als interaktives Detektivspiel erwies. Die Fans von Serial nehmen für sich in Anspruch, durch eigene Hinweise und Überlegungen an der Wiederaufnahme des Falls des als Frauenmörder verurteilten Adnan Syed – und an seiner Freilassung im September 2022– beteiligt gewesen zu sein.
Der Podcast Making a Murderer wiederum führte zu mehreren Petitionen und Unterstützungsaktionen für einen darin porträtierten verurteilten Killer. Auf Onlineplattformen wie Reddit werden Informationen, Foto- und Filmmaterialien getauscht, gehandelt, diskutiert. Die User und Userinnen betätigen sich als Hobbyforensiker.
Der neue True-Crime-Trend schmückt sich mit dem Mäntelchen der Wahrheitssuche, man kann sich der Lust am Abgründigen so ohne Scham hingeben. Das Genre „kroch aus der Gosse“, notierte die US-amerikanische Literaturwissenschaftlerin Jean Murley, „Nun hat es kulturelle Relevanz. Wir alle sind plötzlich Kriminalexperten.“ Das Problem allerdings: True Crime ist nie so wahrhaftig, wie es vorgibt. „Der Serienmörder ist sicherlich die beliebteste True-Crime-Figur, aber er ist in dem Genre auch wahnsinnig überrepräsentiert“, sagt Medienwissenschaftler Jan Harms.
Die Medienpsychologin Johanna Börsting von der Hochschule Ruhr West knüpft an das scheinbare Paradoxon an, wonach „es durchaus als positiv empfunden werden kann, negative Inhalte zu rezipieren“. Für Börsting spielen dabei auch Meta-Emotionen, die bisher vor allem bei der Rezeption von Horrorfilmen und Thrillern erforscht wurden, eine wichtige Rolle:
„Sie sind ein Ausdruck der Bewertung der eigenen Primär-Emotionen, der naheliegenden Gefühle wie Mitleid mit dem Opfer und Abscheu vor den Morden.“ Kommen wir zu dem Schluss, dass unsere Primär-Emotionen „gut“ sind, weil es moralisch „richtig“ ist, Täter und Täterinnen zu verurteilen, empfinden wir der Medienpsychologin zufolge positive Gefühle. Dieser Bewertungsprozess der eigenen Emotionen findet aber meist nicht aktiv und bewusst statt, sondern läuft sozusagen im Hintergrund ab, so Börsting. „Meta-Emotionen können darüber hinaus bedeutsame Gedanken- und Bewertungsprozesse über den Sinn des Lebens auslösen.“
Quellen
Gideon Nave u.a.: We are what we Watch. Movieplots Predict the Personality of their Fans. DOI: 10.31234/osf.io/wsdu8
Margee Kerr: Scream: Chilling Adventures in the Science of Fear. PublicAffairs 2015
Borwin Bandelow: Das Angstbuch. Rowohlt Taschenbuch 2006