Der Banksy in uns

Die Hauswand und unsere Haut dienen uns als Leinwand für die Selbsterweiterung im öffentlichen Raum. Über die Psychologie des Graffitos und des Tattoos

Ein Graffiti-Sprayer mit Mütze und Handschuhen steht an einer Wand und malt mit der Sprühdose ein Bild
Sprayende zementieren ihre Identität auf Gebäudewänden. So sind sie ein Teil der Stadt und die Stadt gehört zum Teil ihnen. © CasarsaGuru/Getty Images

Die Entscheidung, die Haut für immer durch ein Tattoo zu verändern, einst der Inbegriff von Einzigartigkeit und Mut, ist längst ein Massenphänomen. Das tatsächlich einzigartige Individuelle jedes einzelnen Menschen übergehend, glaubt man, mit dem selbstgewählten, persönlichen Tattoo sich von der Masse abzuheben, obwohl genau das Gegenteil passiert. Man folgt dem Mainstream.

Freiwilliger Schmerz

Wie kommt dieser Widerspruch zustande? Das Wort Tattoo geht auf das tahitische Wort tatau zurück, was so viel…

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kommt dieser Widerspruch zustande? Das Wort Tattoo geht auf das tahitische Wort tatau zurück, was so viel bedeutet wie „Wunden oder Zeichen schlagen“. Wunden beziehungsweise ein Zeichen schlagen auf den eigenen Körper, auf die Haut, seine eigene Hautoberfläche für immer zu verändern ist der Reiz, das Gefühl, etwas Einzigartiges zu machen. Sich freiwillig dem Schmerz auszusetzen übt offenbar eine Anziehungskraft aus, als würde uns die Welt zu wenig weh tun, als würden wir uns zu wenig spüren. Aktiv und willentlich sich etwas antun, um mit sich und der Welt in Verbindung zu kommen, ist das eines der Motive? Tattoos gehen unter die Haut, im wahrsten Sinne des Wortes.

Kann es sein, dass der gesättigte moderne Mensch an Verbindung und authentischem Kontakt mit sich selbst Einbuße erlitten hat und daher Mittel sucht, dies zu kompensieren? Ist es eine menschliche Tatsache, dass das Leben ohne tieferen seelischen Schmerz nicht geht, dass da was fehlt und man quasi an der Oberfläche bleibt? Und die Tiefe gesucht wird, indem man seine eigene Körperoberfläche durchsticht, einritzt, und der physische Schmerz hilft, das Unverbundene aufzufüllen?

Auf der Haut der Stadt

Besteht eine Verwandtschaft zwischen Tattoos und Graffiti? Sowohl der Umgang mit der Körperoberfläche wie auch der Umgang mit der Haut der Stadt sind geprägt durch raumbezogene Komponenten. Beide brauchen einen (Raum-)Körper, um Inneres auszudrücken. Auch die Sprayerinnen setzen Zeichen, sie zerstören die Oberfläche, dringen ins Material ein. Auch sie unterliegen dem Reiz des Schmerzes beziehungsweise der Gefahren, die teils mit dem Sprayen verbunden sind.

Und ebenso leben sie in einem Widerspruch: Im Drang nach Individualität durch das Hinterlassen ihrer ureigenen Spuren im urbanen Raum verfolgen sie ein Massenphänomen. Hinter der Gestaltungsmacht über den eigenen Körper beziehungsweise über Elemente im Stadtkörper verbergen sich nebst der Schmerz- und Gefahrensehnsucht noch weitere raumbezogene Motive.

Ich spraye, also bin ich

Das Aufmalen auf den Stadtkörper oder auf den eigenen Leib in Form von Graffiti oder Tattoos ist eine Form der Aneignung und Expansion in den Raum. Der Leibraum und der Stadtleib werden dabei zum Medium eines persönlichen Ausdrucks. Indem ich den Raum um mich herum verändere, wird eine natürliche Grenze überschritten, inneres Erleben wird external ausgedrückt: Mein Inneres zeige ich der Öffentlichkeit und dafür brauche ich raumhaltige Körper. Der öffentliche Raum wird durch die Personifizierung zum Ort, zu meinem Ort: Die Straße, die Brücke, die Bahnunterführung gehört nun ein bisschen mir.

Aufgrund der wechselseitigen Beziehung von Mensch und Raum hat diese selbstgewählte Markierung von Raum eine identitäre Rückwirkung auf das Subjekt. Man gehört zu den Sprayern und Sprayerinnen, hinterlässt womöglich ein politisches Statement, gehört zu der Gruppe Menschen, die öffentlichen Raum kennzeichnen, um Identität zu gewinnen oder zu behaupten – raumbezogene Gruppenidentifikation als Bestandteil der sozialen Identität. Das Individuum kann sich dadurch abgrenzen von der Umwelt, von anderen Schichten und gleichzeitig den Versuch der Selbstverwirklichung und Verstärkung von Identität erlangen. So hoch, so weit, so groß, wie’s geht, ist der nicht gefahrlose Antrieb.

Gestalterische Freiheit

Beim Tattoo ist das Territorium der eigene Körper, auf den die gewünschte Identität quasi aufgemalt wird. Die Verräumlichung meines persönlichen Ausdrucks trage ich sichtbar mit mir. Vielleicht steht hinter der Tattoo-Lust sogar das Bedürfnis, jemand sein zu wollen, der man nicht ist. Tätowierung also auch als Bewältigung eines Konflikts, ein leiser Protest; eine gestalterische Freiheit über den eigenen Körper gegenüber dem Unvermögen, die absolute Freiheit im Dasein zu erlangen.

Beide Phänomene leben mit der räumlichen Charakteristik der Dauerhaftigkeit. Bilder auf Häuserwänden oder Mauern haben einen überdauernden Charakter. In die Haut Eingraviertes ist ebenso unvergänglich. Die Zeichen drücken aus: „Ich entscheide über diesen Raum und da redet mir niemand rein.“ Was später damit passiert, interessiert die Verfasserin nicht. Die hinterlassenen Spuren sind kaum mehr wegzukriegen.

"So wird der Raum zum Ort, zu einem Ort von mir."

Zeichen setzen, Spuren hinterlassen, den eigenen Namen einritzen, Höhlenzeichnungen und Gravierungen – eine uralte menschliche Tradition. Aus der Emotionsforschung wissen wir, dass der Mensch nach Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit strebt. Die Möglichkeit zur Selbstbestimmung ist ein entscheidender Pfeiler im Menschsein und -werden.

Wir leben in einer überreglementierten, kontrollierten, gleichwerdenden, verdichteten Umwelt, in der Aneignungsprozesse schwieriger werden. Aus diesem Blickwinkel heraus könnte Graffiti als eine Form des Ausdrucks verstanden werden, der auch mit möglichen defizitären Gestaltungsmöglichkeiten zusammenhängt. Durch das Sprayen passiert Aneignung, wird der Raum zum Ort, zu einem Ort von mir.

Früher gab es Wände, Murales, auf denen war die Malerei erlaubt, ja es wurden sogar Künstlerinnen beauftragt, ihre politischen Ansichten zu vermitteln. Heute stehen keine Flächen zur Verfügung. Das Einritzen und Sprayen dient dazu, diese Grenzen aufzubrechen, aus ihnen auszubrechen. Die Stadt gehört auch mir! Mein Körper gehört mir!

Martina Guhl hat Psychologie und Architektur studiert und führte in der Schweiz das Fach Architekturpsychologie akademisch ein. Sie unterrichtet unter anderem an der Hochschule Luzern. Guhl ist eine der Herausgeberinnen der Reihe Architekturpsychologie Perspektiven (Springer).

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2024: Ich bin mehr als die Krisen, die hinter mir liegen