„Verzeihen wird überschätzt"

Nach einem Konflikt wünschen wir uns, dass uns verziehen wird. Wolfgang Schmidbauer erläutert, warum das einer Konfliktlösung im Weg stehen kann.

Die Illustration zeigt den Autor, Familientherapeut und Lehranalytiker, Wolfgang Schmidbauer
Wolfgang Schmidbauer ist Psychologe, Psychoanalytiker und arbeitet als Autor. © Jan Rieckhoff für Psychologie Heute

Ob es mit der monotheistischen Tradition und dem Mythos vom Jüngsten Gericht zusammenhängt, dass in der Ratgeberliteratur so gerne vom Segen des Verzeihens und der Vergebung gesprochen wird? Gewiss wünscht ein praktizierender Paartherapeut sich rhetorische Werkzeuge, um der Rachsucht zu begegnen, die sich vor allem nach Eifersuchtskrisen bei Paaren bemerkbar macht.

Wenn das aber dazu führt, beide Teile vor die Entscheidung zu stellen, sich entweder zu trennen oder einander zu verzeihen, fin­de ich das ärgerlich und wenig empa­thisch. Unsere Liebesbeziehungen sind aus animalischen und narzisstischen Elementen gemischt. Auf der animalischen Ebene orientieren wir uns an Lust und Unlust – und Lust darf auch sein, wo vorher Zorn war und wo bei genauem Nachdenken eben nicht so getan werden kann, als sei alles wieder gut.

Versuche der Versöhnung in einer Liebesbeziehung

Ich erinnere mich an ein Paar, in dem die Frau das sexuelle Interesse an ihrem Mann verloren hatte. In einem Streit sagte sie sogar zu ihm, wenn er so unzufrieden sei, solle er sich doch eine Geliebte nehmen. Das tat er dann auch – heimlich. Irgendwann entdeckte sie auf seinem Handy eine verdächtige Botschaft, er gestand, sie empörte sich, bisher hätten sie doch einander vertraut – er solle verschwinden.

Er zog aus, provisorisch zu einem Freund. Inzwischen war sie ruhiger geworden, die beiden fast erwachsenen Kinder reagierten schockiert auf den Konflikt zwischen den Eltern. Diese hielten auch in der Krise an der Tradition fest, einander nie vor den Kindern schlechtzureden, und einigten sich auf eine Paartherapie.

Er beendete die Liebschaft und suchte das Gespräch. „In den letzten Wochen haben wir mehr geredet als in den Jahren vorher“, gestand er. Sie kamen sich sexuell wieder näher, erlebten einen zweiten Frühling, es war eine der Entwicklungen, in denen Partner bereit sind, voneinander zu lernen und sich neu aufeinander einzustellen. In der letzten Sitzung sagte er halb im Scherz: „Eigentlich geht es uns besser als zuvor, da musst du mir doch verzeihen, dass ich fremdgegangen bin!“ „Niemals!“, sagte sie. „Dafür habe ich zu viel gelitten!“

Schmerzen vergessen, Nähe zulassen

Der Wunsch nach Verzeihen ist verständlich, er gehört zu der unauslöschlichen, aber auch gefährlichen Sehnsucht, alles könne gut sein. Wenn mir verziehen wird, habe ich eigentlich keinen Fehler gemacht, ich darf vergessen, was ich getan und auch angetan habe. Je fordernder der Wunsch vorgetragen wird – am ärgsten in Formen wie „Man muss doch verzeihen können!“ –, desto weniger trägt er dazu bei zu leisten, was dem oben beschriebenen Paar – mit Unterbrechungen, die allmählich seltener wurden – gelang: die Schmerzen, die sich die füreinander nicht mehr zugänglichen Partner angetan hatten, zu vergessen und sich auf das zu konzentrieren, was gegenwärtig an Nähe möglich und schön war.

Der in unserem Beziehungsleben wahrscheinlich blödeste Spruch: „Alles verstehen heißt alles verzeihen“, gehört in diesen Kontext. Denn nur wenn ich verstehe, aus welchen Motiven und Entwicklungen heraus Menschen einander Unverzeihliches antun, kann ich mich und andere schützen.

Wolfgang Schmidbauer arbeitet als Autor, Lehranalytiker und Familientherapeut in München. 2020 erschien sein Buch Du bist schuld! Zur Paaranalyse des Vorwurfs.

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 4/2023: Schüchtern glücklich sein
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