Late Bloomer – ein spätes Coming-out

Therapiestunde: Eine verheiratete Frau bahnt nach einer homosexuellen Affäre ihr Outing an. Doch wann ist der rechte Moment, Farbe zu bekennen?

Die Illustration zeigt eine Frau mit einem Kopf als Vase, in der dornige Zweige mit einer Rose sind, und die lächelnd den Blick nach oben auf die Rose richtet
Unser Leben ist ein Garten. Aspekte unseres Selbst wurzeln, erblühen und verwelken. Da sind Knospen, die länger für ihre Blüte brauchen. © Michel Streich für Psychologie Heute

Was es für eine Kraftanstrengung bedeuten kann, die eigene Identität zu entfalten und diese im eigenen Umfeld zu leben, beobachte ich immer wieder. Besonders eindrücklich habe ich das bei einer Mittvierzigerin aus Bayern erlebt, die ich Kate* nennen will. Kate ist eine abenteuerlustige und sportliche langjährig verheiratete Frau, Mutter einer zwölfjährigen Tochter. Im Erstkontakt flüstert sie tonlos und mit gesenktem Blick: „Ich habe ein perfektes Leben und ich bin hier, weil ich endlich frei sein will.“

Sie…

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mit gesenktem Blick: „Ich habe ein perfektes Leben und ich bin hier, weil ich endlich frei sein will.“

Sie schildert mir, dass sie und ihr Mann seit zwei Jahren getrennte Schlafzimmer haben. Vor einem Jahr sei sie eine Affäre zu einer bislang ausschließlich heterosexuell orientierten Frau eingegangen. Für sie selbst habe die Affäre die Tür zu ihrer eigentlichen sexuellen Orientierung geöffnet. Die Tatsache, dass es für die andere Frau eher „ein Ausrutscher“ war und diese inzwischen wieder mit einem Mann liiert ist, quäle sie tagtäglich. Sie beschreibt sich als freudlos, grübelnd, voller Schuldgefühle ihrem Ehemann gegenüber. Er habe etwas Besseres verdient, betont sie wiederholt.

Ablehnung der Eltern

Zu Lebzeiten ihres Vaters habe sie ihre sexuelle Orientierung radikal unterdrückt. Homosexualität habe er offen abgelehnt. Das Bild nach außen zu wahren sei ein hohes Gut gewesen. So groß die Kluft zwischen ihnen war, müsse sie seit seinem Tod vor zwei Jahren oft daran denken, dass er ebenfalls lange ein Geheimnis gehütet habe. Erst als sie Mitte zwanzig war, habe sie erfahren, dass sie einen Halbbruder habe. Kate zeigt sich immer wieder fassungslos, dass ausgerechnet ihr Vater mit der scheinbar makellosen Weste einen außerehelichen Sohn verschwiegen hat.

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Im Rahmen der Therapie führt sie einen inneren Dialog mit dem Verstorbenen. Kate adressiert ihre Vorwürfe an den Vater, der seine Bedürfnisse stets über ihre gestellt habe. Vergeblich habe sie über sportliche Erfolge seine Anerkennung gesucht. Ihr wird bewusst, dass sie zeitlebens Angst vor seiner Ablehnung gehabt hat. Je weiter der Therapieprozess fortschreitet, desto mehr spürt sie ihre Wut auf die Eltern, Wut auf gesellschaftliche Normen, Wut auf sich selbst.

Zu diesem Zeitpunkt hat ihre Mutter bereits Krebs im fortgeschrittenen Stadium. Die Mutter bleibt bis zum Tod emotional sehr distanziert, und es wird nicht möglich sein, Persönliches mit ihr zu besprechen. Kate versorgt die Mutter, so gut sie kann. Und geht gleichzeitig hart mit sich ins Gericht: Sie wirft sich vor, gegen die eigenen Werte der Ehrlichkeit verstoßen zu haben, und geißelt sich über Monate. Sie möchte ihrem Ehemann endlich die Wahrheit über ihre Homosexualität sagen, hat aber große Angst vor den Konsequenzen. Muss sie dann auch die Affäre mit der Freundin beichten?

Sie spürt intuitiv, dass sie noch nicht bereit ist, mit den möglichen Reaktionen ihres Outings umzugehen. Gleichzeitig ärgert sie sich, dass der Prozess zu stagnieren scheint. Wann ist der rechte Moment, Farbe zu bekennen? Kate zieht in Erwägung, sich erst zu outen, wenn sie sich erneut in eine Frau verliebt. Im Internet beginnt sie zögerlich, nach lesbischen Veranstaltungen zu recherchieren. Sie bemerkt dabei deutlich, wie ihr Herz noch immer an der anderen Frau hängt und dass sie nicht bereit ist, sich auf etwas Neues einzulassen. Die rein sexuellen Angebote im Internet schrecken sie ab.

„Ich bin lesbisch!“

Kate beginnt, sich mit ihren vulnerablen Anteilen auseinanderzusetzen, wobei sie der Angst vor Ablehnung besonders viel Aufmerksamkeit schenkt. Schließlich wagt sie es, eine Regenbogenfußmatte vor ihre Haustür zu legen, bucht ein Feriencamp für Frauen und beginnt, einen Brief an ihren Mann zu schreiben. Schritt für Schritt wächst in ihr das Gefühl heran, mit sich selbst ins Reine zu kommen.

Gleichzeitig nimmt der Druck in ihr zu, den wohl unvermeidbaren nächsten Schritt zu gehen. Im Nachklang zu einer Therapiestunde fasst sie den Entschluss: „Entweder sag ich’s ihm heute oder nie.“ Ohne Umschweife spricht sie aus, dass sie lesbisch ist. Und ihr Ehemann stellt erneut unter Beweis, dass er wirklich ein besonderer Mensch ist. Er bedankt sich für ihre Ehrlichkeit und zeigt sich erleichtert, dass ihre Distanz nichts mit ihm als Mensch zu tun hat. Beide entwickeln ein neues Verständnis füreinander und Kate kann wieder emotionale Nähe zu ihm zulassen, da er sich nun keine Hoffnungen auf ein „Mehr“ macht. Sie wollen die familiäre Wohnsituation beibehalten, und es wird nicht lange dauern, bis auch ihre Tochter eingeweiht wird. Diese reagiert auf das Outing überaus gelassen.

Zunächst genießt Kate ihre Erleichterung, das Schweigen gebrochen zu haben. Ganz zufällig lernt sie eine bisexuelle Frau kennen, die mit einer Frau liiert ist, und sie freut sich über die Gelegenheit, so einen ersten Zugang zur LGBTQ+-Welt zu bekommen, trotzdem beklagt sie während der Therapiestunden, dass nichts so richtig laufe. Sie habe viele Ängste ertragen, sich zu outen, und dennoch sitze sie wie vor einem Scherbenhaufen. Ihre Ex-Freundin sei mit ihrem neuen Lover im Urlaub und sie fühle sich wie in der Spätpubertät. Jetzt, wo sie sich geoutet habe, stelle sich zunehmend die Frage, wie sie nun ihre Homosexualität leben wolle.

Eine Knospe zögert

Zeitgleich formuliert sie in unseren Gesprächen ihre Sehnsucht nach Normalität. Die letzten Monate seien extrem anstrengend gewesen, sie sei müde, weitere Veränderungen anzustoßen. In einer der letzten Therapiesitzungen zeigt Kate eine hohe Affektivität: Eine Flut an Vorwürfen erreicht mich. Während sie sich in Rage redet, stehe ich auf und knie mich an ihre Seite. Ich schaue in die Richtung meines leeren Platzes und bitte sie freundlich, mir die Möglichkeit zu geben, für einen Moment durch ihre Brille zu schauen, um zu verstehen, was ich bei ihr ausgelöst habe. Kate hält nun inne. Sie habe einfach das Gefühl, meinen Erwartungen nicht zu genügen.

Und während sie spricht, schaut sie immer wieder auf den leeren Stuhl und wird nachdenklich. Schließlich frage ich sie, wer da sitzt. „Meine Mutter. Sie wollte mich immer anders haben. Ich glaube, ich habe Sie verwechselt.“ Sie ist verwirrt, dass sie so viel Wut mir gegenüber gezeigt hat – schließlich sei ich doch die Einzige, bei der sie von Beginn an die sein durfte, die sie sei.

In ihr entwickelt sich regelrecht ein Widerwille gegen die heteronormative Welt. Sie sucht über sportliche Aktivitäten nach Kontakt zu lesbischen Frauen, informiert sich über Podcasts, outet sich mehr und mehr. Und dann stirbt ihre Mutter. Ich begleite Kate noch im Übergang des Abschiednehmens. Sie identifiziert sich mit der Metapher late bloomer, eine Bezeichnung für Frauen über vierzig, die sich als lesbisch outen.

Ich muss unwillkürlich an eine Geschichte denken. In dieser wird ein Garten beschrieben, in dem nacheinander verschiedene Blumen die Knospen öffnen, erblühen und schließlich verwelken. Nur eine Knospe zögert. Zu groß sind ihre Ängste und Befürchtungen, was alles passieren könnte, wenn sie die schützende Knospenschale verließe. Gleichzeitig ist es in der Schale sehr eng und sie entwickelt eine Neugierde, welche Blüte sie werden würde. Kurz bevor der Frost den Winter einleitet, wagt es diese Knospe, sich zu öffnen. Die Geschichte endet damit, dass die Blüte nur von kurzer Dauer gewesen sei, aber sie es immerhin geschafft habe zu blühen.

Die Knospe hat sich geöffnet

Kate verabschiedete sich von mir in der Ungewissheit, ob sie es je noch einmal wagen würde, sich für eine andere Frau zu öffnen. Meine Rolle war, sie in ihrem Abwägen eines Outings und ihrer Entfaltung als late bloomer zu begleiten. Der therapeutische Prozess war von Ambivalenz, Ängsten, Schuldfragen und viel Entscheidungsdruck geprägt. Sie konnte dabei erleben, dass es möglich ist, in den offenen Vorwurf zu gehen, ohne zum Schweigen gebracht oder abgelehnt zu werden.

Drei Monate nach Beendigung der Therapie erhalte ich eine Mail von ihr: Sie schreibt mir, dass sie sich in eine tolle Frau verliebt und eine neue Beziehung eingegangen sei. Die Knospe hat sich noch mal geöffnet.

Angela Wisberger arbeitet als systemische Therapeutin in eigener Praxis in Karlsruhe und hat sich auf Paar-, Sexual-, Trauma- und Hypnotherapie spezialisiert.

* Persönliche Daten und alle Einzelheiten, die die Klientin erkennbar machen könnten, wurden verändert

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 11/2024: Sind die anderen glücklicher? Streiten nur wir so viel? Passen wir noch zusammen?