„Ich fühle einfach nichts mehr“

Therapiestunde: Ein junger Mann leidet unter einer Depersonalisationsstörung. Wie kann er seine eigenen Gefühle wieder wahrzunehmen?

Illustration zeigt einen Mann, der aus seinem eigenen Kopf herauswächst
Depersonalisation: Ein Gefühl, wie neben sich zu stehen. © Michel Streich

Peter, ein 22-jähriger Verwaltungsangestellter, klagt: „Ich fühle einfach nichts, ich komme mir vor wie ein Zuschauer meines eigenen Lebens.“ Als ich ihn bitte, mir sein Problem etwas genauer zu schildern, erfahre ich, dass er sich losgelöst von sich selbst und der Welt erlebt.

„Ich stehe ständig neben mir, beobachte mich, als ob ich eine Figur in einem Film wäre. Zum Beispiel höre ich meine Stimme wie die eines anderen, obwohl ich genau weiß, dass ich es bin, der da spricht. Ich sehe mir zu, wie ich…

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anderen, obwohl ich genau weiß, dass ich es bin, der da spricht. Ich sehe mir zu, wie ich spreche, laufe, schreibe. Manchmal fasse ich mich selbst an, um mich zu vergewissern, dass ich wirklich existiere. Irgendwie ist ein Schleier zwischen mir und den anderen. In dem Zustand kann ich mich natürlich nicht konzentrieren. Und andere Menschen treffen möchte ich auch nicht. Ich habe Angst, dass man mir meinen Zustand anmerkt.“

Dieses Gefühl, neben sich zu stehen und die Welt wie durch einen Schleier zu betrachten, haben viele Menschen schon einmal selbst erlebt, etwa im Zusammenhang mit einem übermäßigen Alkoholkonsum, Schlafmangel oder anhaltender Erschöpfung. In solchen Situationen ist das Neben-sich-Stehen ein kurzfristiges Phänomen.

Bei Peter handelt es sich aber um etwas anderes. Er erzählt, dass er seit seiner Jugend unter diesem Zustand leidet. Früher, berichtet er, sei dieses beängstigende Gefühl immer wieder verschwunden. Seit längerer Zeit entwickle es sich aber zu einem Dauerzustand. Er fürchte, langsam verrückt zu werden.

Bloß nicht unter Leute gehen

Zuerst einmal bitte ich ihn, mir seine Lebensgeschichte zu erzählen. Ich erfahre, dass der junge Mann mit seiner Freundin zusammenlebt. Sie akzeptiert seinen Wunsch, möglichst wenig unter Leute zu gehen. Sie hält das für eine Marotte. Den wahren Grund, warum Peter andere Menschen meidet, kennt sie nicht. Peter denkt oft darüber nach, ob es nicht besser wäre, wenn er sich von ihr trennen würde, bevor sie merkt, wie verrückt er ist, und ihn verlässt.

Über seine Kindheit erfahre ich, dass Peters Eltern vorrangig mit sich selbst beschäftigt waren. Für seine Sorgen und Probleme interessierten sie sich wenig. Wenn er mal wütend oder traurig war, habe er zu hören bekommen: „Stell dich nicht so an. Das geht schon vorüber.“ Darüber hinaus bezeichneten sie ihn als dumm und körperlich ungeschickt. Als er beispielsweise den Wunsch äußerte, in einen Sportverein einzutreten, wurde ihm das mit den Worten abgeschlagen: „Da fällst du nur negativ auf.“

Ich beginne zu verstehen, wie sich bei Peter dieser Gefühlszustand – er wird Depersonalisation genannt – entwickeln konnte. In Peters Kindheit fehlte es an emotionaler Unterstützung. Die ist aber Voraussetzung dafür, dass man den eigenen Gefühlen vertraut und der Umgang mit ihnen gelernt werden kann. Der junge Mann ist sich nie sicher, ob das auch richtig ist, was er fühlt.

Um der Selbstunsicherheit entgegenzuwirken, beginnt er sich von außen zu betrachten. Das macht er nicht bewusst, es handelt sich um einen unbewussten Prozess. Aus der Beobachter­position müssen die eigenen Gefühle und Ängste nicht wahrgenommen werden. Die ständige Selbstbeobachtung führt aber zu einer Entfremdung von den Gefühlen – mit dem Resultat, dass Peter nicht mehr weiß, was er fühlt.

Peter muss lernen, seine Selbstbeobachtung aufzugeben und wieder seine eigenen Gefühle wahrzunehmen. Als ich ihn bitte, mir eine Situation zu schildern, in der er dieses Gefühl des Neben-sich-Stehens erlebte, fällt ihm das zufällige Zusammentreffen mit einem Kollegen aus seiner früheren Firma ein, in der er damals Hohn und Spott ausgesetzt war.

Er berichtet, große Angst gehabt zu haben, weil seine schlimmen Erinnerungen wieder hochgekommen seien. Die Angst habe er aber unterdrückt und mit dem ehemaligen Kollegen selbstbewusst ein kurzes Gespräch geführt. Genau in dieser Situation habe er das Gefühl des Neben-sich-Stehens deutlich gespürt.

Unterdrückung der Angst

Meine Bemerkung, er habe ja in der Situation wirklich neben sich gestanden – schließlich fühlte er Angst, verhielt sich aber selbstbewusst –, lässt Peter über die Frage nachdenken, wovor er denn Angst gehabt hatte. Schließlich muss er heute nicht mehr mit dem früheren Kollegen arbeiten. Peter erkennt, dass sich seine Angst nicht nur darauf bezog, er könnte erneut schlecht bewertet werden.

Zögernd lässt er den Gedanken zu, Angst davor zu haben, sich selbst in einem negativen Licht zu sehen. „Wenn man mich schlecht behandeln konnte, dann heißt das doch, dass ich schlecht bin.“ Langsam wird ihm bewusst, dass die Unterdrückung seiner Angst zur Folge hat, dass er sich selbst mit seinen lebendigen Gefühlen nicht mehr wahrnimmt.

Wir besprechen seine Position in dem früheren Arbeitsteam. Peter kommt zu der realistischen Einschätzung, dass ihn keine Schuld daran trifft, schlecht behandelt worden zu sein. Ihm ist Unrecht angetan worden. Es wird ihm immer mehr bewusst, dass ihm auch in seiner Kindheit viel Unrecht zugefügt wurde, von Eltern, deren Verhalten aus Nichtbeachtung und Kränkungen bestand.

Diese Erkenntnisse ermutigen ihn, eine einfühlsamere und liebevollere Sicht auf sich selbst einzunehmen, was ihm nicht leichtfällt. Dieses Thema wird in der Therapie noch intensiv bearbeitet werden müssen.

Um zu lernen, im lebendigen Kontakt mit sich selbst zu sein, biete ich Peter Achtsamkeitsmeditation an. Er beginnt, sich auf seine Körperempfindungen zu konzentrieren. Der Bewusstseinszustand der Achtsamkeit ist dadurch gekennzeichnet, sich im Hier und Jetzt unmittelbar zu spüren, und steht somit der bisher von Peter praktizierten Beobachtung seiner Gefühle und Körperwahrnehmungen diametral gegenüber.

So hat er sich in der Therapie Wege erarbeitet, die Selbstentfremdung zu überwinden und wieder mehr bei sich zu sein.

Alle Namen sind geändert

Gabriele Eßing ist Psychologische ­Psychotherapeutin und arbeitet in ­eigener Praxis in Berlin. Sie ist Autorin des Buches Praxis der Neuropsychotherapie. Wie die Psyche das Gehirn formt (dpv, Berlin 2018, 2. Auflage)

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 6/2019: Vom Glück, Verantwortung zu teilen