Psychotherapie übers Internet

Können psychische Störungen nur im direkten Kontakt behandelt werden? Wohl nicht, denn zunehmend werden Therapien online angeboten – mit Erfolg.

Eine Psychotherapeutin sitzt mit Block und Stift vor einem Tisch, auf dem ein aufgeklapptes Notebook steht, auf dem ihre Klientin zu sehen ist, mit der sie eine Sitzung abhält
Auch online kann ein Psychotherapie erfolgreich sein © SDI Productions/Getty Images

Ein Ratgeber war das Internet von Anfang an. Inzwischen ist es mehr. Seit einiger Zeit werden dort neben Informationen über Krankheiten auch interaktive Online-Programme zur Selbsthilfe und Psychotherapie angeboten, bei Leiden wie beispielsweise Depressionen, Angst, Traumata, Sozialphobien, Stress, Ess- oder Schlafstörungen, Burnout und Trauer.

Die Bandbreite dieser Angebote ist immens, und die Spreu vom Weizen zu trennen nicht immer einfach. Manchmal dient das Internet lediglich als Kommunikationsmedium

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einfach. Manchmal dient das Internet lediglich als Kommunikationsmedium zwischen Patient und Therapeut, etwa per E-Mail, Chat oder Skype. Bei strukturierten Programmen hingegen sind Internet und PC vor allem das Arbeitsmedium für die Patienten. Sie bearbeiten daheim am Monitor therapeutische Trainingsaufgaben. Die Rückmeldung erhalten sie entweder automatisch über das Computerprogramm (self-help) oder – zumindest teilweise – über einen Therapeuten im Hintergrund (guided self-help). Von einer Internettherapie spricht man meist, wenn Therapeut und Klient die Ergebnisse der Trainingsaufgaben im Dialog aufarbeiten, zum Beispiel per E-Mail.

Die strukturierten Programme basieren fast alle auf bewährten kognitiv-verhaltenstherapeutischen Therapieansätzen, die durch ihren modulartigen standardisierten Aufbau leicht internetfähig zu machen sind. Neben Informationen allgemeiner Art zu verschiedenen Störungsbildern bieten sie Übungen und vermitteln Techniken, mithilfe derer kognitive und emotionale Lernprozesse ausgelöst werden sollen. Ihre Befürworter argumentieren, dass hier in der Therapie nicht wirklich Neuland betreten, sondern lediglich ein zwischengeschaltetes Medium benutzt wird.

Online-Angebote zur Prävention

Die Krankenkassen zeigen sich hocherfreut und sehr interessiert an solchen Online-Trainings, versprechen sie doch eine kostengünstige, praktikable, niedrigschwellige, flächendeckende Versorgung von Patienten – und vor allem zeitnah. Schätzungen zufolge bleiben 50 Prozent aller psychischen Störungen unbehandelt. Die Wartelisten von Therapeuten sind lang, durchschnittlich müssen Patienten etwa sechs Monate auf einen Therapieplatz warten, in manchen Regionen noch deutlich länger.

Die Idee ist, Online-Verfahren möglichst schon in der Phase der Prävention einzusetzen, in der Betroffene zwar Beeinträchtigungen empfinden, aber noch keine manifeste psychische Störung aufweisen. Wissenschaftler, die internetbasierte Programme entwickeln oder untersuchen, betonen, dass knappe und teure Therapiezeit eingespart werden könnte, wenn Betroffene früher abgefangen würden und im Erfolgsfall erst gar nicht auf eine Face-to-Face-Behandlung angewiesen seien. Anderen, schwerer wiegenden Fällen stünde diese Zeit dann zur Verfügung.

Pim Cuijpers, Professor für Klinische Psychologie an der Freien Universität Amsterdam und Forscher im Innovations-Inkubator an der Leuphana-Universität Lüneburg, bezieht sich auf mehrere wissenschaftliche Studien, wenn er konstatiert: „20 Prozent der Depressionen lassen sich erfolgreich verhindern, wenn Betroffene die notwendige Unterstützung erhalten, bevor die Krankheit voll ausgeprägt ist.“

Zeitlich und örtlich ungebunden

Zudem, so David Ebert von der Leuphana-Universität, seien Online-Hilfen zeitlich und örtlich unabhängig und damit deutlich niedrigschwelliger. Die Beschäftigung mit einem PC-Programm werde von vielen Betroffenen als weit geringere Hürde im Vergleich mit dem Gang zum Therapeuten gesehen, weshalb mit internetbasierten Angeboten viel mehr Betroffene viel früher Hilfe erhalten könnten. Eine Einheit pro Woche dann zu bearbeiten, wenn die Arbeit getan ist oder die Kinder im Bett sind, ist leichter möglich, als feste Therapietermine an einem festgelegten Ort einzuhalten – vor allem in ländlichen Gebieten, wo die psychotherapeutische Versorgung dünn und die soziale Kontrolle hoch ist.

Im Rahmen ihres Innovations-Inkubators erforscht die Leuphana-Universität aktuell verschiedene Online-Programme in Kooperation mit Wissenschaftlern aus ganz Europa. Unter www.geton-training.de können sich Interessierte zur Teilnahme an Studien anmelden, die drei unterschiedliche Trainings zur Unterstützung bei depressiven Beschwerden beinhalten sowie solche gegen Panikattacken, Schlafstörungen, Stress, Belastungen im Beruf und bei Alkoholproblemen. Das Projekt unter der operativen Leitung von David Ebert und Dirk Lehr ist auf drei Jahre angelegt, die einzelnen Trainings dauern sechs bis acht Wochen.

Ausgewählt wurden vorwiegend Bereiche, in denen nach Aussage der Verantwortlichen bereits erste Erfolge mit Online-Programmen erzielt worden sind. Dazu gehören auch Depressionen, an denen schätzungsweise ein Fünftel der deutschen Bevölkerung im Laufe des Lebens erkrankt. Das Programm ist modular aufgebaut, sodass Betroffene neben festen Bausteinen wie dem Aufbau stimmungsförderlicher Aktivitäten und dem systematischen Lösen von Problemen nach Bedarf auch ergänzende Module wie beispielsweise Entspannungsübungen auswählen können. Wöchentlich erhalten die Teilnehmer per E-Mail Feedback zu ihren bearbeiteten Modulen. David Ebert ist sich sicher, dass Online-Programme den Gang zum Spezialisten nicht immer ersetzen können. „Wenn es uns aber gelingt, Betroffene mit den neuen Möglichkeiten des Internets früher zu unterstützen, dann ist schon viel gewonnen.“

„Chat-Brücke“ zur Therapie-Nachsorge erfolgreich

Martina de Zwaan, heute Direktorin der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Hannover, hat 2010 am Universitätsklinikum Erlangen die deutschlandweite Studie INTERBED mit angestoßen, in der die Wirksamkeit eines von Therapeuten unterstützten Online-Programms mit der einer konventionell durchgeführten kognitiven Verhaltenstherapie verglichen wird. Die Studienteilnehmer leiden an der Binge-Eating-Störung, also suchtartigen Essattacken. Die Ergebnisse sollen erst nach der Nachuntersuchung im kommenden Jahr veröffentlicht werden. De Zwaan ist aber schon jetzt sicher, dass mit dem Online-Angebot „eine Gruppe von Patienten gut erreichbar ist“. Dafür spricht, dass in jener Therapiegruppe, deren Mitglieder der konventionellen Sprechzimmertherapie zugelost worden waren, mehr Teilnehmer absprangen als in der Online-Therapie-Gruppe. Das heißt: Wer an der Studie interessiert war, wollte lieber an der Online-Therapie als an der Sprechzimmertherapie teilnehmen.

Ebenfalls mit Essstörungen beschäftigt sich eine Studie, in der nach einem Klinikaufenthalt ein Nachsorgeprogramm per SMS untersucht wurde. Denn gerade in der Phase nach dem stationären Aufenthalt, wenn der Alltag die Patientinnen wieder in Beschlag nimmt, droht Rückfallgefahr. Eberhard Okon und Rolf Meermann von der AHG Psychosomatischen Klinik Bad Pyrmont sowie Stephanie Bauer von der Universitätsklinik Heidelberg wiesen 165 Patientinnen mit einer Bulimie oder deutlich ausgeprägten Essanfällen zu gleichen Teilen einer Studiengruppe, die mit SMS arbeitete, sowie einer Kontrollgruppe zu. Die SMS-Gruppe erhielt Gelegenheit, 16 Wochen lang einmal wöchentlich eine SMS an das Programm zu senden, welches je nach Inhalt der Textnachricht automatisch eine Rückmeldung aus einem umfangreichen Pool von Antworten wählte. Hierbei wurden positive Verhaltensweisen und Verbesserungen verstärkt, bei Verschlechterungen wurden den Teilnehmerinnen Tipps und Ratschläge bereitgestellt. Die Nachricht wurde vor dem Versand kontrolliert, aber im Normalfall weder geändert noch von einem Therapeuten persönlich verfasst. Die Überprüfung nach acht Monaten ergab: Bei 51,2 Prozent der SMS-Gruppe war ein Rückgang der Krankheitssymptome und eine Stabilisation eingetreten, bei der Kontrollgruppe war dies lediglich bei 36,1 Prozent der Fall.

Sascha Hunner, Therapeut und Arzt an der Panorama-Fachklinik in Scheidegg im Allgäu, behandelt Patienten konventionell mit klassischer, multimethodaler Face-to-Face-Therapie und ist überzeugt, „dass ich Patienten bei ernsthaften Problemen kennenlernen muss, um sie einschätzen zu können, auch was die Risiken angeht“. Trotzdem nutzt er das Internet – zur Nachsorge. Bereits seit 2001 gibt es die „Chat-Brücke“, ein Nachsorgeprogramm, das von der Forschungsstelle für Psychotherapie in Heidelberg begleitet wird und sich an Patienten richtet, die nach einem mehrwöchigen stationären Aufenthalt wieder im Alltag bestehen sollen. Der Chat soll ihnen helfen, das Erlernte in ihr Alltagsleben zu übertragen und Eigenverantwortung für ihr Befinden und ihren weiteren Genesungsprozess zu übernehmen. Bis zu zwölf Gruppenmitglieder treffen sich einmal wöchentlich 90 Minuten lang in einem virtuellen Chatraum. Sie erhalten von Therapeuten, die sie vor Abschluss ihres Aufenthalts in der Klinik kennengelernt haben, Hinweise, Korrektur und Ermutigung. Besonders wichtig ist aber auch der Austausch untereinander. Ein Jahr nach der Entlassung wurden 152 Patienten der Klinik nachuntersucht. Es zeigte sich, dass 46 Prozent der Kontrollgruppe einen Rückfall erlitten hatten, hingegen nur 22 Prozent der Chatteilnehmer.

Online-Therapien: Routine in Schweden und Australien

Sind Internethilfen für jeden geeignet? Was für Menschen, die den Umgang mit Computer, Smartphone und Tablet am Arbeitsplatz und zu Hause gewöhnt sind, kein Problem ist, könnte für ältere Menschen eine Hürde sein. Auch der Bildungsgrad spielt eine Rolle. Teilnehmer an Studien zu Gesundheitstrainings oder Therapie via Internet sind gebildeter als der Durchschnitt der Bevölkerung, mehr Frauen als Männer nehmen teil. Sie stellen eine Auswahl von Interessierten dar, da sich die Teilnehmer aktiv bewerben und anmelden müssen. Solange Online-Therapien auf rein freiwilliger Basis erfolgen, ist nicht relevant, dass Betroffene, die keine Motivation dafür aufbringen, nicht teilnehmen. Was aber, wenn diese Angebote zum Standard würden, wenn Druck ausgeübt würde, zunächst ein Online-Programm zu nutzen, bevor Patienten sich überhaupt auf die Warteliste von Therapeuten setzen lassen dürften?

Im Ausland ist die Zulassung von Online-Therapien im psychotherapeutischen Bereich bereits fortgeschritten. In Schweden und Australien beispielsweise gehören sie seit Jahren zur Routineversorgung. Und in den Niederlanden wird erwartet, dass im Jahr 2015 etwa 50 Prozent der Psychotherapien Online-Elemente in die Behandlung einbeziehen. Das britische National Institute for Health and Clinical Excellence empfiehlt ausdrücklich das Self-Help-Programm Fearfinger, das die Bewältigung von Angstsymptomen zum Ziel hat.

In Deutschland hingegen gilt das Fernbehandlungsverbot, das es Psychotherapeuten grundsätzlich untersagt, Therapien ausschließlich online durchzuführen. Innerhalb von Studien jedoch ist diese Beschränkung aufgehoben – und Studien gibt es immer mehr. Sowohl für Behandler wie auch Betroffene ist der Dschungel von Online-Therapie-Angeboten nur schwer zu durchschauen, Qualität nicht leicht herauszufiltern. Verbindliche Qualitätskriterien zur Orientierung für Psychotherapeuten, Patienten und Krankenkassen könnten Licht ins Dunkel bringen. Die Bundestherapeutenkammer hat eine Stellungnahme zu diesem Thema angekündigt. Und dies tut not, da im Rahmen der Studien bereits vielfach Krankenkassen und Pharmaunternehmen Kooperationen eingehen und somit Realitäten geschaffen werden.

„Online-Psychotherapien sind gleichwertig“

Andreas Maerckers Züricher Team hat eine Online-Therapie gegen Depressionen mit einer herkömmlichen Therapie im Sprechzimmer verglichen. Was ist wirksamer?

Psychotherapie via Internet muss keine Behandlung zweiter Wahl sein. Eine strukturierte Online-Therapie ist bei Patienten mit Depressionen mindestens ebenso effizient wie eine herkömmliche Therapie von Angesicht zu Angesicht, vielleicht sogar noch etwas nachhaltiger. Zu diesem Fazit kommt eine Studie an der Universität Zürich. Sechs Therapeutinnen behandelten 62 depressive Patientinnen und Patienten, die per Zufall je zur Hälfte entweder einer konventionellen oder einer Online-Therapie zugewiesen wurden. Studienleiter Andreas Maercker sieht in Hilfen und Selbsthilfen per Internet eine wirksame Ergänzung des Therapieangebots.

PSYCHOLOGIE HEUTE Welche psychischen Schwierigkeiten hatten die Patienten, die im Rahmen Ihrer Studie psychotherapeutische Hilfe suchten?

ANDREAS MAERCKER Es waren die klassischen depressiven Beschwerden: sich selbst ein Problem sein, nicht mehr motiviert arbeiten können, Stimmungstiefs, Angst, wieder in die Klinik zu müssen. Die Patienten wussten, dass sie eine strukturierte kognitive Verhaltenstherapie erhalten würden, aber das Los entschied, ob diese im Sprechzimmer oder per Internet erfolgte.

PH Wie lief eine solche Online-Therapie ab?

MAERCKER Alle Teilnehmer erhielten per Internet zunächst Fragebögen zur Diagnose und Vorgeschichte ihrer Depression. Auch die Patienten, die der Sprechzimmertherapie zugelost wurden, sahen die Therapeutin erst während der ersten Therapiesitzung zum ersten Mal. Es gab in beiden Gruppen acht Behandlungseinheiten, also therapeutische Übungen jeweils zu einem bestimmten Aspekt der depressiven Erkrankung wie etwa dem Selbstbild.

PH Was waren das für Übungen?

MAERCKER Zum Beispiel wurden die Patienten gebeten, fünf Tage lang aufzuschreiben, welchen Aktivitäten sie jeweils nachgingen, wie es ihnen dabei erging und welche Vorhaben sie ausfallen ließen – etwa weil sie nicht die Energie dazu aufbrachten. Oder sie hatten die Aufgabe, aufzuschreiben, welche Gedanken und Überzeugungen ihnen während des Tages durch den Kopf gingen, mit denen sie sich selbst abwerteten oder unter Druck setzten. Etwa: „Wenn ich jemanden um Hilfe bitten muss, zeigt das, dass ich ein Versager bin.“ Und dann übten sie, stattdessen konstruktivere Gedanken und Selbstbewertungen einzusetzen. Zu dem, was sie dabei notierten, erhielten sie jeweils Rückmeldungen von ihrer Therapeutin. In der Sprechzimmertherapie geschah das im mündlichen Dialog während der Sitzung, bei der Online-Therapie hingegen schriftlich per Internet, und zwar aus praktischen Gründen zeitversetzt, innerhalb von 48 Stunden.

PH Lief das nach Schema F ab, oder konnten die Patienten auch Fragen stellen, Bitten äußern, Alltagsbegebenheiten schildern, die sie beschäftigten?

MAERCKER Absolut. Wir versuchten, die schriftliche Konversation – obwohl zeitversetzt – so natürlich wie möglich zu halten. Allerdings achteten wir schon darauf, dass wir dabei nicht von dem strukturierten therapeutischen Programm abkamen.

PH In einer persönlichen Begegnung stellt man Kontakt mit den Blicken her, man schaut sich in die Augen. Das ist in einer Online-Therapie ja nicht möglich. Wie haben die Patienten den rein schriftlichen Fernkontakt mit der Therapeutin erlebt? Empfanden sie ihr Gegenüber als anonym und distanziert?

MAERCKER Überhaupt nicht. 96 Prozent der Online-Patienten und 91 Prozent der Sprechzimmer-Patienten stuften den Kontakt zur Therapeutin als „persönlich“ ein – und das entspricht auch dem Eindruck, den wir während der Therapie gewonnen haben.

PH Das ist insofern erstaunlich, als doch immer wieder betont wird, wie wichtig es für den Therapieerfolg sei, eine „therapeutische Beziehung“ herzustellen, also dass Patient und Therapeut sich kennen- und vertrauen lernen. Wie soll das funktionieren, ohne sich persönlich und leibhaftig zu begegnen?

MAERCKER Dieses „Beziehungskonzept“ ist – jedenfalls so umfassend, wie Sie es eben geschildert haben – schon etwas in die Jahre gekommen. Wir haben als Online-Therapeuten auch eine Beziehung zu unseren Patienten, eine Arbeitsbeziehung. Wichtig an dieser Beziehung ist, dass beide Seiten motiviert sind und dass bei den Patienten schrittweise der Eindruck reift: Mit dieser Therapeutin wird das klappen, das geht in die richtige Richtung!

PH … obwohl diese Therapeutin nur in Worten auf dem Monitor präsent ist?

MAERCKER Natürlich macht man sich auch als Online-Patient Gedanken, wer da auf der anderen Seite sitzt. Wir sind ja nicht versteckt – im Internet gibt es Fotos und Kurzvorstellungen der Teammitglieder. Man hat dann eben diesen imaginativen Therapeuten im Blick. Das könnte sogar Vorteile haben. Bei leibhaftigen Personen kann man durch störende Dinge abgelenkt werden, etwa durch ein Detail ihrer Kleidung oder der Sprechzimmereinrichtung. Oder durch einen Gesichtsausdruck: „Die guckt aber jetzt kritisch auf meine Antwort.“ Bei Online-Kontakten neigt man hingegen dazu, sein Gegenüber zu idealisieren. Man hält diese Person für attraktiver, klüger und jünger, als sie vielleicht ist. Dieses idealisierte Bild könnte sogar hilfreich sein.

PH Und wie erlebten die Therapeutinnen die Online-Sitzungen? Ist das nicht ein bisschen, als würde man im Nebel herumstochern, wenn man die Patientin mit ihrer Mimik, ihrer Körpersprache nicht vor sich sieht und beispielsweise kaum mitbekommt, wann ihr eine Antwort schwerfällt?

MAERCKER Nach meinem Eindruck wird das nicht als Handicap empfunden. Wir sind ja geübt in diesen Therapien. Wir wissen aus langjährigen Erfahrungen, dass Online-Behandlungen hoch wirksam sein können und wo die möglichen Knackpunkte dieser Art von therapeutischer Kommunikation sind.

PH Tatsächlich kam Ihre Züricher Studie zu dem Ergebnis, dass die Online-Psychotherapie sehr wirksam war: Am Ende der Therapie wurde bei 53 Prozent der Online-Patienten und bei 50 Prozent der Sprechzimmer-Patienten keine Depression mehr diagnostiziert. Und anders als die konventionelle schien die Online-Therapie sogar positiv nachzuwirken: Drei Monate nach Therapieende hatten 57 Prozent der Online-Patienten keine Depression, während die Erfolgsquote bei den Sprechzimmer-Patienten auf 42 Prozent zurückfiel. Wie erklären Sie sich diese besondere Nachhaltigkeit der Online-Behandlung?

MAERCKER Wir haben die Erfahrung gemacht, dass einige der Online-Patienten auch nach Abschluss der Behandlung ihre gesamte Therapiekorrespondenz noch einmal durchforsteten. Ihnen lag ja der vollständige Therapieprozess schriftlich vor! Gerade wenn es ihnen mal schlechter ging, nahmen sie sich dann eine entsprechende Stelle noch einmal vor.

PH Vielleicht übernahmen sie dadurch mehr Regie und Verantwortung für die eigene Therapie?

MAERCKER So sehe ich das auch.

PH Decken sich die positiven Ergebnisse Ihrer Studie mit den Erfahrungen, die man andernorts mit Online-Therapien gesammelt hat?

MAERCKER Es gibt leider nur wenige hochwertige Studien zu diesem Thema. Doch die – und auch andere empirische Beobachtungen und klinische Erfahrungen – deuten darauf hin, dass Online-Verfahren gleichwertige Therapien sind.

PH Nicht bei allen psychologischen Hilfen via Internet haben die Patienten Gelegenheit, sich per Mail, Anrufe oder Skype persönlich mit einem Therapeuten auszutauschen. Manchmal erfolgt die Rückmeldung auf die bearbeiteten Fragebögen und Übungsaufgaben automatisch über einen Computeralgorithmus, so ähnlich wie bei einem Selbsttest oder Wahl-O-Mat. Halten Sie das auch für hilfreich?

MAERCKER Eindeutig ja. Diese niedrigschwelligen Angebote können probate Mittel zur schnellen Selbsthilfe sein. In einer neuen Studie haben wir ein solches automatisiertes Programm – kombiniert mit Kontakten zu Laienhelfern – als Hilfsangebot für traumatisierte Erdbebenopfer in China untersucht, mit sehr ermutigenden Ergebnissen.

PH In Deutschland gilt das „Fernbehandlungsverbot“: Psychotherapie via Internet ist nicht als Heilbehandlung, sondern nur im Rahmen von Studien erlaubt. Ist es an der Zeit, diese Beschränkung zu lockern?

MAERCKER Ja. Momentan werden solche Behandlungen ja unter dem Label „Beratung“ mit Finanzierungsmodellen jenseits der Krankenkassen durchgeführt. Doch wenn diese Therapieform nachgewiesenermaßen wirksam ist, wieso sollte man sie dann nicht als reguläre Therapie anbieten? Online-Therapien werden ja in England, den Niederlanden und Schweden schon seit Jahren von den meisten Krankenkassen bezahlt, und es gibt dort keine Probleme damit.

PH Sehen das nach Ihrer Einschätzung die niedergelassenen Psychotherapeuten in Deutschland auch so? Oder betrachten sie Online-Therapien eher als mechanistisches Teufelswerk?

MAERCKER Nach meinem Eindruck wird diese Behandlungsform zunehmend akzeptiert. Ich schätze, dass inzwischen mehr als die Hälfte der Berufskollegen Online-Therapien aufgeschlossen gegenübersteht. Vor zehn Jahren war die Zahl der Gegner und Skeptiker noch deutlich höher.

Andreas Maercker ist Psychologieprofessor, Psychotherapeut und Facharzt für Psychosomatische und Psychosoziale Medizin. Nach Stationen in Berlin, Dresden, San Francisco und Trier leitet er seit 2005 an der Universität Zürich die Fachrichtung „Psychopathologie und Klinische Intervention“. Patienteninformationen zu den Züricher Online-Therapie-Angeboten gibt es im Internet:
https://www.psychologie.uzh.ch/de/bereiche/hea/psypath.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2014: Zufriedenheit