Als Maria S.* in meine Praxis kam, sprach eigentlich alles dagegen, dass wir uns ein zweites Mal sehen würden. Sie sagte wenig, wirkte abweisend, eine düstere Schönheit mit großen, dunklen Augen, langsamen Gesten. Sie sei gekommen, weil einer der Männer in ihrer WG mich empfohlen habe, aber sie wisse nicht, ob sie eine Therapie machen wolle, auf jeden Fall werde sie noch mit anderen Therapeutinnen und Therapeuten sprechen, vielleicht auch umziehen, nach Heidelberg.
Sie wirkte gleichgültig, als würde sie sich…
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Therapeuten sprechen, vielleicht auch umziehen, nach Heidelberg.
Sie wirkte gleichgültig, als würde sie sich nicht für ihr Schicksal interessieren, sie wisse ja nicht, ob sie überhaupt etwas ändern wolle, die Welt sei beschissen genug. Sie habe eine Ausbildung als Lehrerin für Kunsterziehung abgeschlossen, aber könne sich nicht entscheiden, ob sie anfangen wolle zu arbeiten.
Sie solle mich anrufen, wenn sie mit mir arbeiten wolle, sagte ich gegen Ende der 50 Minuten. Ich war überzeugt, sie nicht wiederzusehen, als sie mit ihrem träumerischen Gang mein Zimmer verließ und im Flur erst einmal in die falsche Richtung ging.
"Sorgen Sie dafür, dass dieser Krach aufhört!"
Nach drei Wochen rief Maria an, wir vereinbarten einen Termin, mürrisch und abweisend eröffnete sie mir, sie werde jetzt doch bleiben. „Ich wollte jemand Älteren oder eine Frau. Aber der Therapeut in Heidelberg, der war zwar älter, aber er war auch so mager und irgendwie streng. Er schaute aus wie jemand, der sich nichts gönnt. Da dachte ich, der gönnt mir auch nichts.“ Ich musste lachen und fragte, ob sie sich mich ausgesucht habe, weil ich nicht mager bin? Sie gab keine Antwort.
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Maria schien zugleich heimatsüchtig und heimatlos. Die Trauer über ihr zerrissenes, ungeborgenes, zielloses Leben war deutlich. Zugleich aber reagierte sie mit Schärfe und Härte auf jeden Versuch, mit freundlichen Gefühlen auf sie zuzugehen. „Können Sie nicht endlich dafür sorgen, dass dieser Krach aufhört!“, herrschte sie mich an, wenn die Spannung des Schweigens zwischen uns durch die Türglocke unterbrochen wurde. In ihren Träumen war ich gleichgültig und distanziert, mit Büchern beschäftigt wie ihr Vater mit seinen Akten.
Maria kam aus einer begüterten Familie. Ihr Vater war Anwalt und hatte eine Frau geheiratet, die nicht standesgemäß war, unter Depressionen litt und an Brustkrebs starb, als die Tochter achtzehn Jahre alt war. Charakteristisch schien mir diese Szene: Maria hatte eine Hand von hinten auf eine Stufe der Treppe im Haus gelegt. Als ihre Mutter die Treppe herunterging, um Besuch zu begrüßen, trat sie auf Marias Hand. Es tat weh, aber Maria schrie nicht, sondern wartete, bis die Mutter den Fuß wieder hob. Wollte sie die traurige Mutter schonen? Sich bestrafen, weil sie die Mutter nicht glücklich machen konnte? Ich fand die Szene wichtig. Maria hörte sich meine Deutungen an, stimmte nicht zu, widersprach nicht, es war, als hätte auch ich mich auf ihre Seele gestellt und sie warte, bis ich aufgäbe.
Ein Herz für negative Klientinnen
Ich entdeckte damals, dass ich ein Herz für negativistische Klientinnen habe, vielleicht weil sie etwas wagen, was ich nicht riskiere. Mir gefiel ihre ruppige Art, sie versuchte so gar nicht, mir zu schmeicheln oder höflich Kritik zu ersparen. Wenn sie einmal lächelte, selten genug, war es wie ein Geschenk. Ich gewöhnte mich daran, sie eher zu bestaunen als zu behandeln, ein Kunstwerk mit rauer Schale und schlechten Manieren, schmutzigen Fingernägeln, Rissen und Flecken auf der Kleidung, das selten lächelte und sich, wenn sie weinte, in den zarten indischen Schal schneuzte, den sie über ihrem schwarzen T-Shirt trug.
Eine erste Krise kam, als sie an einem Abend ihren Freund in seinem WG-Zimmer mit einer anderen Frau im Bett ertappte. Er erklärte ihr, sie solle nicht spießig sein, mit ihnen sei es doch ohnehin schon zu Ende. Maria fand, an ihm sei nichts verloren. Sie erkrankte an heftigen Schwindelanfällen und wollte nichts davon wissen, dass diese mit dem Verlust des angeblich längst gleichgültigen Mannes zu tun hätten.
Während ich an ein Angstäquivalent dachte, sprach der von ihr konsultierte Neurologe vom Verdacht auf einen Hirntumor und empfahl eine Klinikaufnahme. Maria ging in eine Privatklinik, ihr Vater telefonierte mit dem Chefarzt, sie sollte aufwendig untersucht werden, unter anderem mit einer Punktion des Rückenmarkkanals. Das war ihr dann doch zu viel, sie verließ die Klinik wieder und wir nahmen die Psychotherapie wieder auf.
Ich deutete den Schwindel als unbewussten Wunsch, gehalten zu werden, wobei ihr Ex-Freund ebenso versagt habe wie ihr Vater und auch ich. Ich würde nie darauf wetten, dass solche Deutungen stimmen, aber der Schwindel zog sich zurück, Maria genas nicht nur, sie fing auch an, ernsthaft nach einer Arbeit zu suchen – und es zeigte sich, dass sie durchaus Talent zur Kunsterzieherin hatte. Sie schien sich weit weniger als ich über ihren Erfolg als Lehrerin und ihr regelmäßiges Einkommen zu freuen, sie machte mir Vorwürfe: Ich sei genauso auf Anpassung bedacht wie ihr Vater.
Noch einen Wechsel?
Die Therapie dauerte noch zwei Jahre. Seit sie sich beruflich stabilisiert hatte, fiel Marias Neigung zu problembeladenen Männern mehr und mehr auf. Es schien wie verhext, zwei Freunde erwiesen sich als Alkoholiker, der dritte war verheiratet und keineswegs so getrennt, wie er behauptet hatte. Endlich fand Maria einen Partner, der zu ihr hielt. Sie war schwanger, als wir die inzwischen schon ausgedünnte Behandlung beendeten.
Aber damit ist die Geschichte nicht zu Ende. Nach einigen Jahren rief Maria an und erklärte, sie habe eine Therapie begonnen, die sei aber nichts, ob ich Platz habe. Sie habe Brustkrebs, sei operiert, der Onkologe, der ihr ein Mistelpräparat gebe, habe Psychotherapie empfohlen. Sie habe bei einer Frau angefangen, aber sie wolle da nicht mehr hingehen.
Ich hatte nur die Möglichkeit, sie in einer Therapiegruppe zu behandeln; Maria war angetan von dieser Idee. Ihr Start in der Gruppe gelang gut; durch ihre direkte Art wurde sie rasch ein wichtiges Mitglied. Ich aber geriet in einen Konflikt mit meiner Co-Leiterin, die eine Ausbildung in Bioenergetik begonnen hatte und von einem Therapeuten schwärmte, mit dem sie letzten Sommer eine Gruppe auf einer griechischen Insel absolviert hatte. Da sei eine Frau gewesen, mit amputierter Brust, strahlend und vital, die den Krebs besiegt habe. Sie zweifle, ob das analytische Vorgehen für Maria passe, sei es nicht besser, sie zu diesem Behandler zu überweisen?
Abgemagert und bleich
Ich wollte Maria nicht noch einen weiteren Wechsel zumuten, war aber sehr verunsichert. Ich bin als Medizinjournalist naturwissenschaftlich sozialisiert und als Psychoanalytiker von Berufs wegen überzeugt, dass das Unbewusste beides beeinflusst: Psyche wie Soma. Aber zwischen „Einfluss auf“ und „Macht über“ gibt es eine Kluft. Psychotherapie hat vorwiegend Einfluss auf, selten Macht über die Störungen, die sie behandelt. Ich habe mich immer davor gehütet, bei Organsymptomen wie Asthma, Morbus Crohn, Ekzemen oder eben auch Krebs Heilungen zu erwarten, obwohl solche Patientinnen und Patienten gar nicht selten in einer Psychotherapie Besserung erfahren.
Traf Marias Vorwurf zu, ich hätte ihre Anpassung betrieben? Wäre die wilde, chaotische Maria vom Krebs verschont geblieben? Irgendwann kam meine Co-Leiterin geknickt auf mich zu – ihre siegreiche Freundin aus der bioenergetischen Selbsterfahrung war an einem Rezidiv gestorben. Maria versäumte einige Sitzungen und kam abgemagert und bleich zurück: Metastasen in der Leber. Als wir das letzte Mal telefonierten, sagte sie, sie genieße jeden Tag, die Therapie sei nicht mehr wichtig, wichtig sei der Professor, der versprochen habe, durch eine spezielle Behandlung den Krebs noch eine Weile zurückzudrängen.
* Persönliche Daten und alle Einzelheiten, welche die Klientin erkennbar machen könnten, wurden verändert