Boulderpsychotherapie: Selbstwert erklettern

Das Uniklinikum Erlangen bietet Boulderpsychotherapie. Was macht Klettern ohne Seil therapeutisch wirksam? Wir haben es für Sie ausprobiert.

Die Illustration zeigt eine Frau an einer Wand, die bouldert
Jeder Tritt ist ein Erfolg. Beim therapeutischen Klettern erlebt man, was man alles schaffen kann, wenn man es nur möchte. © Fien Jorissen für Psychologie Heute

In unserer Rubrik Ist das was für mich? stellen wir jeden Monat ein Angebot aus den Bereichen Therapie, Coaching oder Beratung vor. Und Sie können entscheiden, ob das etwas für Sie ist. Dieses Mal: Boulderpsychotherapie.

Das sagt die Teilnehmerin

Als ich das erste Mal von der Boulderpsychotherapie gehört habe, bin ich gleich in eine Negativspirale geraten: „Das schaffe ich nicht. Ich war so lange in der Klinik. Ich habe keine Kraft dafür. Mein Körper kriegt das nicht hin. Das wird ein Desaster.“ Aber ich…

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in der Klinik. Ich habe keine Kraft dafür. Mein Körper kriegt das nicht hin. Das wird ein Desaster.“ Aber ich wollte es trotzdem probieren. Ich war damals stationär aufgenommen wegen Anorexie. Den Kurs für ambulante Patientinnen und Patienten, der in einer festen Gruppe einmal pro Woche stattfindet, habe ich danach angefangen. Heute war der letzte von acht Terminen.

Die erste Stunde in der Gruppe war ein bisschen komisch, es war ja alles ganz neu. Wir waren sechs Frauen, sechs Männer, die jüngste 22 und einer über 70. Es gab verschiedene Diagnosen, meistens Depressionen, aber darüber wurde nicht viel gesprochen. Wir haben uns in der Boulderhalle in Erlangen getroffen, das ist ein riesiger Raum mit vielen, Felsen nachempfundenen Wänden. Es gibt überall kleine bunte Vorsprünge, an denen man sich festhalten kann und auf die man tritt, um nach oben zu kommen. Hilfsmittel gibt es nicht. Am Anfang haben wir Gruppenübungen und Spiele gemacht, um uns kennenzulernen, das fand ich sehr unangenehm. Aber die acht Wochen haben uns gut zusammengeschweißt. Wir wollen uns weiter zum Bouldern treffen.

Zunächst ging es viel um Technik, wie wir sauber und sicher treten an der Kletterwand, uns also so auf die Vorsprünge stellen, dass wir stabil stehen. Ich hatte das Gefühl, alle anderen beobachten und verurteilen mich, dass ich das nicht kann. Ich war sehr unsicher und hatte Angst vor der Höhe – wir sind gleich drei, vier Meter nach oben geklettert. Dann habe ich gemerkt: Wenn ich an der Wand bin, denke ich über nichts anderes nach. Und: Jeder ist happy, wenn ein anderer etwas schafft, egal welcher Klettergrad. Man ist für jeden froh und verurteilt nicht, so ist die Stimmung.

Die Termine dauerten immer etwa drei Stunden, davon sind wir vielleicht eine, eineinhalb geklettert. Erst gab es eine Eingangsrunde: Wie geht es jedem gerade? Dann folgten eine Körperreise oder Atemübung, um sich entspannen, alles von außen vergessen und ankommen zu können. Nach dem Warmmachen haben wir Übungen gemacht, eigentlich jede Woche etwas Neues – zum Beispiel mit Kaubonbons auf den Füßen zu klettern, ohne dass diese herunterfallen. Einmal wurden uns die Augen verbunden. Ein anderes Mal haben wir versucht, um Strohhalme herumzuklettern. Nach einer Pause haben wir noch mal gebouldert, dann gab es eine Abschlussrunde und noch eine Körperreise. Vor- und nachher haben wir Bögen ausgefüllt, etwa zu Selbstwert oder Stimmung. Mir ging es nach dem Kurs immer besser, selbst wenn ich vorher erschöpft und ohne Lust angekommen war.

Das Klettern ist für mich eine gute Übung, mich in meinem Körper sicherer zu fühlen. Ich habe dadurch gemerkt, was es für einen Unterschied macht, wenn ich ihm Energie gebe, was ich dann alles schaffen kann – obwohl ich ihn nicht immer gut behandelt habe. Dafür bin ich dankbar.

Durch das Bouldern habe ich auch gelernt, dass es okay ist, etwas mal nicht zu schaffen. Und dass es nicht nur den einen richtigen, perfekten Weg gibt, sondern dass jeder anders klettert und andere Griffe benutzt. Es bringt nichts, sich zu vergleichen, weil jede an einem anderen Punkt ist und an jedem Tag anders drauf. Ich versuche, in meinem Alltag die kleinen Etappen zu sehen. Im Studium schaue ich nicht auf den Bachelor, sondern nur auf das Semester, den Kurs. Auch bei kleinen Sachen sage ich mir: Das habe ich heute gut gemacht, selbst wenn ich vielleicht nicht das große Ziel erreicht habe.

Die Teilnehmerin ist Studentin, sie möchte anonym bleiben.

Das sagt ein Kursleiter

Die Idee zur Boulderpsychotherapie ist entstanden, weil wir im Kollegium gemerkt haben, wie gut es Patientinnen tut, wenn man mit ihnen in die Boulderhalle geht. Zudem sind wir selbst geklettert. Diese Erfahrungen wollten wir in unsere Arbeit in der Psychiatrie einbringen und haben gemeinsam ein Konzept entwickelt.

Wir bedienen uns vieler verhaltenstherapeutischer Elemente, etwa aus der dialektisch-behavioralen Therapie und aus der Akzeptanz- und Commitmenttherapie, aber auch aus dem Yoga und der Körpertherapie. Die Boulderpsychotherapie verbindet diese Teile und macht sie erlebbar, das ist für mich das Spannende. An der Kletterwand erlebe ich, dass ich in dem Moment automatisch nichts anderes im Kopf habe, als dass ich gut stehe und überlege, wie der nächste Zug geht – da bekomme ich unmittelbar mit, was Achtsamkeit bedeutet. Das ist wichtig für Menschen, die keinen Bezug mehr zu sich und ihrem Körper haben, wie es zum Beispiel bei Depressionen der Fall ist.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer merken auch, dass ihre Angst weniger wird, wenn sie weiter atmen, sich darauf fokussieren, dass sie noch auf dem Tritt stehen und eben nicht fallen – in der Verhaltenstherapie spricht man in diesem Fall von Expositionstraining. Und sie bekommen wieder Vertrauen in ihre körperlichen Fähigkeiten.

Über das Bouldern kann die Erkenntnis kommen: „Wenn ich im Alltag nur auf meine lange To-do-Liste schaue, verzweifle ich. Wenn ich mir aber einzelne Punkte herausgreife, schaffe ich manche Aufgaben sogar noch heute.“ Das sorgt für kleine Erfolgserlebnisse, was wiederum motiviert, noch etwas anzugehen – oder es für den Tag gut sein zu lassen.

Wer am Kurs teilnimmt beziehungsweise auf die Warteliste kommt, entscheidet die Psychiatrische Instituts­ambulanz. Bestimmte Voraussetzungen gibt es nicht. Wichtig ist, dass die Leute gruppen- und absprachefähig sind, selbst herkommen und heimfahren können.

Uns ist egal, wie schwer das Trauma ist oder die Depression, wir versuchen, die Leute so sein zu lassen, wie sie sind, und die Erkrankung gar nicht groß zu thematisieren. Das, was wir vermitteln, ist davon unabhängig: Wie gehe ich mit Stress um, wie mit meinem Leistungsanspruch?

Viele der Übungen haben wir aus der Erlebnispädagogik übernommen, aus Kletterkursen für Kinder, andere haben wir uns selbst überlegt. Die Termine haben feste Themen. Die erste Stunde ist für mich die wichtigste, weil sie den Grundstein legt, die Ängste zu nehmen. Gerade auch für depressive Patienten ist ein wichtiger Wirkfaktor zu merken: „Ich bin hier in der Öffentlichkeit, wo ich mich eigentlich nicht sehe, was mir Angst macht, in der Boulderhalle unter sportlichen jungen Leuten und darf so sein, wie ich bin.“

Stefan Först ist Krankenpfleger, Bouldertherapeut sowie Mitgesellschafter der GbR Erfahrungsfeld Klettern.

Das sind die Fakten

Was ist das für ein Angebot?

Bouldern bezeichnet eine Form des Kletterns ohne Seil mit einer Absprunghöhe von maximal drei Metern. In speziellen Hallen geben Tritte und Griffe unterschiedlich schwere Routen vor, Matten schützen bei Stürzen. Das Konzept der hier beschriebenen Boulderpsychotherapie (BPT) wurde seit 2013 am Uniklinikum Erlangen entwickelt. Therapeutisches Klettern ist in vielen Kliniken Teil des Behandlungsspektrums, es gibt zudem private Anbieter sowie spezialisierte (Psycho-)Therapeuten.

Was kostet die Teilnahme?

Für Patienten, die am Uniklinikum ­Erlangen behandelt werden, ist die Teilnahme an der BPT-Gruppe kos­tenlos. Bei der Nachsorgegruppe müssen Halleneintritt und Gebühr für Leihschuhe selbst gezahlt werden (etwa 20 Euro). Auch an anderen Kliniken trägt bei stationären Aufenthalten die Krankenkasse die Kosten für die Teilnahme an therapeutischen Kletter- oder Boulderangeboten. Bei privaten Anbietern werden Honorare fällig, die die Krankenkassen unter bestimmten Bedingungen übernehmen.

Was sagt die Wissenschaft?

Dass Sport positiv auf die psychische Gesundheit wirkt, ist hinreichend belegt. Durch therapeutisches Klettern wird laut einer Metaanalyse (2023) das körperliche, mentale und soziale Wohlbefinden gesteigert, die Datenlage ist aber noch dünn. Für die BPT liegen durch Studien gesicherte Erkenntnisse für Personen mit Depressionen vor, die beim Bouldern auch von einer Psychotherapeutin begleitet wurden; demnach ist die BPT dort „mindestens gleich wirksam“ wie die kognitive Verhaltenstherapie.

Am Uniklinikum Erlangen beginnt 2025 eine Studie zur BPT bei Jugendlichen, und vom 27. bis 29. Juni findet ein Fachtreffen zum therapeutischen Klettern statt. Mehr unter: http://www.boulderpsychotherapie.de/

Quellen

Thomas Lang u. a.: Expositions- und Konfrontationsverfahren. In: Eva-Lotta Brakemeier, Frank Jacobi (Hg.): Verhaltenstherapie in der Praxis. Beltz 2017, 254-272

Anika Frühauf u. a.: Ist-Stand der Fachliteratur zu Effekten des therapeutischen Kletterns auf die psychische Gesundheit – Fazit: viel zu tun. Neuropsychiatrie, 33, 2019, 1–7.

Lucia Gassner u. a.: The therapeutic effects of climbing: A systematic reviewand meta-analysis. PM&R, 15/9, 2023, 1069–1216.

Anne-Claire Kowald, Alexis Konstantin Zajetz (Hg.): Therapeutisches Klettern: Anwendungsfelder in Psychotherapie und Pädagogik. Schattauer 2015

Thomas Lukowski: KIT: Klettern in der Therapie. In: Kilian Mehl (Hg.): Erfahrungsorientierte Therapie. Springer 2017

Katharina Luttenberger u. a.: Bouldering psychotherapy is not inferior tocognitive behavioural therapy in the grouptreatment of depression: A randomized controlledtrial. British Journal of Clinical Psychology, 61, 2022, 465–493.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2025: 6 Schritte, wie wir das Jahr gut abschließen