Ein Hörsaal voller Studenten. Alle bekommen vom Dozenten folgende Aufgabe gestellt: Sie sollen beobachten, wie sechs Leute sich Basketbälle zuwerfen, hin und her. Drei der Werfer haben weiße Hemden an, die anderen drei schwarze. Die Hälfte der Zuschauer soll die Würfe der weißgekleideten, die andere Hälfte die Würfe der schwarzgekleideten zählen. Die Werfer beginnen mit ihrem Spiel, die Studenten zählen. Nach etwa einer halben Minute betritt ein Gorilla (eine Studentin im Affenkostüm) den Saal, rennt…
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Nach etwa einer halben Minute betritt ein Gorilla (eine Studentin im Affenkostüm) den Saal, rennt zwischen den Werfenden hin und her, trommelt mit den Fäusten auf der Brust, wie es Gorillas eben machen, und verschwindet dann wieder. Nach einer Weile ist Schluss mit dem Zählen. Der Dozent fragt die Studenten, wie viele Würfe sie jeweils gezählt hätten, und beglückwünscht diejenigen, die die richtige Zahl nennen. Dann fragt er: „Und wer hat den Gorilla gesehen?“ Drei oder vier Hände gehen hoch, die restlichen 50 Beobachter sehen sich an: Gorilla? Welcher Gorilla? Einige fühlen sich veräppelt, andere sind verwirrt oder lachen verlegen. Jedenfalls haben die meisten keinen Gorilla gesehen.
Dieses Experiment mag amüsant oder gar albern erscheinen, aber es gehört zu den klassischen der modernen Psychologie. Man kann es inzwischen auf YouTube ansehen, und viele Versionen davon werden im Rahmen von Unterhaltungsprogrammen oder populären Wissenschaftssendungen wieder und wieder inszeniert.
Worin liegt die Bedeutung des Gorillaexperiments? Erstens: Wir können überaus fokussiert sein, wenn wir es nur wollen. Zweitens: Wir können unsere Aufmerksamkeit so ausschließlich auf eine Aufgabe lenken, dass wir alles andere, was darum herum passiert, nicht wahrnehmen. Psychologen sprechen von „selektiver Wahrnehmung“, Neuropsychologen nennen diese Ausschließlichkeit „Aufmerksamkeitsblindheit“: Unser visueller Kortex funktioniert nach dem Prinzip eines Suchscheinwerfers, er verfügt nicht über eine Panorama- oder Fischaugenkamera.
Konzentrieren heißt auswählen, den Fokus verengen
Die Fähigkeit, das Blickfeld zu verengen und sich auf einen kleinen Ausschnitt der Umwelt zu konzentrieren, ist eine ganz besondere Stärke des menschlichen Wahrnehmungsapparates. Ohne die Fähigkeit zur willentlichen Fokussierung, ohne Konzentration wäre die Welt ein Chaos. Die Vielzahl der gleichzeitig auf uns einstürmenden Eindrücke und Informationen würde uns in kürzester Zeit verrückt machen. Konzentrieren heißt auswählen, heißt, den Fokus stark zu verengen auf das, was uns wichtig erscheint, und alles andere zu ignorieren.
Seit den 1970er Jahren haben sich Psychologen mit dem Phänomen der „selektiven Wahrnehmung“ befasst, aber es brauchte offenbar diese etwas clowneske Versuchsanordnung der Harvard-Psychologen Christopher Chabris und Daniel Simons, damit auch Laien auf Anhieb erkannten, wie sehr wir unsere Aufmerksamkeit fokussieren und dabei andere Informationen aus dem Blick verlieren können. Zauberkünstler haben schon immer mit diesem Prinzip gearbeitet – indem sie uns gekonnt von ihren Manipulationen ablenken.
Die Fähigkeit, sich auf bestimmte Dinge konzentrieren und andere Dinge ausblenden zu können, ist so grundlegend und selbstverständlich, dass sie paradoxerweise lange unterschätzt und vielleicht viel zu wenig erforscht wurde. Was wir lernen, wie gut und wie ausdauernd wir arbeiten können, hängt davon ab, welchen Reizen wir Aufmerksamkeit schenken und welchen nicht. Aufmerksamkeit entscheidet darüber, wie wir mit unseren Nächsten umgehen, in Familie und Partnerschaft, wie wir unsere Lebenswelt gestalten, wie genau wir Informationen unseres Körpers und unserer Seele registrieren, was in unser Langzeitgedächtnis eingeht und damit letztlich unsere Lebensgeschichte konstituiert.
Unablässiges Starren auf kleine Monitore
Aufmerksamkeit entsteht durch das Zusammenspiel verschiedener Gehirnregionen. Einige entscheiden darüber, welche Bereiche unsere Aufmerksamkeit fast automatisch auf sich ziehen, andere wiederum (die „höheren Funktionen“) befähigen uns, willentlich den Suchscheinwerfer unserer Aufmerksamkeit zu betätigen und uns selbst wichtige oder lohnende Ziele zu suchen, auf die wir den Fokus richten wollen. Aufmerksamkeit ist mit vielen anderen mentalen „Tools“ oder Funktionen verknüpft: verstehen, erinnern, lernen, Muster erkennen, Gefühle und Gefühlssignale bei sich selbst und anderen lesen können und vieles mehr.
Je besser wir die Funktionsweisen der Aufmerksamkeitsreaktion und -steuerung verstehen und je besser wir sie beeinflussen können, desto stärker können wir die „Produkte“ der Aufmerksamkeit erkennen und bewerten: Ist das eine gute oder schlechte Idee? War das eben ein spöttisches oder ein freundliches Lächeln? Riecht es hier nach Kaffee oder nach etwas anderem? Wird der Fahrer auf der rechten Fahrbahn gleich nach links ausscheren – ohne zu blinken? Habe ich diese Mail vorhin schon einmal gelesen? Wir navigieren mithilfe des Richtstrahls namens Aufmerksamkeit durch unser Leben. Was wir in seinem Licht erkennen, wahrnehmen, für wichtig halten, in unserem Gedächtnis speichern – alles, worauf wir reagieren, definiert und begrenzt gleichzeitig unsere Wahrnehmung und unsere subjektive Welt, in der jeder Mensch lebt und die einzigartig ist.
Drei Teilwelten gilt es dabei im Blick zu behalten:
– die innere Welt der Intuitionen, der Werte und der höheren Verstandestätigkeit,
– die äußere Welt, die uns durch eine zunehmende Zahl von Reizen und Ablenkungen immer mehr Fokussierung und Auswahl abverlangt,
– die soziale Welt, in der wir uns auf Menschen, auf ihre Sprache, ihre Ideen, ihre Mimik und Gestik konzentrieren.
Wie wir in diesen drei Sphären Aufmerksamkeit lenken, wie viel Zeit und Fokus wir investieren, wie wir überhaupt die Investitionsentscheidungen treffen, das hängt nicht zuletzt davon ab, wie gut wir die Basisfähigkeit gelernt haben: Konzentration.
Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit haben in unserer Zeit eine ganz besondere Bedeutung gewonnen. Das Internet und andere neue Medien haben die äußere und die soziale Welt dramatisch erweitert. Manchmal scheint es fast schon so, als ob wir den selbsterzeugten und sich enorm vervielfältigenden Reizen der neuen Medienwelt nicht mehr gewachsen sind, dass unsere Fähigkeit zur Konzentration unterhöhlt oder gar nicht erst entwickelt wird. Smartphones, Tablets, Social Media, virtuelle und digitale Spielwelten ziehen Aufmerksamkeit auf sich, verschlucken sie sozusagen. Unser Zeitmanagement ist extrem zugunsten der Mediennutzung verschoben: Wir schlafen weniger, wir lassen uns weniger Zeit für Gespräche, wir arbeiten weniger (auch wenn es uns subjektiv anders erscheint), wir gucken sogar weniger fern als noch vor wenigen Jahren – dafür verwenden wir im Durchschnitt, je nach Nationalität oder Altersgruppe, zwischen sechs und neun Stunden täglich für die neuen Medien. Diese absorbieren immer mehr Aufmerksamkeit, sie ersetzen mehr und mehr reale soziale Kontakte, vor allem unterminieren sie die Fähigkeit, länger bei einer Sache zu bleiben.
Der Psychologe und Wissenschaftsjournalist Daniel Goleman behauptet in seinem neuen Buch Focus, dass die neue Technologie unsere Aufmerksamkeit schon so sehr gefangen nimmt, dass sie allmählich unsere „normalen“ sozialen Verbindungen zersetzt. So sei schon 2006 das Wort pizzled in das englische Lexikon aufgenommen worden: eine Wortzusammensetzung aus puzzled (verwirrt) und pissed (Slang für: stinkig, sauer): Es beschreibt das Gefühl, das man hat, wenn jemand, mit dem man gerade zusammen ist, plötzlich sein Smartphone herauszieht und mit jemand anderem redet oder simst. Was 2006 noch als verstörend und beleidigend empfunden wurde, ist inzwischen fast schon Normalität. Teenager erhalten heute durchschnittlich 100 Botschaften pro Tag. Das Checken der Anrufe und Botschaften wird zur Dauerbeschäftigung. In Wartesälen, an Haltestellen oder in Hörsälen starren immer mehr Menschen auf ihre kleinen Monitore. Sie sind psychisch nur noch selten an dem Ort, an dem sie sich gerade befinden.
Zwei Arten der Ablenkung: sensorisch und emotional
Man muss nicht gleich mit Manfred Spitzer eine grassierende „digitale Demenz“ befürchten, aber was es bedeutet, mit der neuen Medienwelt aufzuwachsen, welche Folgen sie für die Fokussierungs- und Konzentrationsfähigkeiten hat, beginnen wir langsam zu begreifen. All das Twittern, Mailen, Posten, Updaten scheint allmählich die Fähigkeit zu direkter Kommunikation und zur Konversation verkümmern zu lassen. Goleman beobachtet zunehmende (Selbst-)Isolation und Einsamkeit als die sichtbarsten Symptome. In einigen asiatischen Staaten wie Taiwan, Korea oder Japan haben Internetsucht, Computerspielsucht und Telefonitis bei Jugendlichen und die damit einhergehende Konzentrationsunfähigkeit im „realen“ Leben in Schule, Beruf und Familie bereits das Ausmaß nationaler Gesundheitskrisen angenommen.
Aber auch Erwachsene werden von der neuen Aufmerksamkeitsdiktatur erfasst, die von der virtuellen und digitalen Welt ausgeht. Selbst Universitätsprofessoren klagen darüber, dass ihnen inzwischen die Fähigkeit abgehe, einen Text konzentriert zu lesen – und das heißt: für mindestens eine Viertelstunde. Auch sie müssen, wie unter einem inneren Zwang, ihre Lektüre unterbrechen und nach ihren Mails oder Facebookseiten schauen, im Internet neue Nachrichten lesen oder „zur Erholung“ ein bisschen herumsurfen.
Es scheint, als ob wir immer häufiger versuchen, einen Zustand von „anhaltender teilweiser Aufmerksamkeit“ aufrechtzuerhalten: Wo immer wir sind, in einem Hörsaal, auf einer Versammlung, bei einem Abendessen mit Freunden, wir wollen gleichzeitig wissen, was woanders vorgeht, ob wir etwas verpassen, ob es irgendwo einen interessanteren Dialog, eine wichtigere Nachricht geben könnte. Unsere Fähigkeit, konzentriert, interessiert und fokussiert ein Gespräch zu führen, sich auf ein Musikstück einzulassen, ein Buch so zu lesen, dass man völlig absorbiert ist, scheint allmählich verlorenzugehen.
Die schiere Zahl der Botschaften und Informationen, die auf uns einstürmt, die wir aber auch bewusst wahrnehmen wollen, verringert die Zeit, die wir damit verbringen können, sie wirklich zu verstehen, sie einzuordnen, abzuspeichern. Diese Entwicklung hat der Ökonom und Psychologe Herbert Simon bereits 1978 vorausgesehen, als er den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt: „Information verbraucht die Aufmerksamkeit ihrer Empfänger. Deshalb erzeugt der Reichtum an Information eine Armut an Aufmerksamkeit.“
Aufmerksamkeit kann auf zwei Arten verlorengehen. Die sensorischen Ablenkungen wirken relativ simpel und direkt – das Aufheulen einer Alarmsirene in der Nachbarschaft, der drückende Schuh, das Jucken in der Ohrmuschel, während Sie diesen Text lesen. Zu allen Zeiten musste unser Gehirn eine endlose Kette von Reizen aussortieren, bevor sie unser Bewusstsein erreichen.
Noch schwieriger ist es, die vielen Ablenkungen abzuwehren, die aus emotionalen Reizen bestehen. Emotionalen Aufmerksamkeitswert hat im Grunde alles, was uns als Person betrifft. Wir hören auf einer lebhaften Party durch all das Stimmengewirr und Gläserklingen hindurch, wie jemand in der anderen Ecke des Raumes unseren Namen ausspricht: Da hören wir hin, da muss unser momentaner Gesprächspartner eine Weile auf uns verzichten. Äh, wo waren wir stehengeblieben?
Besonders enervierend sind emotionale Ablenkungen, die aus dem ganz normalen inneren Chaos und Kuddelmuddel unseres Innenlebens stammen: quälende Gedanken über unerledigte Probleme, schwelende Konflikte, beunruhigende Erinnerungen, Ängste, Hoffnungen, alles, was uns plötzlich grübeln oder in langes Nachdenken versinken lässt – und uns aus einer fokussierten Lektüre, einer spannenden Tätigkeit oder einem Gespräch herausreißen kann.
Wenn der Tunnelblick verlorengeht
Sensorische und emotionale Ablenkungen lassen uns den Fokus verlieren. Der Elfmeterschütze, der kurz vor dem Anlaufen noch einmal daran denkt, wie er den letzten Elfmeter verschossen hat, oder der die Schreie der gegnerischen Fans nicht überhören kann, verliert schlagartig seinen „Tunnelblick“, der im Sport als das ideale Maß an Konzentration gilt: Er bekommt weiche Knie. Fokussierung ist selektive Wahrnehmung. Diese Verengung leistet der präfrontale Kortex, der für die Verstärkung oder Dämpfung von eingehenden Signalen und Reizen verantwortlich ist.
Im Zustand des Konzentriertseins funktioniert unser Gehirn optimal: Es synchronisiert alle neuronalen Systeme, die für Aufmerksamkeit, Problembewältigung und Fokussierung wichtig sind. Ablenkungen können diese Synchronizität empfindlich stören, und die Leistungsfähigkeit nimmt stark ab. Das ist beispielsweise das Problem von Menschen mit dem Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom – sie können eindringende Reize schwer ausblenden, nicht synchron und effizient bei der Sache bleiben, ihre Aufmerksamkeit und ihre Leistung verschlechtert sich dramatisch.
Aber der Kampf mit Ablenkungen wird auch von konzentrationsfähigen und gut balancierten Menschen nicht immer erfolgreich geführt. Selbst interessierte und entspannte Menschen, die ein Buch lesen, registrieren in 20 bis 40 Prozent der Lesezeit, wie ihr Geist „abwandert“, sie verstehen den Text schlechter, müssen ein Kapitel noch mal von vorne beginnen. Ohnehin vermuten viele Aufmerksamkeitsforscher, dass die Fähigkeit zum „tiefen Lesen“ allmählich verlorengeht. Allzu oft nämlich bemerken wir erst nach einiger Zeit, nach vielen Zeilen, manchmal erst nach Seiten, dass wir den Text nur mechanisch gelesen, aber nichts verstanden haben.
Dieser Effekt vergrößert sich noch, wenn die Lesesituation selbst ein Einfallstor für Ablenkungen und Reize aller Art ist: das Lesen am Bildschirm, im Internet. Ablenkung ist hier geradezu fest eingebaut, gehört zum Geschäftsmodell: Da blinkt Werbung auf, ein Pop-up verdeckt die Lektüre, ein Link fordert uns zum Springen auf eine andere Website auf.
„Tiefes Lesen“ und richtiges Verstehen sind jedoch Voraussetzung dafür, etwas gut behalten und einen Fundus an Wissen entwickeln zu können. Das ist bei dem sprung- und lückenhaften Lesen, das wir uns in vielen Zusammenhängen angewöhnt haben, nicht mehr möglich. Wir behalten vielleicht einige Wissenspartikel, können sie aber nicht mehr in ein großes Ganzes einordnen.
Arbeitsgedächtnis: Die magischen Sieben
Denn zu all den Ablenkungen und konkurrierenden Reizen, die unsere Konzentration stören, kommt die banale Tatsache hinzu, dass unsere Aufmerksamkeitskapazität ohnehin begrenzt ist. Der Psychologe George Miller hat bereits in den 1950er Jahren das Maß so definiert: Sieben (plus oder minus zwei) „Stücke“ (chunks) von Information sind das obere Limit der Aufnahme- und Verarbeitungsfähigkeit des Arbeitsgedächtnisses. Neuere Forschungsergebnisse gehen sogar nur von vier chunks aus. Soll heißen: Nur vier Sinneinheiten, vier Passagen eines Textes, vier Aspekte einer Idee können wir in einer zeitlichen Sequenz aufmerksam aufnehmen. Spätestens dann sinkt die Konzentrationsleistung eine Zeitlang ab. Wenn wir „bei der Sache bleiben“, kann dann die nächste Sequenz gelesen werden. Es sei denn, wir lassen den Geist abschweifen oder uns von einem anderen Reiz unterbrechen. Was dann noch nicht fest in unser Arbeitsgedächtnis aufgenommen wurde, hat kaum eine Chance, ins Langzeitgedächtnis überführt und behalten zu werden.
Viel zu häufig „falscher Alarm“ für die Aufmerksamkeit
Eine der umstrittensten Gehirnfunktionen des modernen Menschen ist das sogenannte Multitasking, also die Fähigkeit, zwei oder mehr Aufmerksamkeit erfordernde kognitive Tätigkeiten gleichzeitig auszuüben. Es gibt jedoch ganz eindeutig keine „parallelen Aufmerksamkeiten“, wir können lediglich zwischen zwei Konzentrationsobjekten hin und her wechseln. Das ist erstens anstrengend und zweitens schon nach kurzer Zeit ineffektiv, wichtige Informationspartikel gehen verloren, die Energie, die für konzentriertes Lesen oder Arbeiten nötig ist, ist schnell erschöpft.
Wie lässt sich die Aufmerksamkeit erhöhen, wie können wir selbst dazu beitragen, dass wir fokussiert und konzentriert all das tun, was wir im Grunde für wichtig und notwendig halten?
Warum lassen wir uns ständig ablenken, obwohl doch der Flow-Effekt tiefer Konzentration so viel befriedigender wäre?
Um Antworten auf diese Fragen zu finden, muss man zunächst wissen, wie unser Gehirn arbeitet. Es kann Aufmerksamkeit mit zwei weitgehend voneinander unabhängigen Systemen herstellen und managen:
Das Bottom-up-System funktioniert „aufwärts“: Die unten im Gehirn liegenden subkortikalen und älteren Hirnstrukturen entscheiden, welche Reize zugelassen und beachtet werden.
Das Top-down-System („von oben nach unten“) ist Sache des Neokortex, der unser bewusstes Handeln und Denken organisiert und dafür die höheren Verstandesfähigkeiten wie Reflexion und Selbstkontrolle einsetzt.
Beide Systeme konkurrieren miteinander, sie können einander unterbrechen, beeinflussen, auch überwältigen.
Das Bottom-up-System operiert sehr schnell und quasi instinktiv. Es umfasst unsere Intuition, unsere Impulse und Emotionen, gleichzeitig verfügt es auch über das Repertoire von Gewohnheiten, Automatismen und eingeübten Reflexen.
Außerdem ist das Bottom-up-System auch eine gut geölte Maschine, die dafür sorgt, dass wir vieles automatisch und ohne volle Konzentration tun können: Auto fahren, die Geschirrspülmaschine ausräumen und leider auch essen oder andere „Routinetätigkeiten“. Viele Impulse, die uns in der modernen Welt in Schwierigkeiten bringen können, gehen vom Bottom-up-System aus: Wir essen zu gierig und gedankenlos, wir drängeln uns vor an der Ladenkasse, wir fahren zu schnell und trinken zu viel, wir reagieren schnell panisch bei jeder Bedrohung, wir schmelzen dahin bei Bildern von süßen Kindern oder Tieren und kaufen Produkte, deren Produzenten genau auf diesen Effekt kalkuliert haben.
Das automatische Bottom-up-System, das uns über große Strecken dirigiert, bringt uns häufig in Schwierigkeiten. Gerade weil es von Emotionen und Motiven angetrieben ist, ist es anfällig für „falschen Alarm“, für aufdringliche und potenziell schädliche Signale. Angst kann das Bottom-up-System kapern und die Aufmerksamkeit im eisernen Griff halten. Wer sich beispielsweise vor Zurückweisung fürchtet oder sich nicht akzeptiert fühlt, konzentriert sich auf die Signale, die dieses Gefühl bestätigen könnten: ein Hochziehen der Augenbrauen, ein spöttisches Lächeln, der gereizte oder ablehnende Ton in der Stimme des Gegenübers. Wenn unsere Konzentration auf diese Aufgabe gerichtet ist, können wir nicht gleichzeitig auf den Inhalt eines Gespräches achten oder auf andere Informationen, die vielleicht sehr viel wichtiger oder wertvoller für uns sind.
Das Top-down-System dagegen unterliegt unserem bewussten Willen, es artikuliert unsere Absichten und Ziele. Wenn es zum Zuge kommt, kann es die Automatismen und unbewussten oder emotionalen Impulse aus dem anderen System kontrollieren und bändigen. Wenn wir uns also bewusst auf etwas konzentrieren, uns etwas vornehmen und mit Willen und Absicht durchführen, regiert das Top-down-System.
Das Top-down-System muss willentlich und mit einer gewissen Anstrengung in Gang gesetzt werden. Das Gehirn ist jedoch ein sehr energiesparendes Organ, es geht sehr häufig den Weg des geringsten Widerstandes, folgt den Anweisungen des Bottom-up-Systems. Immer wieder kann dieses System gewollte und konzentrierte Aktivitäten durchbrechen, und es ist besonders mächtig, wenn wir ohnehin abgelenkt, zerstreut oder müde sind.
Wenn wir unsere Konzentrationsfähigkeit steigern wollen, dann müssen wir uns also aus den Klammern des Bottom-up-Systems befreien. Die Lenkung unserer Aufmerksamkeit ist der Schlüssel zum gelingenden Selbstmanagement. Indem wir uns ermächtigen, unsere Konzentration auf bestimmte Dinge zu richten und andere zu ignorieren, emanzipieren wir uns allmählich von unseren primitiveren Impulsen, Begierden, wir werden nicht mehr leichte Beute unserer Emotionen.
Performance, Prozess, Präsenz, Produktivität, Pausen
Wie lässt sich der Einfluss des Bottom-up-Systems verringern? Meditation und Achtsamkeitstraining sind die klassischen Methoden der Wahl, wenn es darum geht, die Konzentrationsfähigkeit zu steigern. Aber daneben gibt es auch ganz simple Hilfsmittel, die uns helfen, fokussiert zu bleiben:
Entmüllen Sie Ihren Kopf. So vieles ist zu erledigen, zu merken, zu bedenken! Wie soll ich mich da konzentrieren – vor allem: worauf zuerst? Priorisieren Sie Ihre Aufgaben und Projekte. Lernen Sie in einer Art Triage, die wichtigen, die später wichtigen und die völlig unwichtigen Dinge zu sortieren, und blenden Sie die beiden Letzteren aus, sobald Sie sich eine wichtige Sache vorgenommen haben.
Schaffen Sie sich eine kreative, konzentrationsfördernde Umgebung. Überladene Schreibtische und zugemüllte Arbeitszimmer sind angeblich der Ausweis von Genialität – in Wirklichkeit bieten sie nur Ablenkungen und erschweren die Fokussierung. Räumen Sie alles Überflüssige ab. Dazu gehören natürlich auch „Hintergrundmusik“ und Zweitmonitore. Simplify!
Bleiben Sie Herr der Technologie. Die schöne neue Medienwelt will unsere Aufmerksamkeit permanent: Sie blinkt und vibriert und klingelt und unterbricht uns – wenn wir es zulassen. Für bestimmte Aufgaben und in bestimmten Zeiten gilt deshalb: Abschalten, stumm stellen, ignorieren.
Konzentriertes Arbeiten, Lesen, Üben verbraucht viel Energie und macht müde. Deshalb sind richtig gesetzte Pausen wichtig. Wenn die Konzentrationsfähigkeit spürbar nachlässt – unterbrechen: spazieren gehen, Luft schnappen, eine halbe Stunde aufs Sofa. Und in den Pausen sind Ablenkungen nicht nur erlaubt, sondern sogar sinnvoll!
Literatur
Cathy N. Davidson: How technology and brain science will transform schools and business for the 21st century. Viking, New York 2011
Winifred Gallagher: Rapt. Attention and the focused life. Penguin, New York 2009
Daniel Goleman: Focus. The hidden driver of excellence. Bloomsbury, London 2013
(Die deutsche Ausgabe dieses Buches wird im März 2014 unter dem Titel Konzentriert Euch! bei Piper erscheinen)
Maggie Jackson: Distracted. The erosion of attention and the coming dark age. Prometheus, New York 2008
Larry Rosen: iDisorder. Understanding our obsession with technology and overcoming its hold on us. Palgrave Macmillan, New York 2012
Rot ist blau: Der Stroop-Test
1933 hat ein junger Psychologe namens J. Ridley Stroop für seine Doktorarbeit in Psychologie einen Test entwickelt, der so einfach wie genial die Arbeitsweise von Aufmerksamkeit und Konzentration vor Augen führt. Den Versuchspersonen wird eine Reihenfolge von Farbwörtern gezeigt, also etwa „Blau“, das Wort ist jedoch in roter oder grüner Farbe geschrieben. Die Versuchspersonen sollen möglichst schnell die Farben nennen, nicht das Wort lesen. Da lesen jedoch eine hochautomatisierte Fähigkeit ist, müssen sie sich bei jedem Wort konzentrieren, um nicht einfach „blau“ zu sagen, sondern „rot“. Die Zahl der Fehler ist anfangs sehr hoch, nur bei beständiger Konzentration kann jeweils die automatische Reaktion überstimmt werden.
Der Stroop-Test zeigt, wie wichtig die Top-down-Aufmerksamkeit ist und wie gut sie beim Einzelnen funktioniert: Sie kommt immer dann ins Spiel, wenn wir eine Entscheidung treffen, einen Widerspruch auflösen müssen. Diese Fähigkeit der Aufmerksamkeitssteuerung ist an allen höheren Denkprozessen beteiligt. Sie ist jedoch, evolutionär betrachtet, eine sehr späte Entwicklung, das System ist sehr fehleranfällig. In psychischen oder geistigen Störungen wie etwa Schizophrenie, Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom, Borderline und vielen anderen ist zu beobachten, dass diese Exekutivfunktion des Gehirns nicht optimal funktioniert.