Kann man seine Menschenkenntnis verbessern?

Die Psychologin und Autorin Monika Matschnig leitet viele Seminare zum Thema Körpersprache und Präsenz. Glaubt sie an die perfekte Menschenkenntnis?

Die Illustration zeigt drei verschiedene Personen vor unterschiedlichen Farbhintergründen - blau, rot und gelb
Von der Kleidung eines Menschen schließen wir etwa auf dessen Eigenschaften – und liegen damit nicht selten falsch. © Dorothea Pluta für Psychologie Heute

Die Psychologin und Autorin Monika Matschnig hält pro Jahr mehr als 100 Vorträge und leitet Seminare zum Thema Körpersprache und Präsenz. Glaubt sie an die perfekte Menschenkenntnis?

Frau Matschnig, wenn Sie sich die Körpersprache einer fremden Person ansehen – auf welche Gesten achten Sie da besonders?

Alle Fachleute für Körpersprache, die behaupten, sie könnten aus einer einzigen Geste auf den Charakter eines Menschen schließen, sollten am besten ihren Job aufgeben. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit, das…

Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen

Menschen schließen, sollten am besten ihren Job aufgeben. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit, das funktioniert nicht.

Warum liest man das dann immer wieder?

Wir Menschen wünschen uns einfach, andere durchschauen zu können. Wenn uns jemand das verspricht, hoffen wir, Schummler zu enttarnen, die Wahrheit ans Licht zu bringen, keine Misserfolge ertragen zu müssen.

Worauf achten Sie stattdessen?

Ich mache mir immer ein Gesamtbild. Ich beobachte den Gesichtsausdruck, die Körperhaltung, die Gesten – mit einem möglichst weiten, raumgreifenden Blick. Ich achte natürlich auch auf die Stimme, auf die Stimmlage und das Sprechtempo. Ich achte ebenso auf die Kleidung, die Schuhe, die Haare, das Make-up. Aus all dem kann man dann schon auf bestimmte Eigenschaften schließen. Aber immer mit dem Gedanken im Hinterkopf: Ich könnte mit meiner Deutung auch gravierend falsch liegen.

Sie glauben nicht an die perfekte Menschenkenntnis?

Nein, dazu kenne ich die Forschungsliteratur zu gut. Wenn wir die Persönlichkeit einschätzen wollen, unterlaufen uns alle möglichen kognitiven Verzerrungen. Die Nase einer Fremden erinnert mich an die Nase meiner schlimmsten Feindin – automatisch beurteile ich sie als unsympathisch. Das nennt man den „Halo-Effekt“.

Dann gibt es den sogenannten „Bestätigungsfehler“: Wir achten fast nur auf Signale, die zu unserem Vorurteil passen, und ignorieren alles, was ihm widerspricht. Oder uns unterläuft ein „Projektionsfehler“, bei dem wir einfach davon ausgehen, dass unser Gegenüber so ähnlich tickt wie wir selbst. Und so weiter und so fort. Kurz: Wir liegen in unseren Einschätzungen öfter falsch, als wir glauben.

Gibt es nicht auch Punkte, bei denen wir meistens richtig liegen?

Wir erkennen einigermaßen gut, wie ein Mensch sich gerade fühlt. Fühlt er sich wohl? Ist er voller Freude? Interesse, Neugier, Freude – das nehmen wir als wohlwollend war und das macht uns einen Menschen sympathisch. Wenn dagegen eine Person schwer und traurig daherkommt, schreiben wir ihr automatisch Negatives zu.

Wir denken: „Das ist eine Pessimistin.“ Wir gehen eher auf Distanz. Auch das ist eine kognitive Verzerrung, der sogenannte „Attributionsfehler“ – wir sehen eine Äußerlichkeit und schließen daraus auf den Charakter. Dabei übersehen wir, dass vielleicht gerade das Kind dieser Frau im Krankenhaus liegt. Es ist also ihre Empathie, die sie traurig macht. Ihre traurige Körperhaltung rührt von der momentanen Situation her, nicht von ihrer Persönlichkeit.

Woher kommen all diese Verzerrungen, diese Denkfehler?

Wenn wir einen uns unbekannten Menschen sehen, wird sofort ein archaischer Instinkt wach. Das Gehirn fragt: Ist das ein Freund oder eine Feindin? Sympathie entsteht in nur 150 Millisekunden. Und denjenigen, die uns sympathisch sind, schreiben wir sofort Kompetenz zu. Es ist verrückt. Wir deuten auch viel mehr in Gesichter, als eigentlich gerechtfertigt wäre.

Was zum Beispiel?

Wir finden jemanden schön – und schon halten wir ihn für kompetent. Mit einer Ausnahme: Wenn Frauen sehr schön sind, halten wir sie automatisch für dumm. Oder wenn jemand dünn ist, halten wir diese Person für konsequent, wenn sie dick ist, halten wir sie für faul. Volle Lippen halten wir für sinnlich, schmale Lippen für verbissen. Das sind alte Vorurteile, aber sie halten sich hartnäckig.

Können wir unsere Menschenkenntnis schulen?

Ich bin überzeugt, dass das möglich ist. Das geht über Präsenz und Wahrnehmung. Beides kann man lernen.

Wie geht das?

Indem wir einfach im Hier und Jetzt sind, achtsam sind und mit unserer Aufmerksamkeit ganz bei der anderen Person. Und wenn uns das gelingt, nehmen wir auf einmal auch viel mehr Signale wahr. Es gibt viele Achtsamkeitsübungen. Eine davon ist Meditation. In sich gehen, ankommen, im Hier und Jetzt sein. Um dann den Fokus auf das Gegenüber auszurichten: aktiver zuhören, den ganzen Körper des Gegenübers besser wahrnehmen, in sich hineinfühlen und mitfühlen.

Das lernt man über Meditation, indem man für fünf Minuten in sich geht. Dabei lernt man auch, mehr bei dem oder der anderen zu sein, besser zuzuhören, den gesamten Körper seines Gegenübers besser wahrzunehmen.

Worauf soll man dann am besten achten?

Zunächst darauf, ob die oder der andere eher extravertiert ist oder introvertiert. Die Extravertierten dehnen sich aus in ihrer Körpersprache. Die Introvertierten machen sich klein. Das erkennt man sofort. Im zweiten Schritt würde ich darauf achten, ob die Person sich wohlfühlt oder ob sie angespannt ist. Wenn sie sich wohlfühlt, ist ihre Körpersprache entspannt und ihre Bewegungen sind fließend. Wenn sie sich unwohl fühlt, wirkt sie wie gelähmt und eng. Und wenn ein solches Unbehagen erkennbar ist, dann kann ich mich fragen: Vermag ich etwas dazu beizutragen, dass dieser Mensch sich besser fühlt?

Wie geht das?

Erst mal indem ich selbst die Klappe halte und anfange, Fragen zu stellen und zuzuhören. Ich gebe dem anderen den Raum, sich zu öffnen und locker zu werden. Dann sehe ich zum Beispiel viel besser, wie sehr sich der andere für mich und unser Gespräch interessiert.

Woran sehe ich das? Wie erkenne ich, dass sich jemand interessiert?

Wie schon gesagt: Ich verlasse mich nie auf eine einzige Geste. Wenn aber drei, vier, fünf oder noch mehr Signale alle in dieselbe Richtung gehen, dann ist das schon ein guter Hinweis. Sie lehnt zum Beispiel den Oberkörper nach vorne. Sie hält Blickkontakt. Ab und zu zieht sie ihre Augenbrauen nach oben. Vielleicht öffnen sich plötzlich ihre Lippen. Sie nickt häufig. Ihre Fußspitzen zeigen in meine Richtung. Ich höre von ihr paraverbale Laute, sie macht also: „Mhm, mhm.“ All das verrät mir: Dieser Mensch interessiert sich für mich.

Sie haben kürzlich ein Buch darüber geschrieben, wie man Lügen entlarven kann. Ihr berühmter Kollege Paul Ekman behauptet ja, dass man das an sogenannten Mikroexpressionen ablesen kann, an blitzschnellen, sehr kleinen Bewegungen der Gesichtsmuskeln. Wie sehr arbeiten Sie mit diesem Ansatz?

Ich schätze Paul Ekman sehr. Diese Mikroexpressionen gibt es wirklich, sie dauern aber nur 150 bis 200 Millisekunden. Das ist so schnell, dass wir das bewusst kaum wahrnehmen können. Man hat ja versucht, das Flugpersonal in den USA nach dieser Methode zu schulen. Die Sache ist gnadenlos gescheitert. Die Methode bringt im Alltag überhaupt nichts.

Einige Coaches behaupten, dass man das lernen kann.

Ja ja, und es gibt die TV-Serie Lie to Me. Die habe ich mir auch gerne angesehen. Da sieht man diese Mikrobewegungen dann in Zeitlupe. Wer behauptet, dass er das auch im wirklichen Leben beherrscht und dass man das mal eben in einem Schnellkurs lernen kann – es tut mir leid. Da denke ich: Hört bitte auf, eure Kunden zu veräppeln!

Monika Matschnig ist Psychologin und arbeitet als Trainerin, Coach, Vortragsrednerin und Therapeutin in der Nähe von München.

Zum Weiterlesen

David Kenny: Interpersonal Perception, Guilford Publications, 2020

Monika Matschnig: Die Körpersprache der Lügner. Trickser und Schwinder entlarven, Gräfe + Unzer, 2021

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 6/2023: Woher weiß ich, wer du bist?