Menschenkenntnis: Woher weiß ich, wer du bist?

Wir beurteilen Menschen auf den ersten Blick. Für diese Einschätzung brauchen wir nur wenige Sekunden. Aber wie zuverlässig ist dieses Bauchgefühl?

Die Illustration zeigt eine junge Frau, die ein aufgeschlagenes Buch mit vielen Seiten, anstelle der Augen hat
Manche Menschen wirken auf uns wie ein offenes Buch: Wir glauben, sie leicht lesen zu können – doch oft liegen wir falsch. © Dorothea Pluta für Psychologie Heue

Der Raum ist klassenzimmergroß und fast vollständig leer. In seiner Mitte sehe ich zwei Stühle an einem Tisch, den eine Glasscheibe in zwei Hälften teilt; in einer kleinen Aussparung in der Scheibe liegt ein Stapel Karteikarten. Ich rücke meine Coronamaske zurecht und setze mich, ein ebenfalls maskierter Mann betritt den Raum: mein Gesprächspartner für die nächste Stunde. Wir befinden uns im Erdgeschoss des Universitätsmuseums von Ann Arbor, einer liebenswerten Universitätsstadt im US-Staat Michigan. „A…

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Ways (Part Two)“ heißt das Kunstprojekt, an dem wir teilnehmen.

Wir sollen einander nicht begrüßen, keine Floskeln austauschen, sondern abwechselnd die jeweils oberste Karteikarte lesen und den Anweisungen darauf folgen. Das ­Ergebnis ist eine ungewöhnliche Begegnung mit einer Überraschung am Ende, die man keinem verraten darf. Ich lerne dabei eine Menge über mein Gegenüber, doch was er beruflich macht, wie alt er ist, woher er kommt und wie er lebt, darüber ­erfahre ich nichts. Schon nach wenigen Sekunden springt bei mir das Kopfkino an.

Wie funktioniert Menschenkenntnis?

Wen habe ich da eigentlich vor mir? Hm. Ich schätze ihn auf Ende 50, er ist gut in Form. Vor meinem inneren Auge sehe ich ein schönes Holzhaus oben am Lake Michigan, er ist ein zäher Naturbursche, an Samstagen paddelt er gerne in seinem Kanu übers Wasser, er repariert vieles selbst, führt ein kleines, aber gut laufendes Unternehmen, irgendwas mit Finanzen. Er ist, so fantasiere ich weiter, ein netter Kerl, sehr ordentlich und zuverlässig, glücklich verheiratet, hat drei Kinder und engagiert sich in der örtlichen Kirchengemeinde. Ich lächle selbstzufrieden. Der Sherlock Holmes in mir hat wieder einen Fall gelöst. Menschenkenntnis – darin macht mir so schnell keiner was vor!

Immerhin: Ich habe während unseres Dialogs seinen Vornamen erfahren. Am Kragen seines Sakkos stand der Name einer mir unbekannten Universität. Genügend Information also, um später zu Hause Google zu befragen. Und genau das hätte ich besser gelassen. Denn wie sich zeigt, ist der Mann im wirklichen Leben noch keine 40. Er lebt in einer der größten Metropolen Europas und erforscht als Professor die geisteswissenschaftliche Bedeutung historischer Tonaufzeichnungen. O weh! Ich lag mit meinem Tipp völlig daneben. Die Luft entweicht aus meinem aufgeblasenen Ego. Eher Watson als Holmes, wenn überhaupt.

Kann ich denn besser werden in dieser Disziplin? Wie funktioniert Menschenkenntnis? Ich fange an, mich in die Forschungsliteratur einzulesen, und telefoniere mit einem Psychologen, der Studien zu diesem Thema veröffentlicht hat. Er empfiehlt mir ein Buch, eine Art Bibel der Menschenkenntnisforschung. Es heißt Interpersonal Perception. The Foundation of Social Relationships, verfasst von David Kenny, einem inzwischen emeritierten Professor für Sozialpsychologie an der University of Conneticut. Und tatsächlich: Nachdem ich mich durch Kennys Wälzer und eine ganze Gebirgskette an komplizierten Studien und Theorien gewühlt habe, bin ich schlauer. Zumindest fühle ich mich so.

Was das Passbild verrät

David Kenny hat bereits in den 1980er Jahren begonnen, jenen so oft beschworenen ersten Eindruck zu untersuchen, also das spontane Urteil, das wir uns bei der ersten Begegnung von einem fremden Menschen binnen Sekunden bilden. Und er war ein Skeptiker. Dass man den Charakter eines Menschen zum Beispiel nur anhand eines Fotos erkennen kann, hielt er damals für puren Humbug. Um die Sache zu widerlegen, hat er sie in einem Experiment ausprobiert – und festgestellt, dass er mit seiner Skepsis falsch lag.

Denn zu Kennys Überraschung tippten viele seiner Testpersonen beim Anblick der Bilder jeweils ziemlich übereinstimmend dieselben Persönlichkeitseigenschaften. Eine ganze Welle ähnlicher Studien folgte. Heute weiß die Forschung, dass ein einfaches Passbild uns tatsächlich viel mehr als nichts über einen Menschen verrät, dass wir also ein gewisses Gespür dafür haben, ob die dort abgelichtete Person schüchtern ist oder leutselig, leichtfüßig oder penibel, widerborstig oder nett, verängstigt oder draufgängerisch. Für diesen allerersten Persönlichkeits­check genügt es sogar tatsächlich, das Bild nur für den Bruchteil einer Sekunde gesehen zu haben.

Doch wie gelingt uns dieses Kunststück? Offenbar dadurch, so glaubt David Kenny, dass wir uns in unserer Meinung auf ein ganzes Bündel an Vorurteilen verlassen, in denen jedoch „ein Körnchen Wahrheit“ verborgen liegt. Unterm Strich erraten wir die Gesamtpersönlichkeit eines Menschen dadurch mit einer Trefferquote von immerhin 58 Prozent.

Wir schätzen schlecht ein, welche Eigenschaften Menschen haben

Sogar rund 75 Prozent unserer Tipps sind richtig, wenn wir nur die Extraversion erraten sollen, also wie gesprächig, gesellig und nassforsch beziehungsweise still, in sich gekehrt und zurückhaltend die Person auf dem Foto wohl ist. Die Persönlichkeitseigenschaft Extraversion kann man uns mit Abstand am besten am Gesicht ablesen – jedenfalls dann, wenn man viele Menschen einen Tipp abgeben lässt und daraus dann den Durchschnitt berechnet. Bei der Menschenkenntnis schlägt die Weisheit der Gruppe die Meinung des Einzelmenschen.

Mich jedenfalls beruhigen die Resultate dieser zero acquaintance-Forschung, bei der wir Menschen einschätzen, die wir überhaupt nicht kennen. Sie zeigt, dass wir für unser allererstes Urteil vor allem das Gesicht unseres Gegenübers lesen. Mein Gesprächspartner im Museum von Ann Arbor trug eine Maske. Ich konnte zwar seine Augen erkennen, der Rest seines Gesichts blieb aber verborgen – und damit eine wichtige Informationsquelle, um ihn als Person einzuschätzen. Ich war also eindeutig gehandicapt!

Und überhaupt bin ich nicht der Einzige, der mit seinen Tipps danebenliegt. Unser siebter Sinn hat seine Grenzen, wie eine unveröffentlichte Studie zeigt, an der auch David Kenny selbst beteiligt war. Dabei kam heraus: Wenn es darum geht, per Foto die Hilfsbereitschaft von Unbekannten zu erraten, schneiden wir dermaßen schlecht ab, dass man die Sache ebenso per Münzwurf entscheiden könnte. Auf den ersten Blick sehen wir unseren Mitmenschen das Maß ihres Altruismus einfach nicht an.

Die ersten Minuten entscheiden

Nun passiert es im Alltag ja eher selten, dass wir lediglich per Passbild entscheiden, mit wem wir das Reserverad auf unseren Opel Corsa schrauben. Im wirklichen Leben begegnen uns Menschen aus Fleisch und Blut, deren Stimme wir hören, die sich bewegen, deren Mimik und Gestik wir sehen und deuten können. Und wirklich zeigt die Forschung: Schon sehr wenige solcher Signale (in der Fachsprache nennt man sie thin slices) lassen unsere Treffsicherheit rapide ansteigen.

In diesen ersten Sekunden und Minuten erfahren wir wahnsinnig viel über unsere Mitmenschen. Das ergaben bereits Studien in den 1990er Jahren. Etwa an der Harvard University, wo man einer Gruppe von Studierenden zu Semesterbeginn drei kurze Videos vorführte, die man in Vorlesungen von Professorinnen und Professoren aufgenommen hatte. Bereits nach Ansicht dieser Clips konnten die jungen Leute verblüffend gut vorhersagen, wie ihre Mitstudierenden die Leh­renden am Ende des Semesters bewerten würden.

Andere Untersuchungen haben ermittelt, auf welche Signale wir uns beim schnellen Blick auf Fremde eigentlich verlassen. Wie bewegt sich diese Person? Spricht sie weich oder hart? Wie ist sie gekleidet? Wie sich herausstellte, ziehen wir dabei für jede Eigenschaft, die es zu beurteilen gilt (etwa Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit, Offenheit), jeweils spezifische Signale zurate.

Die Macht solcher thin slices ist in der Tat verblüffend, sie wurde in vielen Studien bestätigt. Und immer wieder zeigte sich: Der erste Eindruck ist entscheidend. In den meisten Fällen ist unser erstes Urteil recht stabil und ändert sich nur langsam oder gar nicht, wie Studien belegen. Das liegt unter anderem daran, dass eine Neubewertung anstrengend wäre für unser Gehirn. Diese Mühe machen wir uns selten.

Zweite Chance für den ersten Eindruck?

Es gibt aber Ausnahmen, manchmal korrigieren wir unser Urteil. Vermutlich kennt jeder solche Situationen. Sabine ist zunächst völlig begeistert von Peter, bald aber geht ihr auf, dass auch er seine Macken hat. Barbara findet Gabi total unmöglich, merkt aber mit der Zeit, dass sie im Grunde gar nicht so übel ist. Gut stehen die Chancen für eine Korrektur, wenn wir feststellen, dass unser erster Eindruck stark von dem abweicht, was andere über die betreffende Person denken: Jan findet den neuen Kollegen faul und unfreundlich, alle anderen halten ihn aber für komplett in Ordnung. Vermutlich wird auch Jan den Neuen bald mit milderen Augen sehen.

Doch grundsätzlich tun wir uns schwer damit, einen einmal verinnerlichten Eindruck zu berichtigen. Für uns alle hat diese Gesetzmäßigkeit eine wenig schmeichelhafte Konsequenz: Nach dem ersten Kennenlernen wird die Lernkurve unserer Menschenkenntnis deutlich flacher. Wie in einer US-Studie aus dem Jahr 2017, bei der man eine Gruppe Studierender für ein zehnwöchiges Praktikum zusammenbrachte. Die jungen Leute kannten einander bis dahin nicht. Vor dem Versuch ließ man sämtliche Teilnehmenden einen Persönlichkeitstest ausfüllen – und bat zugleich darum, auch die Persönlichkeit der anderen einzuschätzen.

Zwar stellte sich heraus, dass die wechselseitigen Urteile am Ende des Praktikums deutlich treffender ausfielen als beim ersten Blick auf die Porträtfotos der Beteiligten. Klar, die Studierenden hatten einander in den zehn Wochen gut kennengelernt und wussten jetzt besser, mit wem sie es zu tun hatten. Doch das Erstaunliche an der Sache war: Dieser „Bekanntschaftseffekt“ (acquaintance effect) ereignete sich vor allem während des allerersten Kennenlerngesprächs, also in den ersten fünf Minuten. Danach passierte in Sachen Menschenkenntnis nur noch wenig. „Etwa die Hälfte dessen“, was man überhaupt an einem Menschen durchschauen kann, „lernen wir innerhalb der ersten paar Minuten oder gar Sekunden“, schreibt David Kenny.

Die Methode Aristoteles

All das hat Konsequenzen. Wir kennen Freunde und Arbeitskolleginnen zwar besser als flüchtige Bekannte. Aber die Unterschiede sind gering. Selbst Eheleute bringen es im Durchschnitt nur auf eine Trefferquote von etwa 80 Prozent, wenn sie einschätzen sollen, wie extravertiert, belastbar, verträglich, gewissenhaft und offen der Partner ist. Warum so wenig? Darüber rätseln derzeit selbst die Fachleute.

Vermutlich liegt es daran, dass wir die Menschen eben lieben, die uns besonders nah sind. Wir sehen sie deshalb in einem übertrieben günstigen Licht, welches die vielen kleinen Falten und Unreinheiten auf der Charakterhaut unserer Lieben gewissermaßen überblendet und vertuscht. Perfekte Menschenkenntnis, so das Fazit, ist – von seltenen Glücksfällen abgesehen – offenbar ein Ding der Unmöglichkeit.

Mir persönlich behagt das überhaupt nicht. Verstehe ich meine Partnerin wirklich nur zu 80 Prozent? Alle Fachleute, die ich dazu befrage, lächeln verständnisvoll. Sie wissen aus vielen Studien, dass ich – wie fast alle anderen – meine Menschenkenntnis überschätze: Ich werde Opfer des overconfidence effect (siehe Definition unten). Schuld daran sind diverse „kognitive Verzerrungen“, also jene energiesparenden Faustregeln unseres Denkens, die uns im Alltag so häufig in die Irre führen.

Falsch beschriftete Schubladen in unseren Köpfen

Dennoch steht fest, dass manche Menschen besonders gut darin sind, andere Personen zu lesen und zu ahnen, wie sie ticken. Doch wie machen sie das eigentlich? Worin liegt ihr Geheimnis?

Um die überraschende Antwort der Forschung zu verstehen, ist ein kleiner Exkurs zum Philosophen Aristoteles hilfreich. Dieser schlug vor mehr als 2000 Jahren folgendes Verfahren vor, um ein Tier, einen Menschen, eine Pflanze oder ein Objekt zu definieren: Er überlegte zuerst, zu welcher übergeordneten Gattung etwas oder jemand gehörte – und bestimmte dann, worin sich ein Ding oder Wesen von dieser Gattung unterschied. So kam zum Beispiel der moderne Mensch zu seinem Namen: Homo sapiens ist „der verständige Mensch“. Der Name besagt: Wir gehören in dieselbe Schublade wie unsere baumbewohnenden Urahnen. Was uns aber von ihnen unterscheidet, ist unsere Denkfähigkeit.

Genau mit diesem Aristoteles-Kniff entdeckte die Psychologie vor einigen Jahren, was gute von schlechten Menschenkennern unterscheidet: Sie wissen zum Beispiel, wie ein heterosexueller Mann aus der deutschen Mittelklasse üblicherweise tickt. Gute Menschenkenner erreichen darin eine Trefferquote von mehr als 90 Prozent. Weniger gute Menschenkenner dagegen liegen in dieser Disziplin so himmelweit daneben, dass ein Würfel oder eine geworfene Münze sie in einem Menschenkenntniswettbewerb schlagen würde. Wir alle stecken unsere Mitmenschen in Schubladen, aber bei manchen von uns sind diese Schubladen offenbar falsch beschriftet.

Frauen sind besser darin, Menschen einzuschätzen

Wie sieht es mit der zweiten Stufe der Menschenkenntnis aus, also dem Erkennen, wie und ob die Menschen innerhalb dieser Schubladen sich voneinander unterscheiden? Wie sehr zum Beispiel bin ich anders als die anderen heterosexuellen Männer meiner Herkunft, Bildung und Altersgruppe? Hier liefern die Studien ein verblüffendes und völlig anderes Bild: Die Besten von uns schneiden darin nur minimal besser ab als die Schlechtesten, so David Kelly.

Keine Frage: In den Augen der Forschung besteht Menschenkenntnis in der Kunst, die richtigen Sticker auf seine inneren Schubladen zu kleben. Dabei helfen uns vor allem vier Faktoren: Intelligenz, Verträglichkeit, ein ausgeglichenes Wesen und – ein wenig – eine Frau zu sein. In fast allen Studien schneiden die Frauen nämlich etwas besser ab als die Männer. Der Unterschied ist gering, aber er findet sich in allen Altersgruppen und so gut wie allen Ländern, in denen man dies untersuchte. Manche Fachleute sehen darin einen Beleg für die alte These, dass „Männer sich mehr für Sachen interessieren und Frauen mehr für Menschen“.

In bestimmten Situationen zeigen sich Eigenschaften am deutlichsten

Was kann man tun, um in seinen Einschätzungen besser zu werden? Eine Antwort liefern die Arbeiten des aus Belgien stammenden Psychologen Filip Lievens, der heute an der Singapore Management University lehrt. Lievens geht seit vielen Jahren der Frage nach, wie Firmen unter ihren Bewerberinnen und Bewerbern eine möglichst gute Auswahl gelingt. Seine Antwort: Man muss sein Gegenüber in Situationen bringen, die all seine schwer erkennbaren Eigenarten zum Vorschein bringen. Lievens nennt diese Technik trait activation, „Eigenschaftsaktivierung“.

Um zum Beispiel die Stresstoleranz eines Bewerbers aufleuchten zu lassen, erhöht man einfach den Stress. Etwa indem man nach einem seiner Wortbeiträge stumm den Kopf schüttelt oder sagt: „Na ja, das war ja keine besonders schlaue Idee.“ Um die Sozialkompetenz einer Bewerberin zu testen, solle man in einer Runde ein betont trauriges Gesicht aufsetzen – und dann abwarten, ob und wie die Kandidatin darauf reagiert. Beim Thema „Organisiertheit“ ist eine einfache Zwischenfrage hilfreich: „Wo liegt an dieser Stelle deine oberste Priorität?“

In mehreren Studien zeigte Lievens, dass diese Technik in der Tat zu deutlich höheren Trefferquoten führen kann. Die Sache klappte vor allem dann, wenn man die Leute aus der Personalabteilung zuvor einer speziellen Schulung unterzogen hatte. Zumindest in einer eng umrissenen Situation wie einem Auswahlverfahren sind wir also durchaus in der Lage, unsere Menschenkenntnis zu trainieren und zu verbessern.

Per Handy ins Trainingslager?

Aber wenn das so ist, wäre es dann nicht toll, dieses Können mit einer speziellen App zu üben? Während meiner Recherche erreicht mich aus heiterem Himmel die E-Mail eines befreundeten Psychologen. Er schreibt mir, dass ein Kollege an der Universität Münster gerade zu Forschungszwecken an genau so einer App arbeitet. Hinter dem Projekt steht der Persönlichkeitspsychologe Richard Rau. Er hat inzwischen eine Stelle an der Uni Potsdam angetreten, betreut aber weiter sein Projekt in Münster. Richard Rau schickt mir den Link zu seiner App. Sie trägt den Namen Who Knows und kommt wie ein lustiges Ratespiel daher.

Ich sehe darin zunächst ein Video. Eine Person sitzt auf einem Sofa, stellt sich vor und beantwortet danach einige Interviewfragen. Nach 30 Sekunden endet der Film und die App beginnt eine Art Quiz. „Würde diese Person noch einmal zurückgehen, wenn sie festgestellt hat, dass sie zu viel Rückgeld bekommen hat?“, heißt es da zum Beispiel.

„Glaubt diese Person an die Bedeutung von Sternzeichen?“ Oder: „Hat diese Person sich schon einmal ehrenamtlich engagiert?“ Ich beantworte die Fragen nach Bauchgefühl und bekomme danach die richtigen Lösungen angezeigt. Das Ganze macht Spaß und ich spiele mehrere Runden. Wie nicht anders zu erwarten, liege ich mit meinen Tipps mal richtig und mal daneben.

Durch welche Brille sehen wir andere Menschen?

Höchste Zeit für einen Selbstversuch, warum nicht gleich verbunden mit einem kleinen Wettbewerb? Ich zücke mein Handy und schicke den Who Knows-Link an eine befreundete Psychologin, um sie zum Duell zu fordern. Sie wird mich bei diesem Spiel vermutlich haushoch besiegen. Ich bin gespannt, wie sie abschneidet und was sie zur App zu sagen hat.

Dann rufe ich Richard Rau per Zoom an. Ich will wissen, ob seine App wirklich dazu taugt, unsere Menschenkenntnis zu verbessern. Richard Rau zuckt die Achseln. „Das wissen wir im Moment leider noch nicht. Denkbar ist es aber schon, dass man die App als eine Art Fitnessübung nutzen kann. Das wäre ein cooles Ergebnis.“

Zur Vorbereitung auf unser Gespräch habe ich einige Studien von Richard Rau gelesen. Einige davon handeln von einem Phänomen, das man den perceiver effect nennt. Gemeint ist damit sozusagen die Brille, mit der wir unsere Mitmenschen sehen. Wir alle tragen eine solche Brille und nicht selten sind deren Gläser rosarot gefärbt. Wir sehen andere dann in einem übertrieben positiven Licht und wundern uns, wenn wir immer wieder enttäuscht werden.

Welche Rolle spielt unsere Persönlichkeit, wenn wir andere beurteilen?

Richard Rau glaubt, die Farbe dieser Brille durch Who Knows ermitteln zu können – und zwar viel besser als wir selbst. „Wir wissen aus Studien, dass unsere Selbsteinschätzung mit unserem tatsächlichen Blick auf andere oft überhaupt nichts zu tun hat.“ Anders gesagt: Wir haben im Grunde keine Ahnung, ob wir im Alltag eher an das Gute oder das Schlechte im Menschen glauben. Who Knows könnte uns darauf eine Antwort liefern.

Die Forschung am perceiver effect ist für Richard Rau mehr als reine Spielerei. Denn wie würde ein Mensch reagieren, wenn man ihm offenbarte, durch welche unbewusste Brille er seine Mitmenschen wirklich beurteilt? Dass er zum Beispiel überall nur das Böse sieht, wo in Wahrheit nur gute Absichten wohnen?

„So etwas spielt bei vielen Persönlichkeitsstörungen eine Rolle“, sagt Rau. „Wer paranoid ist, denkt: Die sind alle hinter mir her. Narzissten denken: Die haben alle nichts drauf. Menschen mit einer Zwangsstörung denken: Die anderen erledigen ihre Aufgaben nicht ordentlich. Und wenn man diesen Menschen mit unserem Spiel zeigt: Guck mal, du siehst deine Mitmenschen ganz anders, als alle anderen das tun – das könnte vielleicht einen Klärungsmoment geben.“ Darauf ließe sich dann unter Umständen sogar mit einem Training aufbauen.

Überholt uns künstliche Intelligenz in unserer Menschenkenntnis?

Deutlich mehr als 1000 Menschen haben die Who Knows-App bereits genutzt – und Richard Rau schon jetzt wertvolle Erkenntnisse geliefert. Eine davon lautet: „Es gibt in Sachen Menschenkenntnis offenbar keine Genies. In Krimis sehen wir ja immer diese tollen Profiler, die jeden Täter sofort durchschauen. Das ist eine gute Geschichte, die wir gerne glauben.“

Mit der Wirklichkeit scheint sie jedoch wenig zu tun zu haben. Selbst die besten Teilnehmenden bei Who Knows erreichen in der App nur eine Trefferquote von knapp unter 70 Prozent. Allerdings: Eine Form von Super-Menschenkenner könnte es vielleicht doch geben. Nämlich die künstliche Intelligenz. Genau das möchte Rau in einem weiteren Forschungsprojekt testen. „Meine Hoffnung lautet, dass die besten Menschen da immer noch besser sind als der beste Computer.“

Bei meiner Abschlussfrage wird Richard Rau noch einmal neugierig. Ich hatte beim Spielen nämlich den Eindruck, in manchen der Personen auf dem Sofa lesen zu können wie in einem offenen Buch. Andere kamen mir vor wie ein Rätsel. Man wird nicht aus ihnen schlau. „Genau das ist die These meiner Kollegin Lauren Human aus Montreal. Sie glaubt, dass die Unterschiede in unserer Lesbarkeit viel größer sind als die Unterschiede in unserer Menschenkenntnis.“

In Münster auf dem Sofa

Ob wir mit unserer Einschätzung richtig liegen, hängt demnach nicht von unserem guten Bauchgefühl ab, sondern vor allem davon, was andere von sich preisgeben. Auch David Kenny geht davon aus, dass dieser target effect wichtiger ist als unsere Menschenkenntnis. Deren Bedeutung wird seiner Meinung nach überschätzt. „Doch genau das bezweifle ich“, sagt Richard Rau. „Das bestätigen auch die Daten, die wir jetzt schon durch unsere App gesammelt haben: Menschenkenntnis und target effect scheinen ungefähr gleich wichtig zu sein.“

Bin auch ich ein offenes Buch? Oder eher eine rätselhafte Sphinx? Richard Rau lacht – und lädt mich ein, nach Münster zu kommen und mich selbst auf das Interviewsofa zu setzen. „Wir suchen permanent Leute, die sich dafür zur Verfügung stellen.“

Wenige Tage später sitze ich dann tatsächlich in einem kargen Raum an der Universität Münster und lasse mich vor der Kamera interviewen. 100 Fragen stellt mir Raus Mitarbeiterin. Zum Dank erhalte ich ein paar Schokobonbons, ein Glas Wasser und eine Aufwandsentschädigung von 20 Euro. In einigen Monaten werden viele Menschen ihre Tipps über mich abgegeben haben. Und dann kann mir Richard Rau vielleicht verraten, ob seine Quizfragen zu mir einfacher oder schwerer zu lösen sind als bei anderen. Meine Menschenkenntnis macht das natürlich nicht besser. Aber immerhin werde ich dann wissen, wie gut andere mich erkennen können.

Overconfidence effect

Dieser Begriff besagt, dass sich die meisten von uns in vielem überschätzen. Wir halten uns oft für moralischer, klüger, schöner und gesünder, als wir eigentlich sind. So überschätzen wir etwa unser Können beim Autofahren – und in der Menschenkenntnis. Der letztgenannte Effekt ist mittelgroß: Wo wir glauben, zu fast 80 Prozent das Verhalten von Freunden richtig einzuschätzen, sind es in Wahrheit nur 68 Prozent.

Böttger gegen Metzger – ein Wettbewerb in Menschenkenntnis

Muriel Böttger ist eine Psychologin aus Köln, sie hat sich auf die positive Psychologie spezialisiert, jene Disziplin also, die uns dabei helfen will, ein erfüllteres Leben zu führen. Wir kennen einander schon länger, weil wir einmal pro Woche in einem gemeinsamen Psychologie-Podcast zu hören sind („Sag mal, du als Psychologin…“).

Anders als viele ihrer Kolleginnen und Kollegen hat Muriel keine Angst, meine Herausforderung anzunehmen. Sie meldet sich bei der App Who Knows an. Mit dieser Anwendung der Universität Münster kann man seine Menschenkenntnis testen. Wer von uns wird dabei besser abschneiden?

Nach den ersten paar Runden telefonieren wir. „Das hat ja fast Suchtcharakter“, sagt sie nur halb im Scherz. „Ich könnte die ganze Zeit weiterspielen.“ Trotzdem fühlt Muriel sich bei Who Knows ein bisschen wie ein Fisch auf dem Trockenen. Denn als Coach arbeitet sie ganz anders: Sie stellt gezielte Fragen und achtet bei den Antworten auf jede Einzelheit.

„Ich muss ja gleich im Erstgespräch merken, ob sich zwischen uns so etwas wie eine vertrauensvolle Beziehung entwickeln kann.“ Doch genau diese Techniken der Menschenkenntnis fallen bei Who Knows weg: Einem Videoclip kann Muriel keine Fragen stellen.

Irgendwann haben wir beide genug gespielt – die App zeigt uns eine Statistik an und verrät unsere Trefferquoten. Wir haben beide zu 53 Prozent richtig gelegen. Das Spiel endet unentschieden. „Kein schlechtes Ergebnis“, sagt Richard Rau, der das Who Knows-Projekt leitet. „Der Durchschnittswert liegt im Moment bei 47 Prozent.“ Dennoch glaubt er: Psychologinnen und Psychologen werden im Durchschnitt wohl keine besseren Werte erzielen als der Rest der Bevölkerung. „Sie werden aber vermutlich glauben, dass sie besser abschneiden.“

whoknows.uni-muenster.de

Quellen

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Monika Matschnig: Die Körpersprache der Lügner. Trickser und Schwinder entlarven, Gräfe + Unzer, 2021

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Tera Letzring et al. (2021): The Judgment of Personality: An Overview of Current Empirical Research Findings. Personality Science, 2, e6043

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Richard Rau et al. (2021): What is the structure of perceiver effects?On the importance of global positivity and trait-specificity across personality domains and judgment contexts, Journal of Personality and Social Psychology, 120(3), S. 745–764

Nora Murphy & Judith Hall (2021): Capturing Behavior in Small Doses: A Review of Comparative Research in Evaluating Thin Slices for Behavioral Measurement, Frontiers in Psychology, 12, https://doi.org/10.3389/fpsyg.2021.667326

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Sybil Carrère & John Gottman (1999): Predicting Divorce among Newlyweds from the First Three Minutes of a Marital Conflict Discussion, Family Process, 38(3), S. 293-301

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 6/2023: Woher weiß ich, wer du bist?