Viele Menschen verwechseln die Vorstellung, die sie von sich selbst haben, mit ihrem „Ich“, dem sie eine enorme Bedeutung zuschreiben. Im Gegensatz dazu betont der Buddhismus, dass es keine innere Instanz gebe, die man als Ich oder Selbst bezeichnen kann. Was bedeutet das für die therapeutische Arbeit?
Wir brauchen natürlich ein stabiles Ich-Gefühl, aber wir sollten nicht an starren Selbstbildern kleben. Die primäre Arbeit der Psychotherapie besteht darin, die Ich-Funktionen zu stärken. Darunter versteht man…
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Die primäre Arbeit der Psychotherapie besteht darin, die Ich-Funktionen zu stärken. Darunter versteht man die Fähigkeit zur Selbst- und Fremdwahrnehmung, zur Abgrenzung und Annäherung, zur Emotionsregulation und zum effektiven Handeln sowie zum metakognitiven Nachdenken über sich selbst. Diese Ich-Funktionen prägen die Persönlichkeit und die Fähigkeit eines Menschen, individuell und sozial gut in der Welt zurechtzukommen.
Wenn entsprechende Fähigkeiten im Elternhaus nicht ausreichend vermittelt wurden, wird es im therapeutischen Prozess darum gehen, ein stabiles Persönlichkeitsfundament zu fördern. Man lernt, sich ernst zu nehmen und im Leben zu behaupten. In anderen Zusammenhängen kann es notwendig werden, sich mit dem eigenen Selbstbild zu befassen und es zu hinterfragen.
Wann?
Wenn jemand ein negatives Selbstbild hat und sich mit Überzeugungen wie „Ich bin nichts wert“ oder „Ich bin unfähig“ identifiziert, ist es sinnvoll, die Genese dieses negativen Selbstbildes zu verstehen und sich langsam davon zu befreien. Im buddhistischen Verständnis entsteht das Selbst-Konzept durch Identifizieren und Anhaften. Wir halten unsere Vorstellungen für die Wirklichkeit und hängen daran fest; es kommt zur Fixierung. Dahinter stecken oft biografische Erfahrungen. Die Zuschreibungen von Eltern oder Lehrern haben eine ausgeprägt identitätsstiftende Wirkung. Aus „Du bist ungeschickt“, „Du bist dumm“, „Du bist dick“ wird schließlich „Ich bin ungeschickt“, „Ich bin dumm“, „Ich bin dick“.
Die gute Nachricht ist: Wir müssen diese Behauptungen nicht ein Leben lang glauben. Die Therapie kann dazu beitragen, sich von alten Glaubenssätzen zu lösen. Dabei kann es hilfreich sein, mit den entsprechenden Sätzen zu jonglieren, sie auf den Kopf zu stellen oder auszuprobieren, wie es sich anfühlt, wenn man das genaue Gegenteil formuliert. So werden die fragwürdigen Überzeugungen vor Augen geführt, und es zeigt sich, dass es keine Wahrheiten sind. Diese Erkenntnis kann außerordentlich erleichternd sein und einen Zuwachs an Kreativität und innerer Freiheit bewirken.
Es geht also darum, Abstand zu sich selbst zu entwickeln?
Starre Überzeugungen, rigide Gewohnheiten und narzisstische Selbstkonzepte wie die Vorstellung, stark, unverwundbar und immer erfolgreich zu sein, machen unflexibel und führen oft zu psychischen Störungen. Deshalb bemühen wir uns in der Meditation darum, die ichbildenden Empfindungen, Gefühle, Gedanken und Impulse zu beobachten und vorbeiziehen zu lassen.
Diese Lockerungsübung ist auch wichtig für Menschen, die glauben, sie müssten einem Bild entsprechen, das andere oder sie selbst gezeichnet haben. Wenn sie verstehen, dass das Bild nur aus Gedanken, Meinungen und Vorstellungen besteht, verliert es seine Macht. Dann kann man sich mehr auf das unmittelbare Erleben konzentrieren, und die Vergangenheit bestimmt nicht länger darüber, was man in der Gegenwart und auch Zukunft erlebt.
Um mehr im gegenwärtigen Erleben anzukommen, kann Meditation helfen. Aber nicht alle möchten meditieren. Was kann noch Unterstützung bieten?
Jede intensive lebendige Erfahrung trägt dazu bei, aus dem Gedankenkarussell herauszukommen. Meditation bietet dafür eine Fülle an verschiedenen Techniken und Methoden und ermöglicht sehr differenzierte Selbsterfahrungen. So kann deutlich wahrgenommen werden, wie verhärtet und eng man sich erlebt, wenn man sich angegriffen fühlt oder unglücklich ist, und wie weit und frei und mitunter grenzenlos, wenn man glücklich ist, liebt und sich selbst übersteigt.
In entspannten und verbundenen Momenten ist das eigene Ego oft kaum spürbar, im Konflikt umso stärker. Aus diesen Erfahrungen kann man lernen und bewusst Momente von Schönheit, Naturverbundenheit und vertiefter Wahrnehmung in das Alltagsleben integrieren. Dazu muss man nicht meditieren. Auch Sport, Musik, Tanz oder ein Spaziergang in der Natur sind wunderbar. Jedes bewusste Hören, Sehen, Riechen, Schmecken und Tasten fördert das Erleben lebendiger Frische, und dies wiederum ist ein starkes Gegenmittel gegen negative Gedanken und Gefühle.
Das sind Momente, in denen das Ich mal kurz Pause hat.
Es sind Momente, in denen wir nicht um uns selbst kreisen und aufhören, die altbekannten Geschichten über uns selbst dauernd zu wiederholen. Somit hören die ichbildenden Selbstkonstruktionen auf. Wir riechen die Zwiebeln in der Pfanne und sehen das Kind auf der Schaukel oder die allerersten zarten Blüten im Frühling. Wir sind mit unserem Interesse bei der Welt und nicht mehr nur bei uns selbst. In der Therapie kann man zudem auch spielerisch mit den Selbstkonstruktionen umgehen.
Man kann lernen, die eigene Lebensgeschichte nicht nur als Tragödie, sondern auch als Komödie zu schreiben. Man kann die Fantasie zu Hilfe nehmen und sich verschiedene Situationen ausmalen oder verschiedene Rollen spielen. All dies hat Auswirkungen auf das jeweilige Ich-Erleben. Alternative Möglichkeiten der Selbstwahrnehmung werden so erfahrbar und die Fixierung auf eine einzige Identität wird zusehends fragwürdig.
Wir leben aber in einer Gesellschaft, in der das Ich Kultstatus genießt. Von allen Seiten bekommen wir Tipps, wie wir es optimieren können und die beste Version von uns selbst erschaffen.
Das ist die Krankheit unserer aktuellen Gesellschaft. Aber im Zuge der vielen aktuellen Krisen spüren wir, dass das Gewebe unserer Gesellschaft uns nicht gut trägt und das Verbindende viel zu kurz kommt. Wie gelingt mehr Wir? Das ist die entscheidende Frage. Wenn verstanden wird, dass das selbstreferenzielle Kreisen um sich selbst zu Vereinsamung und Entfremdung führt, dann könnte die neue Losung lauten: Raus aus dem Kopf und hinein ins volle Leben!
Lesen Sie hierzu auch den Artikel zu Titelthema Hast du ein Problem und willst es nicht haben, hast du schon zwei.
Lesen Sie hier den Artikel Buddhistische Ansätze in der westlichen Psychotherapie aus derselben Ausgabe und erfahren Sie mehr über den Einfluss des Buddhismus auf unsere moderne Welt.
Ulrike Anderssen-Reuster ist Fachärztin für Psychosomatik, Psychiatrie und Psychotherapie. 2022 veröffentlichte sie gemeinsam mit dem Religionswissenschaftler Michael von Brück das Buch Buddhistische Basics für Psychotherapeuten.