Hast du ein Problem und willst es nicht haben, dann hast du schon zwei

Die buddhistische Psychologie schlägt sich mehr und mehr in westlichen Therapien nieder. Kein Wunder – ihre Übungen machen aufmerksamer und gelassener.

Die Illustration zeigt eine große steinerne Buddhastatue in einer Landschaft, an deren Kopf eine runde Öffnung ist, aus der eine Frau rausschaut
Wenn wir Probleme mithilfe der buddhistischen Spiritualität lösen, werden wir wieder zum Meister unserer eigenen Gelassenheit. © Christina Baeriswyl für Psychologie Heute

"Ich hoffe, du scheust dich nicht zu leiden.“ Mit diesen Worten wurde Jack Kornfield als junger Mann Mitte der sechziger Jahre von seinem Lehrer Ajahn Chah begrüßt. Tausende von Kilometern war er geflogen. Begierig, in Thailand durch Meditation sein Glück zu finden, wild entschlossen, auf dem Meditationskissen außergewöhnliche Zustände von Verzückung zu erleben und all seinen Schmerz hinter sich zu lassen: schwierige Erfahrungen im Elternhaus, Liebeskummer, Frust über die amerikanische Gesellschaft. Und…

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Begrüßung. Was für eine Ernüchterung! „Es gibt zwei Arten von Leiden“, fuhr sein Lehrer fort. „Das Leiden, vor dem du wegrennst, und das Leiden, dem du dich stellst und von dem du dich befreist.“

Das war absolut nicht das, was Kornfield hören wollte. Er dürstete nach einer frohen Botschaft, einem verheißungsvollen Versprechen. Nachdem er den ersten Schock überwunden hatte, beschloss er, sich seiner Unzufriedenheit und seinem Schmerz zu stellen. Er blieb und ließ sich auf eine intensive Meditationsschulung ein. Viele Jahre verbrachte er in Klöstern in Thailand, Indien und Sri Lanka, lernte bei tibetischen Lamas, Zenmeistern und hinduistischen Lehrern.

Als er Anfang der Siebziger nach Amerika zurückkehrte, erwartete ihn die nächste Enttäuschung. Obwohl er sich sehr klar und offen im Geist und geradezu euphorisch fühlte, hatte er noch dieselben Probleme wie zu Beginn seines Meditationsweges. „Ich entdeckte bald, dass mir die Meditation recht wenig für meine menschlichen Beziehungen gebracht hatte“, schreibt er in seinem Buch Frag den Buddha und geh den Weg des Herzens.

Die Brücke in den Westen

Auch wenn er geübt hatte, alles wohlwollend und mitfühlend zu betrachten, ging er in Auseinandersetzungen mit seiner Partnerin an die Decke. „Ich konnte die Meditation der Herzenswärme für tausend Wesen irgendwo in der Welt praktizieren, aber ich bekam fürchterliche Probleme damit, mich ganz auf einen Menschen hier und jetzt einzulassen. Mir war immer noch nicht klar, warum meine Beziehungen alle scheiterten.“ Wieder begab er sich auf einen langen Weg. Er studierte Psychologie, promovierte, wurde Psychotherapeut und setzte sich dafür ein, Meditation und spirituelle Fragen nach dem Sinn des Daseins in die Psychotherapie zu integrieren.

Heute gehört er zu den weltweit anerkannten Vermittlern buddhistischer Weisheit in einer modernen, verständlichen Sprache. Er war Mitgründer der Insight Meditation Society in Massachusetts und des Spirit Rock Center, eines Meditationszentrums in Kalifornien.

Eine Brücke zu bauen zwischen östlicher Meditation und westlicher, wissenschaftlich fundierter Psychotherapie war Mitte der siebziger Jahre eine Pionierleistung. Heute sind buddhistische Strategien aus vielen psychotherapeutischen Verfahren nicht mehr wegzudenken. Zahlreiche Studien belegen, dass eine regelmäßige Meditationspraxis angst­reduzierend und entspannend wirkt. Der Pegel des Stresshormons Kortisol sinkt nachweislich nach einem dreimonatigen Training. Wer durch Meditation lernt, seine Gefühle, Gedanken und Körperempfindungen zu beobachten, gewinnt Distanz zum inneren Geschehen und fühlt sich nicht mehr so schnell überwältigt.

Deshalb bringen Ärztinnen und Psychotherapeuten in psychosomatischen Kliniken ihren Patientinnen und Patienten verschiedene Meditationsangebote näher. Meist handelt es sich dabei um Übungen der achtsamkeitsbasierten Stressreduktion (MBSR, siehe Definition unten). Das Programm bietet in einer modernen, säkularisierten Sprache auch denjenigen Menschen einen Zugang zur Meditation, die sich nie in ein buddhistisches Seminarhaus verirren würden.

Viele falsche Vorstellungen um Meditation

Weil Achtsamkeit zum Allerweltsschlagwort verkommen ist, hier die schlichte Kurzdefinition: Achtsamkeit heißt, auf eine spezifische Weise aufmerksam zu sein: bewusst im gegenwärtigen Augenblick und ohne zu urteilen. In einem MBSR-Kurs lernen die Teilnehmenden gleich zu Beginn, dass Meditation nicht dazu da ist, sich angenehme Gefühle zu verschaffen. Es geht im Gegenteil darum, zu erkennen, dass unser Muster, ständig nach angenehmen Gefühlen zu gieren und die unangenehmen zu vermeiden, zwangsläufig Leiden verursacht – weil jedes Wohlgefühl über kurz oder lang wieder vergeht. Und hier sind wir mitten im Kern der buddhistischen Lehre. Wie gehen wir damit um, dass alles vergänglich ist? Genau damit beschäftigt sich die buddhistische Psychologie.

Obwohl buddhistische Meditation in der Mitte der Gesellschaft angekommen zu sein scheint, halten sich eine Menge falscher Vorstellungen. Viele glauben, es gehe vor allem um Entspannung. Das Ziel sei, unliebsame Zustände wegzuatmen, immer tiefenentspannt durch den Alltag zu schweben und von nichts mehr aus der Bahn geworfen zu werden. Meditation versetze uns in die Lage, in allen Situationen gelassen und souverän zu bleiben. Sie sei ein universelles Heilmittel für alle Arten von Problemen. Wer täglich meditiere, werde gar nicht oder nur ganz selten krank… Die Liste ließe sich fortsetzen. In all diesen Mythen liegt ein Körnchen Wahrheit, aber sie haben keine Substanz, weil die Aussagen aus dem Zusammenhang gerissen sind und das geistige Fundament fehlt.

Das geistige Fundament umfassend darzustellen ist allerdings schier unmöglich. Der Buddhismus ist die viertgrößte Weltreligion, seine Schriften füllen riesige Bibliotheken. Im Kern berufen sich jedoch alle Schriften auf die Lehren des Siddhartha Gautama. Nach heutigem Forschungsstand lebte er im frühen 5. Jahrhundert vor Christus in Nordindien und wird als „der historische Buddha“ bezeichnet.

Buddha Shakyamuni, wie er auch genannt wird, beschrieb seine Lehren als einen Weg, der auf Erfahrung und Forschen beruht. Er ermutigte seine Zuhörerinnen, nichts von dem, was er sagte, einfach zu glauben, sondern jede seiner Aussagen selbst zu überprüfen. Die buddhistische Lehre ist also keine leicht zu konsumierende Kost. Sie ist unbequem und provokativ und setzt die Bereitschaft voraus, sich intensiv damit auseinanderzusetzen.

Lehren des Buddha

Die Essenz seiner Lehre hat Buddha in den „vier edlen Wahrheiten“ niedergeschrieben. Zusammen mit mentalem Training und Techniken der Selbsterforschung sollen sie helfen, das Leben zu durchschauen und zu bewältigen.

Die erste edle Wahrheit lautet kurz und schmerzhaft: Leben ist Leiden. Das klingt nicht sehr einladend. Es gilt, zunächst eine unangenehme Tatsache zu akzeptieren – so wie Jack Kornfield, bevor sein Lehrer ihn im Kloster aufnahm. Der Begriff Leiden hat im buddhistischen Verständnis eine viel umfassendere Bedeutung als in unserer Alltagssprache. Im Buddhismus ist Leiden eine grundlegende Erfahrung unseres Menschseins, unabhängig davon, ob wir beispielsweise eine glückliche oder schwierige Kindheit hatten, beruflich erfolgreich sind oder seit längerem arbeitslos. Leiden ist universell. Jedes Lebewesen erfährt es.

Geburt ist dukkha [Leiden], Altern ist dukkha, Tod ist dukkha, Kummer, Klagen, Schmerz, Trauer und Verzweiflung sind dukkha, nicht bekommen, was man sich wünscht, ist dukkha“, heißt es in den Lehrreden des Buddha. Der New Yorker Psychiater und Psychoanalytiker Mark Epstein, der bei Jack Kornfield anfing, den Buddhismus zu praktizieren, schlägt vor, dukkha mit „durchdringende Unzulänglichkeit“ zu übersetzen. Immer wieder fühlen wir uns selbst unzulänglich oder werden unzufrieden, weil das Leben uns unzulänglich erscheint.

Manchmal bekommen wir genau das, was wir uns nicht wünschen. Auch das ist Leiden. Niemand ist davor gefeit, von dem Partner verlassen zu werden, zu erkranken, im Alter gebrechlich zu werden. Auch wenn uns zahlreiche Ratgeber mit Tipps fluten, wie wir in späten Jahren gesund, beweglich und tatkräftig bleiben, und es sicher sinnvoll ist, manches zu beherzigen: Wir können nicht verhindern, dass irgendwann die Kräfte nachlassen.

Die gefilterte Realität

Die zweite edle Wahrheit: Die Ursachen des Leidens liegen nicht nur in unserem alternden Körper und in der Tatsache, dass wir sterben müssen und auch unsere Lieben irgendwann sterben, sondern insbesondere in unserem Geist. Der Buddhismus spricht von „Geistesgiften“ und hebt Gier, Hass und Verblendung hervor. Dass Gier und Hass uns Probleme bereiten, leuchtet unmittelbar ein. Das Wort „Verblendung“ – ein zentraler Begriff in der buddhistischen Lehre – hingegen ist erklärungsbedürftig.

Es lässt sich vielleicht am besten mit Täuschung übersetzen. Die Grundidee: Wir nehmen die Wirklichkeit nicht so wahr, wie sie ist, sondern verzerrt durch den Filter unserer Erfahrungen, Vorurteile, Vorlieben und Abneigungen. Die Projektion – ein in der Psychologie beliebtes Konzept – ist beispielsweise eine Spielart von Verblendung. Wer in der Kindheit unter einem autoritären, strafenden Vater gelitten hat, neigt möglicherweise dazu, diese Erfahrung auf den Vorgesetzten zu projizieren, wittert hinter jeder Bemerkung einen Vorwurf, verhält sich entsprechend misstrauisch, was wiederum den Vorgesetzten irritiert.

Zur Verblendung gehört, dass wir mit bestimmten Denkmustern und Gewohnheiten das Leiden vergrößern. Das ist uns jedoch oft nicht bewusst. Wir wehren uns etwa mit Händen und Füßen gegen unangenehme Gefühle und möchten sie so schnell wie möglich loswerden. Oder wir wollen nicht wahrhaben, dass sich alles verändert. Wenn es uns gutgeht, soll bitte alles so bleiben, wie es gerade ist. Wir möchten glückliche Momente festhalten, wollen uns am liebsten immer so euphorisch fühlen wie zu Beginn einer neuen Liebe und sind ernüchtert, wenn das Hochgefühl langsam abklingt. Wir wollen auf der Erfolgsleiter stetig nach oben steigen und fühlen uns schlecht, wenn wir stagnieren.

Wir klammern uns an fixe Vorstellungen, wie wir selbst sein sollten, wie andere sich verhalten müssten und wie ­unser Leben verlaufen sollte. Wenn es nicht so kommt, wie wir es uns gewünscht haben, hadern wir. Das Revolutionäre an der zweiten edlen Wahrheit ist die Erkenntnis, dass wir mit unseren geistigen Gewohnheiten Mitschöpfer des Leidens sind. Das wollen wir jedoch meist nicht sehen und fühlen uns von anderen, von Gott oder vom Leben im Stich gelassen. In Kurzfassung lässt sich Leiden auf die Formel bringen: Leiden gleich Schmerz mal Widerstand. Oder als Addition: Hast du ein Problem und willst es nicht haben, hast du gleich zwei.

Erkennen und Üben

Die dritte edle Wahrheit: Es ist möglich, das Leiden zu überwinden, indem wir seine Ursachen verstehen und auflösen. Wenn wir unsere emotionalen Muster erkennen, die biografischen Spurrillen, die Glaubenssätze und Fixierungen, die uns einschränken, können wir Einfluss nehmen auf unser inneres Erleben und Handeln. So erlangen wir mehr Freiheit und Flexibilität. Allerdings reicht die kognitive Einsicht allein nicht aus.

Hier treffen sich die buddhistische Psychologie und die westliche Verhaltenstherapie. Auch das Ziel der Verhaltenstherapie ist, aus destruktiven Wiederholungsschleifen auszusteigen und mehr Handlungsspielraum zu gewinnen. Doch es genügt nicht, wenn wir begreifen, warum wir beispielsweise immer wieder auf denselben Typ Partnerin hereinfallen, die uns nicht guttut. Erst wenn wir unser Verhalten Schritt für Schritt verändern, kommen wir aus der Sackgasse heraus.

Die vierte edle Wahrheit: Wir können das Leiden beenden durch die Praxis des sogenannten achtfachen Pfades. Der achtfache Pfad findet sich in der ersten Lehrrede des Buddha. Er beinhaltet eine komplexe Anleitung zur Geistesschulung und ethischen Lebensführung. Seine Interpretation füllt ganze Bücher. Hier eine zugegeben sehr freie alltagssprachliche Version für die Jetztzeit:

Verzichte auf Tratsch. Beteilige dich an keiner Form von Hetze. Hör auf, ständig deinen Partner zu kritisieren, und kümmere dich um deine eigenen blinden Flecken. Such dir eine Arbeit und einen Arbeitgeber, die deinen Werten entsprechen. Übervorteile niemanden. Sei ehrlich. Kümmere dich nicht nur um dein eigenes Wohlergehen. Mach dich mit deinem Geist vertraut, erkenne deine zerstörerischen Muster und löse sie durch beharrliches Üben und tägliche Meditation auf. Die Kurzform in den Worten des Buddha: „Unterlasse das Schädliche, kultiviere das Heilsame und befreie den Geist.“

Alles nur Gemeinplätze?

Die vier edlen Wahrheiten können auch als therapeutischer Weg verstanden werden. Diese These vertreten jedenfalls der Religionswissenschaftler Michael von Brück und die Psychotherapeutin Ulrike Anderssen-Reuster in ihrem Buch Buddhistische Basics für Psychotherapeuten. Ihnen zufolge stellt die erste Wahrheit die Diagnose: Leiden. Die zweite erklärt die Ursache, die häufig dahintersteht: Fixierung auf persönliche Wünsche und Vorstellungen. Die dritte Wahrheit stellt Heilung in Aussicht, wenn es uns gelingt, falsche Vorstellungen loszulassen, allen voran die Vorstellung von einem festen, in sich konsistenten, schutzbedürftigen Ich. Die vierte Wahrheit vermittelt den konkreten Therapieplan.

Zugegeben: Die vier edlen Wahrheiten klingen erst mal sehr allgemein und nicht besonders griffig. Vielleicht denken wir: Okay, das mit dem Leiden habe ich verstanden; dass es nicht sinnvoll ist, an allem festzuhalten, leuchtet mir auch ein, aber was heißt das konkret für mich? Was mache ich jetzt mit dem Liebeskummer, meiner Überforderung im Job und den Sorgen um meine kranke Mutter?

Dass die Wahrheiten oft allgemein und distanziert klingen, liegt jedoch in der Natur der Sache. Während die westliche Psychotherapie sich auf die individuellen biografischen Ursachen, die Persönlichkeitsmerkmale sowie auf die Linderung von Symptomen konzentriert, bietet die buddhistische Geistesschulung eine universelle und gewissermaßen „unpersönliche“ und nüchterne Perspektive auf das, was allen Menschen früher oder später widerfährt: Kränkungen, Misserfolge, Enttäuschungen, Verluste.

„Im Wesentlichen verkündet Buddha die Vision einer vom Narzissmus befreiten Psyche“, schreibt Mark Epstein in seinem Buch Gedanken ohne Denker. Die universelle Perspektive einzunehmen kann bereits heilsam sein, sie erlöst uns vom Kreisen um uns selbst. Wenn wir mitten im Schlamassel stecken, fühlen wir uns meist isoliert. Es kommt uns so vor, als hätten wir persönlich versagt, etwas falsch gemacht, als seien wir unfähig, während die anderen um uns herum offenbar gut klarkommen. Der Berliner Psychothera­peut und Arzt Matthias Ennenbach fragt seine ­Patientinnen manchmal: „Glauben Sie, dass Ihr Problem noch niemals irgendwo auf der Welt vorgekommen ist?“

Erfahrung von geteilter Menschlichkeit

Dann wird sofort klar, egal ob es um Eifersucht, Trauer, Verlust, Wut über eine große Ungerechtigkeit oder Suchtprobleme geht: All das ist schon milliardenfach passiert und wird sich immer wieder ereignen. Das ändert nichts am Schmerz, mindert jedoch das Gefühl, persönlich gescheitert zu sein. „Mir ist wichtig zu vermitteln: Du bist kein Patient mit einer Störung, sondern ein ganz normaler Mensch mit ganz normalen menschlichen Problemen“, sagt Ennenbach.

Dazu gibt es eine berühmte Geschichte. Als das Kind einer jungen Mutter namens Kisa Gotami ein Jahr alt war, wurde es krank und starb. Voller Trauer lief die junge Frau mit ihrem toten Kind in den Armen durch ihr Heimatdorf und bat jeden, den sie traf, es wieder zum Leben zu erwecken. Schließlich ging sie zum Buddha und bat ihn um Hilfe. Er hörte ihr voller Mitgefühl zu und sagte dann: „Es gibt nur ein Mittel. Geh in die Stadt und bring mir ein Senfkorn aus einem Haus, wo es noch nie einen Todesfall gegeben hat.“ Kisa Gotami klopfte an jede Haustür und erkannte irgendwann, dass sie den Auftrag des Buddha nicht erfüllen konnte. Sie beerdigte schweren Herzens ihr totes Kind und wurde Buddhas Schülerin. Sie lernte, ihren Schmerz zu lindern durch die Erfahrung von geteilter Menschlichkeit.

Matthias Ennenbach praktiziert seit zwanzig Jahren Meditation und hat einen eigenen Ansatz der buddhistischen Psychotherapie entwickelt. Seit 2010 bildet er selbst Therapeutinnen aus. Ennenbach zufolge lässt sich der Kern der buddhistischen Lehre auf einen zentralen Begriff reduzieren: Befreiung. „Der Buddhismus hat erkannt, dass wir blind unbewusste Muster abspulen, mit denen wir uns und anderen schaden. Er zeigt einen Übungsweg auf, wie wir aus diesem Automatismus aussteigen können.“

Sich innerhalb seiner Gefühle befreien

2014 publizierte eine Forschungsgruppe um Madhav Goyal die bislang umfangreichste und vertrauenswürdigste Metaanalyse von 47 wissenschaftlich fundierten Studien zur Auswirkung von Meditation auf die Gesundheit. Sie konnte eine signifikante Reduktion von Angstsymptomen und negativen Emotionen nachweisen, allerdings bei psychisch kranken Menschen in einem geringeren Ausmaß als bei psychisch gesunden. Außerdem ließ sich empirisch nachweisen, dass Schmerzen und depressive Symptome durch eine meditative Praxis gelindert werden.

„Wir befreien uns nicht von Gefühlen und Gedanken, sondern innerhalb unserer Gefühle und Gedanken durch Bewusstheit. Ich muss die Angst nicht loswerden, ich kann sie wahrnehmen, ohne von ihr überwältigt zu werden“, so erklärt Matthias Ennenbach die positive Wirkung von Meditation. Diese Erkenntnis macht sich auch die Akzeptanz- und Commitmenttherapie zunutze, kurz ACT. Sie wurde vom amerikanischen Psychologen Steven C. Hayes in den 1990er Jahren entwickelt.

ACT hat sich aus der Verhaltenstherapie entwickelt, basiert auf Achtsamkeit und verbindet neuste neurophysiologische Forschungsergebnisse mit buddhistischen Meditationstechniken. Vor allem beim Umgang mit Ängsten hat sich ACT bewährt. Wer in ständiger Angst lebt, möchte das unangenehme Gefühl verständlicherweise loswerden oder in den Griff kriegen. Doch paradoxerweise führt der Versuch, die Angst zu kontrollieren, dazu, dass sie sich verfestigt und größer statt kleiner wird.

Distanz zur Angst

Der Psychologe Georg Eifert, einer der Mitbegründer von ACT, gibt seinen Patientinnen gerne ein Seil in die Hand, um den Teufelskreis zu erklären. Er lässt sie mit allen Fasern spüren, wie anstrengend es ist, immer an einer Seite des Seils zu ziehen, während das „Angstmonster“ auf der anderen Seite dagegenhält. Menschen, die unter starken Ängsten leiden, liefern sich laut Eifert ein Tauziehen mit der Angst. Je mehr sie an einem Ende des Seils ziehen, desto stärker hält das Angstmonster dagegen. Dieser Kampf dauere oft Jahre und bringe sie an den Rand der Verzweiflung. Die Lösung bestehe darin, den Kampf aufzugeben und das Seil fallenzulassen.

„Wir bringen unseren Patienten Atem- und Achtsamkeitsübungen bei, die ihnen helfen, angstvolle Gedanken zu beobachten und sich davon zu distanzieren. Sie lernen, unangenehme Körperempfindungen wie Schweißausbrüche, Herzklopfen oder Zittern einfach nur wahrzunehmen, ohne sie gleich verändern zu wollen.“ Dieser Ansatz lasse sich nicht intellektuell verstehen, sondern nur durch Ausprobieren erfahren.

„Wenn Menschen dann die Erfahrung machen, dass sie genügend Raum in sich haben, alle Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen zuzulassen, erleben sie eine neue Freiheit.“ Dann könnten sie auch die Angst zulassen und mitnehmen auf dem Weg zu ihren Zielen und ihren Alltag wieder als sinnvoll erleben. Die Ziele und Werte der Patientinnen zu klären ist neben der Akzeptanz die zweite tragende Säule der ACT, sie steckt im Wort „Commitment“. Es geht also auch darum, zu erfahren, dass wir mehr sind als unsere Angst, unsere Trauer oder was auch immer uns belastet.

Ulrike Anderssen-Reuster ist keine ACT-Therapeutin sondern Psychoanalytikerin, aber auch sie erlebt, dass die Patienten mehr wollen, als ihre Symptome loszuwerden. Sie fragten danach, welchen Sinn ihr Leiden habe und worauf sie vertrauen könnten. Es gebe in uns eine Sehnsucht, uns eingebettet zu fühlen in etwas Größeres, in einen sinnvollen Zusammenhang. Dieses Bedürfnis lässt sich als eines nach Spiritualität deuten.

Für Anderssen-Reuster, die Ärztin und Zenpraktizierende, ist Spiritualität eine wichtige Ressource der therapeutischen Arbeit. Eine allgemeingültige Definition dieses Begriffs gibt es nicht, häufig geht es dabei um Verbundenheit. Zentral ist auch die Erfahrung, dass wir nicht alles mit Logik erklären können und es auf die existenziellen Fragen Woher komme ich? Worum geht es in diesem Leben? Was ist der Sinn meines Leidens? Was geschieht mit mir nach dem Tod? keine befriedigenden rein rationalen Antworten gibt.

Spiritualität als Grundbedürfnis

Lange wurden Glaubens- und Sinnfragen aus der Psychotherapie ausgeblendet. Das Therapiezimmer sollte ein weltanschaulich neutraler Ort sein. Doch es bahnt sich eine Wende an. Viele Therapeutinnen haben erkannt, dass mit dem Bedeutungsverlust von Religion auch etwas Wichtiges verlorengegangen ist. Eine repräsentative Befragung unter deutschen Psychotherapeuten von 2017 ergab, dass jede fünfte Patientin religiöse oder spirituelle Themen in die Therapie einbringt. Auch damit lässt sich das große Interesse an Meditation und buddhistischer Psychologie erklären. Sinnfragen beantworten sich in unserer materialistischen Kultur nicht von selbst und werden drängender.

„Spiritualität ist kein Luxus, sondern ein Grundbedürfnis des Menschen“, meint Matthias Ennenbach. „Ich glaube, dass jeder Mensch auch ein Suchender ist. Wer dafür offen ist, kann auf dem buddhistischen Pfad neue Antworten für sich entdecken.“ Die buddhistische Psychologie bietet Ideen für eine ethische Lebensführung und Strategien, den Geist zu klären. Und sie zeigt einen praktischen Übungsweg, um egozentrisches Denken loszulassen, Zufriedenheit zu erfahren und sich auf einer tiefen Ebene verbunden zu fühlen.

Lesen Sie hier den Artikel Das Selbst loslassen aus derselben Ausgabe. Ulrike Anderssen-Reuster erklärt im Interview, wie das Ich erfolgreich überwunden werden kann.

Lesen Sie hier den Artikel Buddhistische Ansätze in der westlichen Psychotherapie aus derselben Ausgabe und erfahren Sie mehr über den Einfluss des Buddhismus auf unsere moderne Welt.

MBSR Die mindfulness-based stress reduction (MBSR) wurde von dem Molekularbiologen Jon Kabat-Zinn Ende der 1970er Jahre entwickelt. Das Programm beinhaltet Atemübungen, achtsames Essen („Rosinenübung“), Gehmeditation, Hatha-Yoga-Übungen oder die Liebende-Güte-Meditation. Der Meditationsforscher Peter Sedlmeier bezeichnet MBSR als einen Mix aus kognitiven, körperlichen und emotionalen Komponenten. Es ist die am häufigsten wissenschaftlich untersuchte Form von Achtsamkeit und Meditation.

Abstand zu Gedanken gewinnen

Laut der buddhistischen Lehre kann es schaden, wenn wir allen unseren Gedanken glauben. In der Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT) haben Therapeutinnen und Therapeuten Techniken entwickelt, mit denen sich Distanz zu unseren Gedanken schaffen lässt. Hier sind zwei Beispiele

Gedanken achtsam beobachten und an sich vorbeiziehen lassen

Stellen Sie sich für einige Minuten – möglichst mit geschlossenen Augen – ein Bild vor, in dem eine regelmäßige, fließende Bewegung enthalten ist; das können Wolken sein, die am Himmel vorbeiziehen, Blätter, die auf einem Fluss treiben, Goldfische, die in einem Aquarium von einer Seite zur anderen schwimmen. Sobald diese Vorstellung vor Ihrem inneren Auge entstanden ist, fragen Sie sich, welchen Gedanken Sie in diesem Augenblick im Kopf haben. Dann setzen oder schreiben Sie diesen Gedanken auf die Wolke, das Blatt oder den Goldfisch und lassen ihn an sich vorbeiziehen. Nehmen Sie den nächsten auftauchenden Gedanken und verfahren Sie in der gleichen Weise.

Eine Hitliste der häufigsten Negativgedanken erstellen

Schreiben Sie eine Hitliste der Negativgedanken, die am häufigsten in Ihnen auftauchen. Finden Sie mindestens zehn für Sie typische Gedanken. Bringen Sie sie in eine Reihenfolge. Welcher Negativgedanke ist auf Platz eins? Welcher kommt als zweiter? Vielleicht machen Sie sich den Spaß und kommentieren Ihre Hitliste wie eine Radiomoderatorin: „Auf Platz zehn diese Woche ein Neueinsteiger: Mir ist alles zu viel; auf Platz neun der Evergreen Ich bin zu dick; auf Platz acht stabil seit Monaten: Wieso muss ich immer Pech haben?; auf Platz sieben…

Keine Ahnung, wer ich bin

Starre Überzeugungen, nicht zuletzt von uns selbst, machen unflexibel. Mit dieser Methode können wir uns von bekannten Vorstellungen lösen – und neue entwickeln

In der folgenden Übung werden mehrere Situationen vorgestellt. Alle können auf viele unterschiedliche Arten erzählt werden: etwa tragisch, komisch, katastrophisierend, sachlich, übertrieben oder klagend. Experimentieren Sie mit verschiedenen Perspektiven. Am Ende wissen Sie vielleicht nicht mehr so ganz genau, wer Sie „wirklich“ sind, können aber sehen, dass es viele Möglichkeiten gibt. In ähnlicher Weise können Sie auch Ihre eigene Lebensgeschichte erzählen, mal als Drama, mal als Märchen, als Tatsachenbericht oder Abenteuer. Diese Distanzierungstechniken bedeuten nicht, dass Sie Ihre Erfahrungen nicht würdigen. Sie eröffnen lediglich neue Perspektiven.

Erzählen Sie dafür die untenstehenden Begebenheiten

a) aus Ihrer üblichen Perspektive.

b) aus der Sicht eines Kindes, eines Informatikers, einer Chaotin, eines Clowns.

Ich sitze in Bangkok und meine Kreditkarte funktioniert nicht mehr.

Meine Partnerin hat mir erklärt, dass sie eine Auszeit von der Beziehung braucht.

Mein Kind zieht aus. Was wird jetzt aus mir?

Ich habe gerade erfahren, dass ich den Hauptgewinn im Lotto gezogen habe.

Ich habe meinen Arbeitsplatz verloren und außerdem Arthrose. Wie weiter?

Ulrike Anderssen-Reuster ist Fachärztin für Psychosomatik, Psychiatrie und Psychotherapie. 2022 veröffentlichte sie gemeinsam mit dem Religionswissenschaftler Michael von Brück das Buch Buddhistische Basics für ­Psychotherapeuten.

Quellen

Ulrike Anderssen-Reuster, Michael von Brück: Buddhistische Basics für Psychotherapeuten, Schattauer Verlag, 2022

Matthias Ennenbach: Buddhistische Psychotherapie in der Anwendung, Windpferd, 2018

Mark Epstein: Gedanken ohne Denker. Wechselspiel Buddhismus Psychotherapie, Windpferd, 2011

Madhav Goyal, u.a.: "Meditation programs for psychological stress and well-being: a systematic review and meta-analysis." JAMA internal medicine 174.3 (2014): 357-368.

Jack Kornfield: Frag den Buddha und geh den Weg des Herzens, Kösel Verlag, München, 2022

Jack Kornfield: Das weise Herz. Die universellen Prinzipien buddhistischer Psychologie, Arkana, München, 2008

Mindfulness-Research-Guide der American Mindfulness Research Association: https://goamra.org/

Publikationen zur ReSource-Studie: https://www.social.mpg.de/34713/sp-resource

Peter Sedlmeier: Die Kraft der Meditation. Was die Wissenschaft darüber weiß, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 2016

Fadel Zeidan u.a.: Neural correlates of mindfulness meditation-related anxiety relief. Social cognitive and affective neuroscience, 9 (6), 2014, 751-759.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 9/2023: Hast du ein Problem und willst es nicht haben, dann hast du schon zwei