Die moderne Psyche nutze die Foren der Lebenswelt zu einer eigentümlichen Form der Selbstdarstellung, die keineswegs autistischer Natur sei, sondern den Wunsch nach Kontakt und Rückmeldung erkennbar in sich trage, schreibt der Psychoanalytiker Martin Altmeyer. „Indem wir uns als Person sichtbar machen, zeigen wir nicht nur, wer wir sind oder sein wollen, selbst wenn wir uns dabei verstecken, verbiegen, verstellen, verschönern oder verjüngen mögen.“
Auf dem Markt der Kommunikation tummeln sich heute „Influencer und Blogger, Gamer und Trader, Querdenker und Wutbürger, Verschwörungsgläubige und Satanisten, esoterische Sinn- oder Gottsucher, zudem engagierte Klima- und Sozialrebellen einer moralisch hochsensiblen wie politisch hellwachen Generation Z“. Sie alle teilten den Hang zur performativen Selbstentfesselung, die auf ambivalente Weise „psychisch zwischen innerer Befreiung und äußerer Enthemmung“ navigiere. Altmeyer will zeitdiagnostische Aufklärung als Suche nach Identität aus anderer Perspektive leisten.
Zunehmende Gewalt im Massensport
Das Buch ist eine Bestandsaufnahme der Welt auf 454 Seiten. Es ist ein Feuerwerk, sowohl inhaltlich als auch sprachlich. Fulminant beschreibt Martin Altmeyer seine Beobachtungen. Da wird nichts ausgelassen. Säuglingsforschung, Freuds Theorieambivalenz, Amokläufe, Wokeness oder Faschismus. Es beginnt – anstelle einer Einleitung – mit dem „Massensport als Seismograph des Zeitgeistes“.
Ausführlich und detailreich werden die Entwicklungen im Fußball in den einzelnen Vereinen oder bei einzelnen Spielen beschrieben und es wird das Fazit gezogen: „Die zunehmende Gewalt im internationalen Massensport Fußball ist ein Indiz dafür, dass bei der zeittypischen Tendenz zur Entfesselung eine seelische, eine soziokulturelle und eine globalpolitische Komponente zusammenspielen.“ Warum das Kapitel über den Massensport am Anfang des Buches steht, bleibt dennoch rätselhaft.
Unreif, oberflächlich und narzisstisch gestört
Der erste Teil widmet sich der „Psychischen Entfesselung“. Im zweiten Teil „Soziokulturelle Entfesselung“ geht es unter anderem um die Relativierung des Holocaust, Sex und Gender als sozialkonstruktivistische Falle und die autoritäre Persönlichkeit im geteilten Nachkriegsdeutschland. Der dritte Teil widmet sich der „Kosmopolitischen Entfesselung“ mit Verschwörungstheorien, Antisemitismus und dem Verlust der großen Utopie der 68er-Generation, zu der auch der Autor gehört.
Narzissmus sieht Altmeyer – im Sinne der relationalen Psychoanalyse, in der das Unbewusstsein ein Scharnier zwischen Innen- und Außenwelt ist – nicht mehr als reine Selbstliebe, die ohne den anderen auskommt. Ein normaler Narzissmus sei durch ein unauflösbares Paradox gekennzeichnet. „Im narzisstischen Erleben und Verhalten schützen wir uns vor der schmerzlichen Erfahrung von Abhängigkeit, der wir im Bedürfnis nach intersubjektiver Anerkennung unbewusst Tribut zollen.“
Das Internet sei ein Resonanzsystem, das unser Seelenleben durchdringe. Dabei kritisiert Altmeyer, dass man in der psychotherapeutischen Szene zur Weltuntergangsstimmung neige. Computerkids halte man für unreif und oberflächlich oder narzisstisch gestört. Er bemängelt, dass die „psychoanalytische Grundhaltung einer gleichschwebenden Aufmerksamkeit“ fehle, und plädiert für mehr Gelassenheit und Zutrauen in die heutige Jugend.
Präsident mit Persönlichkeitsdefizit
Das Buch bordet über mit detailliert beschriebenen Beispielen. Da geht es zum Beispiel um die Netflix-Doku von Harry & Meghan und die Autobiografie von Prinz Harry. Beides diene der „Enthüllung einer verletzten Seele, die der 39-jährige Prinz Harry bis in die intimsten Details seiner traumatischen Kindheitserfahrungen, seines beschädigten Sexuallebens und seiner Hassliebe für den bevorzugten Bruder einer interessierten Öffentlichkeit preisgibt“. Endlich werde das Opfer sichtbar, indem es seine Wunden aller Welt zeigen darf.
Und auch dem Aufstieg von Donald Trump widmet sich Altmeyer und fragt: Wie konnte jemand zum Präsidenten gewählt werden, der in seiner Person eine Fülle von abstoßenden Eigenschaften und Verhaltensweisen vereinigt? Seine These: „Ausgestattet mit grandiosem Selbstbewusstsein, grenzenlosem Ehrgeiz und pathologischem Machtwillen, ohne jedes Mitgefühl für andere Menschen außerhalb seiner eigenen Familie oder Günstlingsclique, wurde dieser Mann nicht trotz, sondern gerade wegen seiner Persönlichkeitsdefizite gewählt."
Fazit: Altmeyer ist ein umfassender und anspruchsvoller Streifzug durch die heutige Welt aus der Sicht der Psychoanalyse gelungen.
Martin Altmeyer: Das entfesselte Selbst. Versuch einer Gegenwartsdiagnose. Psychosozial 2023, 454 S., € 49,90