Herr Meyer-Lindenberg, seit einigen Jahren beobachten wir das Phänomen, dass Fachleute aus Psychiatrie oder Psychologie das Verhalten von Politikerinnen und Politikern psychologisch einordnen und sogar mit psychiatrischen Diagnosen versehen. Es wird zum Beispiel behauptet, der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoan sei ein Narzisst und Verführer, der frühere US-Präsident Donald Trump sowieso und dieser leide außerdem an einer Impulskontrollstörung. Woher kommt der Wunsch nach psychiatrischen Bewertungen?
Da…
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leide außerdem an einer Impulskontrollstörung. Woher kommt der Wunsch nach psychiatrischen Bewertungen?
Das Phänomen an sich gibt es schon lange, es ist in der Vergangenheit durch verschiedene Phasen gegangen und war auch mit klaren Fehlschlägen verbunden. Beispielsweise wurde der populistische republikanische Präsidentschaftskandidat Barry Goldwater 1964 in einer Umfrage unter Psychiaterinnen und Psychiatern mit Diagnosen wie „analer Charakter“, „gefährlichen Irrer“ oder „gefälschter maskuliner Mann“ belegt.
Das sind Bezeichnungen, die wir heute nicht als sinnvoll oder gar zutreffend ansehen würden. Um derartige Aussagen zu unterbinden, gibt es in den Vereinigten Staaten die nach diesem Politiker benannte Goldwater-Regel (siehe Definition unten), nach der es als unethisch gilt, wenn Mitglieder der US-amerikanischen psychiatrischen Gesellschaft APA Diagnosen ohne vorherige persönliche Untersuchung abgeben.
Trotz der Goldwater-Regel hat sich aber vor einigen Jahren eine Gruppe von US-Psychiatern und -Psychiaterinnen an die Öffentlichkeit gewandt und in einem Buch auf das ihrer Meinung nach befremdliche Verhalten des damaligen Präsidenten Donald Trump hingewiesen.
Das stimmt. Aber da muss man trotzdem ein bisschen genauer hinschauen. Einmal geht es in dem Buch nicht um Diagnosen, sondern um „die Gefährlichkeit von Donald Trump“, also darum, ein Verhalten zu erklären. Dafür ist die Psychologie da. Eines ihrer wissenschaftlichen Themen ist exakt dieses: ein bestimmtes Verhalten verstehen und erklären zu können. Schwierig wird es dann, wenn Fachleute in dieser Situation psychiatrische Diagnosen stellen.
Inwiefern?
Diagnosen sind nicht als Beschreibungen von Persönlichkeiten gedacht oder gar als Wertung. Sie sind dafür da, therapeutisches oder präventives Handeln zu begründen. Häufig wird es aber dennoch so gesehen, dass jemand mit einer psychiatrischen Diagnose nicht geeignet sei, ein politisches Amt wahrzunehmen. Das ist natürlich völlig falsch. Rund 30 Prozent der Bevölkerung leiden jedes Jahr an einer behandlungsbedürftigen psychiatrischen Erkrankung, insbesondere an Angststörungen und Depressionen. Daraus folgt in der Regel nicht, dass die Menschen nicht in der Lage wären, ein verantwortungsvolles Amt wahrzunehmen – die Geschichte ist voll von Beispielen dafür, etwa Winston Churchill, bei dem eine bipolare Störung vermutet wird.
Dieser Auswirkung muss man sich bewusst sein, wenn man bei einer Persönlichkeit des öffentlichen Lebens versucht, eine psychiatrische Diagnose aus der Ferne zu stellen. Allerdings ging es der Gruppe von Psychiatern, die Sie eben erwähnten, wie gesagt nicht darum, Donald Trump eine psychiatrische Diagnose zu geben, sondern um dessen Gefährlichkeit. Sie haben – aus ihrer Sicht – mit dem Buch versucht, über eine Einschätzung seiner Psyche Schlüsse über seine Handlungsmöglichkeiten zu ziehen
Weshalb ist es unter Fachkundigen in den vergangenen Jahren so beliebt, das Verhalten von Staatsmännern psychiatrisch zu bewerten oder psychologisch einzuordnen?
Da würde ich Ihnen widersprechen und behaupten, dass es das schon immer gab, zumindest in der westlichen Geschichte. Die römischen Kaiser wurden zum Beispiel mehrfach als wahnsinnig bezeichnet, wie es zum Beispiel der römische Historiker Sueton tat, der die Handlungen des Kaisers Caligula aus dessen vermeintlichem Irrsinn hergeleitet hat. Es gibt eine ganze Reihe von Königinnen und Königen mit entsprechenden Beinamen, wie etwa Johanna die Wahnsinnige oder Charles le Fou, also der Verrückte. Ich sehe hier keinen modernen Trend, sondern eher ein Auf und Ab solcher Bewertungen in den Jahrzehnten.
Natürlich stehen Menschen heute viel mehr Informationen über Prominente zur Verfügung. Dennoch glaube ich nicht, dass eine Mehrheit der Psychiaterinnen und Psychiater gerne aus der Ferne diagnostiziert.
Trotzdem geben Fachleute noch immer Einschätzungen ab – und wir lesen sie gern. Warum gibt es diesen starken Wunsch nach psychiatrischen Erklärungen?
Es gibt ein legitimes Bedürfnis, zu verstehen, wie die Menschen ticken, von deren Handeln und Entscheidungen viel für uns abhängt. Wir wollen ein Stück vorhersagen können, wie sich Politikerinnen und Politiker unter bestimmten Rahmenbedingungen verhalten. Sehen wir ein Verhalten, das teilweise von der Norm abweicht, dann möchten wir das einordnen können. Das ist ein ganz rationales Bedürfnis und selbstverständlich völlig in Ordnung.
Natürlich will ich verstehen, warum zum Beispiel meine Vorgesetzten so oder so handeln oder die Staatsmänner und -frauen des Landes, in dem ich lebe. Probleme ergeben sich nur, wenn man das mit psychiatrischen Diagnosen vermischt, die ein anderes Ziel haben und eine andere Art von Einschätzung darstellen. Einordnen ist in Ordnung, Diagnostizieren ist das Problem.
Es ist schwierig, die Trennlinie zwischen solchen Einordnungen und psychiatrischen Diagnosen zu ziehen. Der Begriff Narzisst wird zum Beispiel inflationär gebraucht, ist aber keine psychiatrische Diagnose.
Ganz genau. Jeder Mensch verfügt in verschiedenem Ausmaß über solche narzisstischen Persönlichkeitszüge, das ist quasi normal, jeder hat sie, manche weniger, andere in hohem Maß. Das Wort wird häufig mit der narzisstischen Persönlichkeitsstörung vermischt. Diese ist ein tiefgreifendes, langanhaltendes Verhaltensmuster, welches zu einem unflexiblen, oft nicht adäquaten Umgang mit anderen Menschen führt sowie – dieser Aspekt wird leider häufig vergessen – zu signifikantem Leiden und Funktionseinschränkungen.
Zum Beispiel ecken die Menschen aufgrund ihres übersteigerten Bedürfnisses nach Bewunderung und Bestätigung im Beruf an oder sie scheitern in Beziehungen, weil es ihnen an Einfühlungsvermögen fehlt. Wenn diese Punkte alle erfüllt sind, würden wir von einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung sprechen.
Beispielsweise hat Allen Frances, der mit für die Kriterien dieser Erkrankung im US-amerikanischen Psychiaterhandbuch DSM, dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, verantwortlich war, zu Recht bemerkt, dass Donald Trump nach diesen Kriterien keine narzisstische Persönlichkeitsstörung hat. Er weist zwar ausgeprägt narzisstische Züge auf, leidet aber nicht daran und zeigt auch keine Funktionseinschränkungen im Sinne der Diagnose.
Donald Trump ist, wie er ist: einer der mächtigsten Menschen der Welt, ein Milliardär und mit seinem Leben, soweit man das sehen kann, zufrieden. Das heißt natürlich nicht, dass Narzissmus im Verbund mit einer großen Machtfülle nicht gefährlich sein kann. Ganz im Gegenteil vielleicht. Aber das ist eine andere Diskussion.
Laien kennen die Unterschiede zwischen Narzissmus und narzisstischen Störungen in der Regel nicht. Narzisst wird oft als abwertender Begriff verwendet.
Richtig. Das ist für mich persönlich der Hauptgrund, warum ich Kommentare zu Politikerinnen und Politikern nicht abgebe, denn solche Nuancen gehen in Interviews verloren. Außerdem besteht dann die Gefahr, der Stigmatisierung psychischer Erkrankungen weiter Vorschub zu leisten. Da wäre ich sehr vorsichtig, dafür sind psychiatrische Diagnosen nicht da, abgesehen davon, dass man aus der Ferne üblicherweise nicht die notwendigen Einsichten in Anamnese und Symptome hat.
Was es dann für Fachleute sehr schwer macht, sich zu äußern, wenn sie gebeten werden, das Verhalten von Staatsmännern einzuordnen.
Ja, viele tun es trotzdem. Dafür spricht, dass man auf diese Weise dazu beitragen kann, das Handeln von mächtigen Menschen zu verstehen. Das ist zweifellos ein tragender Grund dafür, es doch zu tun, wie etwa bei der eben erwähnten Gruppe Psychiater, die über Donald Trump geschrieben haben. Dagegen spricht aber die Unsicherheit, wie zuverlässig solche Ferndiagnosen sind und was sie in der Öffentlichkeit auslösen. Da bin ich recht besorgt. Denn auch wenn man durchaus richtige Dinge sagt, kann das in dem Klima, in dem psychische Erkrankungen in der Öffentlichkeit leider nach wie vor gesehen werden, einige Kollateralschäden anrichten.
Welche zum Beispiel?
Auch wenn ich meinetwegen als Fachperson zu Recht sagen würde, diese oder jene Person leidet an einer psychischen Störung, muss ich wissen, dass diese Aussage politisch gegen diese Person verwendet wird und in der Öffentlichkeit den Eindruck vermitteln kann, dass der- oder diejenige nicht fähig ist, das Amt zu bewältigen. Es geht ja bei diesen Stellungnahmen nicht darum zu verstehen, warum jemand wundervolle Dinge tut, sondern warum sich jemand aggressiv und normverletzend verhält. Eine solche Einschätzung fördert daher auch das Vorurteil, dass solche Verhaltensweisen bei psychischen Erkrankungen besonders häufig auftreten, was nicht zutrifft. Man verschiebt damit in beide Richtungen die Pfosten hin zu einer zunehmenden Stigmatisierung.
Schauen wir auf einen anderen Machthaber: Was sagen Sie zu dem folgenden Absatz aus einem Buch über den russischen Präsidenten Wladimir Putin, das vor einigen Monaten erschienen ist? „Kränkung ist ein Begriff, den man in der Psychologie verortet, nicht in der Geopolitik. Das ist ein Fehler. Für Wladimir Putin ist obida, Kränkung, inzwischen der politisch-emotionale Treibstoff seines Handelns im Angriffskrieg gegen die Ukraine wie auch für das zentrale politische Projekt seiner Amtszeit: die Demontage ‚des Westens‘, vor allem Europas. Also die Revanche für das, was er selbst als die Mutter aller Kränkungen sieht – den Zerfall der Sowjetunion. ‚Die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts‘, wie er in einer Rede 2005 sagte.“ Erklärt der Begriff Kränkung ein zentrales Motiv des Krieges gegen die Ukraine?
Mit diesem Begriff hätte ich jetzt keine Probleme. Die Erklärung scheint plausibel. Man muss natürlich sehr aufpassen, was mit Kränkung gemeint ist. Kränkung ist ja ein normales psychologisches Phänomen. Wenn ich aus Gekränktheit handle, dann handle ich unter bestimmten Bedingungen vielleicht nicht rational, was aber noch nichts mit psychischer Erkrankung zu tun hat. Der Begriff kann uns erklären, aus welchen Beweggründen Putin möglicherweise vorgeht. Das ist eine andere Kategorie, als zu behaupten, Putin habe aufgrund seiner Vita eine Persönlichkeitsstörung und deswegen tue er, was er tut.
Natürlich muss man sich trotzdem fragen, ob die Kränkung tatsächlich so wichtig ist wie behauptet und welche „Daten“ oder Nachweise es gibt. Das macht es schwierig, eine Handlung zu erklären. Denn man hat erstens meist nicht so viele Daten, wie man möchte, und zweitens gibt es oftmals mehrere Erklärungsmöglichkeiten für ein Verhalten. Dieses Problem taucht gerade bei historischen Vorgängen und Persönlichkeiten auf, über die wir in der Regel noch weniger zuverlässige Informationen haben.
Reduzieren wir mit psychologischen und psychiatrischen Diagnosen also komplexe Probleme auf eine einzelne Person und deren Fehlhandlungen?
Lange Zeit hatte man in der Geschichtsschreibung nur die einzelnen mächtigen Männer im Blick, meistens waren die mächtigen Personen ja Männer. Dann hat sich die Perspektive gewandelt. Die Personen waren nicht mehr so wichtig, sondern entscheidend für politische Ereignisse waren beispielsweise die zugrundeliegenden soziologischen und wirtschaftlichen Prozesse eines Landes.
Das hat zum Beispiel der Marxismus besonders betont. Ich meine, ohne ein Historiker zu sein, dass es ein Stück weit auf eine Synthese zuläuft. Persönlich glaube ich, dass der russische Angriffskrieg auf die Ukraine nicht notwendigerweise aus den soziokulturellen und wirtschaftlichen Gegebenheiten dieser zwei Länder folgt, sondern wesentlich damit zu tun hat, wie Wladimir Putin in seiner Machtposition die Welt sieht und welche Schlüsse er aus dieser Ansicht zieht. Wir müssen aber natürlich aufpassen, dass man die Dinge nicht nur auf die Befindlichkeiten einzelner Personen verengt.
Andreas Meyer-Lindenberg leitet das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Er ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN).