Sie stehen nackt vor dem Spiegel und schämen sich in der Umkleide: Frauen, die glauben, dass mit ihrer Vulva etwas nicht stimmt. Und die überzeugt sind, dass nur eine Operation helfen könne. Viele von ihnen legen sich unters Messer, um ihre Genitalien „korrigieren“ zu lassen. „Männer würden sich niemals den Penis verkleinern lassen“, hält die Psychologin Ada Borkenhagen dagegen. Warum glauben Frauen, ihr Genital sei zu groß und nicht schön genug?
Intimkorrekturen einfach als Schönheitsoperationen…
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glauben Frauen, ihr Genital sei zu groß und nicht schön genug?
Intimkorrekturen einfach als Schönheitsoperationen abzustempeln, das weist Michaela Montanari entschieden zurück. Die Bochumerin ist plastische Chirurgin, nach eigenen Angaben eine der ersten, die sich hierzulande auf Intimchirurgie spezialisiert haben. Sie betont, dass der ästhetische Aspekt bei den Eingriffen zwar eine Rolle spiele, aber oft eine zweitrangige. Viele ihrer Patientinnen litten jahrelang unter funktionellen Beschwerden. Sie berichteten über Schmerzen beim Sport, Entzündungen durch Reibung in engen Hosen, von Problemen beim Geschlechtsverkehr oder mit Nacktheit. „Ehe Betroffene sich professionelle Hilfe suchen, vergehen im Durchschnitt sieben Jahre“, sagt Montanari. Bis dahin schämen sie sich und fühlen sich hässlich.
Die Medizinerin erinnert sich an viele Schicksale, die sie, wie sie sagt, bis heute fassungslos machen. „Eine meiner Patientinnen litt seit ihrem 16. Lebensjahr unter einer inneren Schamlippe, die so groß war wie ein Hodensack und deutlich heraushing“, erzählt Montanari. Erst mit 22, also nach rund sechs Jahren Leiden inklusive regelmäßigen Besuchen beim Gynäkologen, habe die junge Frau von einer Operation als Lösung erfahren. Montanari ist wichtig, dass die Möglichkeiten der Intimkorrektur öffentlich bekannter werden. „Ansonsten leiden junge Frauen unnötig unter einem ungesunden Körpergefühl, meiden Sexualkontakte, ziehen sich sozial zurück oder entwickeln psychische Probleme.“
Selbstermächtigung und Enttabuisierung
Die OPs kosten zwischen 1800 und 4000 Euro und werden nur in Ausnahmefällen von den Krankenkassen übernommen. Das muss man sich leisten können – ein Grund, wieso viele Patientinnen erst in der zweiten Lebenshälfte kommen. Eine Patientin war 50 Jahre alt. Sie litt unter einer Verletzung, die ihr 15 Jahre zuvor bei der Entbindung ihres ersten Kindes zugefügt worden war. Damit müsse sie jetzt leben, sagte der damalige Gynäkologe. Es war ein Loch in der Schamlippe, ein Hautfetzen, größer als eine Münze. Kein anderer Arzt habe ihr je geholfen. Erst Montanari entfernte die überschüssige Haut und rekonstruierte die Vulvalippe.
Die Chirurgin erzählt, dass viele Frauen dankbar für die neugewonnene Lebensqualität seien, aber manche auch wütend über die verlorenen Jahre. „Viele sagen nach dem Eingriff: ‚Hätte ich das früher gewusst!‘“ Michaela Montanari sieht deshalb in den Intimkorrekturen auch eine Art Selbstermächtigung und Enttabuisierung.
„Kaum realistische Bilder von Vulven“
„Weibliche Genitalien sind sprachlich und visuell lange unsichtbar gewesen, im Aufklärungsbuch ebenso wie im Alltag“, sagt auch Thula Koops. Man hört es ihrer Stimme am Telefon an: Das Thema ist ihr ernst. Seit Jahren forscht die Psychologin dazu am Hamburger Institut für Sexualforschung, Sexualmedizin und Forensische Psychiatrie. Im Gegensatz zur Chirurgin Montanari beobachtet sie mit Sorge, wie sich immer mehr Frauen verunsichern lassen. Das Problem: Viele Frauen wissen nicht, wie unterschiedlich Vulven aussehen können, weil es lange Zeit wenig Bilder davon gab.
„Den Frauen sind jetzt deutlich mehr retuschierte, kaum realistische Bilder von Vulven in der Werbung, in Magazinen oder in Pornos zugänglich.“ Und dort wird immer das Ideal des clean slit gezeigt, der glattrasierten, symmetrischen Vulva, die ein jugendliches Ideal bedient. Mit äußeren Labien, die sich wie eine geschlossene Muschel schließen. Nichts darf heraushängen, keine Klitorishaut, keine inneren Labien. Zugleich wurde mit dem Trend zu Rasur und Waxing die Vulva sichtbarer. Am FKK-Strand oder in der Umkleide im Fitnessstudio werden die äußeren und inneren Vulvalippen nicht mehr durch Haare verdeckt. „Das erhöht den Druck auf Frauen“, erklärt die Sexualforscherin.
Fehlender Vergleich
Auch Datingtrends wie Sexting, das Verschicken von Nacktfotos in privaten Chats, verunsichern viele junge Frauen: Sind sie schön genug? „Männer verschicken häufig Bilder ihres erigierten Glieds, Frauen aber fehlen die Vergleichsmöglichkeiten für ihr Genital“, erklärt Ada Borkenhagen, Psychologin und Psychoanalytikerin an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. „Stattdessen legen vor allem männliche Chirurgen willkürliche Normen fest, ohne empirische oder wissenschaftliche Grundlagen.“
Die International Society of Aesthetic Plastic Surgery zählte 2023 über 189000 Labienkorrekturen weltweit – fast doppelt so viele wie 2015. Allein in Deutschland legten sich demnach über 8200 Frauen unters Messer. Weil die Eingriffe von nichtchirurgischen Ärzten wie Gynäkologen oder Dermatologen dabei nicht erfasst wurden, dürfte die Gesamtzahl der Labien-OPs sogar noch höher liegen.
Die Statistiken aus Deutschland zeigen, dass Intimkorrekturen vor allem bei jungen Frauen gefragt sind. Bei den unter 30-Jährigen waren laut der Deutschen Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie Intim-OPs im vergangenen Jahr mit 7,7 Prozent nach Brustoperationen der beliebteste Eingriff, noch vor Botoxbehandlungen.
Expertinnen und Experten warnen davor, dass ein Teil der Frauen, die Schönheitsoperationen vornehmen lassen, nach der OP unglücklicher sind als vorher, weil sie kein funktionelles, sondern ein psychisches Leiden haben: eine körperdysmorphe Störung. Wer daran leidet, sieht Makel, wo andere nichts erkennen. Das kann die Nase sein, die Haut betreffen, die Haare – oder eben die Genitalien. Obwohl es keine sichtbaren Narben oder Verletzungen gibt, halten sich Betroffene für entstellt. Der Gedanke lässt sie nicht los.
Psychische Nebenwirkungen
Manche Betroffene ziehen sich sozial zurück, bleiben Single oder haben Probleme mit Sexualität. „Besonders in intimen Situationen fühlen sich Betroffene, die ihre Genitalien unattraktiv finden, sehr gestresst und fürchten Bewertungen von ihren Partnern und Partnerinnen“, erklärt die Psychologin Ulrike Buhlmann, die die Spezialambulanz für körperdysmorphe Störungen an der Universität Münster leitet.
Da Erkrankte denken, ihr Problem sei ein körperliches, suchen sie selten psychotherapeutische Hilfe. „Und wenn, versuchen sie, das Thema vor dem Therapeuten zu verheimlichen.“ Studien zeigen, dass eine Operation bei einem Menschen mit körperdysmorpher Störung die psychische Belastung sogar noch verschlimmern kann, weil die Ursache – die verzerrte Selbstwahrnehmung und ein niedriger Selbstwert – unbehandelt bleibt. „Ein Großteil der Betroffenen verlagert die Unsicherheit dann auf eine andere Körperregion“, erklärt Ulrike Buhlmann.
Repräsentative Zahlen, wie oft Frauen operiert werden, die eigentlich eine Psychotherapie bräuchten, gibt es nicht. In einer US-amerikanischen Studie mit 200 Patientinnen mit körperdysmorpher Störung gaben immerhin 64 Prozent an, bei einem Dermatologen oder Schönheitschirurgen in Behandlung gewesen zu sein. Ulrike Buhlmann wünscht sich deswegen eine stärkere Sensibilisierung von Chirurgen, Psychologen und der Öffentlichkeit, damit Betroffene die richtige Unterstützung erhalten: statt einer OP also beispielsweise eine kognitive Verhaltenstherapie.
Die Unzufriedenheit bleibt
Doch die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper – trotz Operation, trotz Hoffnung, trotz Schmerzen – betrifft nicht nur Menschen mit einer körperdysmorphen Störung. Das zeigt unter anderem die Querschnittstudie von Thula Koops und Kollegen am Hamburger Institut für Sexualforschung. Demnach sind intimoperierte Frauen häufiger unzufrieden mit ihrem eigenen Erscheinungsbild (41 Prozent) als Frauen ohne den Eingriff (15 Prozent). „Hadert eine Frau grundsätzlich mit ihrem Körperbild, wird eine Operation das Problem möglicherweise nicht beheben“, erklärt die Wissenschaftlerin. Sie verweist darauf, dass psychische Leiden dringend von den behandelnden Medizinerinnen abgefragt werden müssen. „Diese Frauen hoffen zum Teil auf eine Verbesserung des Selbstbewusstseins oder eine verbesserte Sexualität. Sie lassen wiederholt Operationen durchführen, aber die Unzufriedenheit bleibt“, warnt Koops.
In der Hamburger Studie wurde auch abgefragt, inwieweit Intimkorrekturen die Sexualität beeinflussen. So gaben intimoperierte Frauen deutlich häufiger an, dass sie beim letzten Sexualkontakt Analsex hatten. Doch bedeutet das, dass diese Frauen keinen vaginalen Verkehr mehr mögen? Oder aber das Gegenteil, dass sie experimentierfreudiger sind? „Das können wir aus den Fragebögen nicht ableiten“, sagt Thula Koops. „Wir wissen nur, dass es Zusammenhänge zwischen einem positiven Körperbild und einer erfüllteren Sexualität gibt.“ Wofür es dagegen keine belastbaren Daten gibt: dass Frauen nach einer Labioplastik besseren Sex haben, wie es von Chirurgen, aber auch in Medienberichten suggeriert wird.
Es gibt kein richtig oder falsch
Ob Frauen mit ihren Genitalien zufrieden sind, hat offenbar wenig mit deren tatsächlicher Größe zu tun. In einer Querschnittstudie an der Universität Innsbruck wurden 200 Studienteilnehmerinnen befragt, die eine gynäkologische Praxis aufsuchten. Zunächst wurden die inneren Labien der Frauen gemessen. Bei der anschließenden Befragung gaben immerhin 27 Prozent der Frauen an, unzufrieden mit ihren inneren Labien zu sein. Das Verblüffende: Diese Unzufriedenheit stand in keinem Zusammenhang mit der objektiven, gemessenen Größe.
„Frauen sollten wissen, dass es keine ‚richtige‘ oder ‚falsche‘ Vulva gibt“, sagt Jamie McCartney. Der britische Künstler hat über 400 Gipsabdrücke von weiblichen Genitalien erstellt – anonym und in neutralem Weiß gehalten. Seine Great Wall of Vulva umfasst acht Meter und zeigt, was viele Menschen so noch nie gesehen haben: die Vielfalt des weiblichen Genitals. „Ich hoffe, dass ich Frauen damit ermutigen kann, sich selbst anzunehmen“, begründet er das Projekt.
Die Idee kam McCartney 2006, als er von der Zunahme der Operationen in Großbritannien las und parallel für ein anderes Kunstprojekt Frauen und Männer für Gipsabdrücke suchte. Viele Frauen hätten sich geschämt, sich auszuziehen, aber keiner der Männer, wunderte er sich schon damals. Fünf Jahre lang suchte er dann Teilnehmerinnen. Am Ende meldeten sich so viele begeisterte Frauen zwischen 18 und 76 Jahren, dass er noch heute in zahlreichen Ländern Abdrücke machen könnte. „Wenn ich die Zeit hätte“, sagt er.
Präferenzen von Männern
Die Rückmeldungen der beteiligten Frauen seien überwältigend gewesen. „Viele waren erleichtert, in der Great Wall of Vulva zum ersten Mal im Leben normale Genitalien zu sehen. Sie verstanden, dass sie nicht allein sind. Manchen hat der Abdruck sogar geholfen, ein sexuelles Trauma oder tiefe Unsicherheiten zu überwinden.“ Interessant seien aber auch die Rückmeldungen von Männern: „Männer haben keine starke Präferenz für bestimmte Vulvaformen. Und wenn, dann haben sie eher eine Vorliebe für große Labien“, so McCartney. Sie seien viel unkritischer, als Frauen denken. „Oft sind Männer einfach glücklich, in der Nähe einer nackten Frau sein zu dürfen.“
Dabei hat Jamie McCartney grundsätzlich nichts gegen Intimkorrekturen. „Es geht nicht darum, dass Frauen sich nicht operieren lassen dürfen. Sie sollten sich jedoch nicht aus einem Gefühl der Scham oder des sozialen Drucks dafür entscheiden.“
Die Psychologin Ada Borkenhagen legt zweifelnden Frauen ans Herz, sich zu fragen, ob der Eingriff wirklich Sinn hat – oder man lieber den Blick auf den eigenen Körper verändern sollte. „Schließlich“, gibt sie zu bedenken, „kann man nichts wieder ankleben.“
Quellen
Borkenhagen, A. (2019). Psychosoziale Aspekte der kosmetischen Intimchirurgie des weiblichen Genitales. In: Ursula Mirastschijski & Eugenia Remmel (Hg.): Intimchirurgie. Springer
Ada Borkenhagen & Elmar Brähler (Hg.): Intimmodifikationen. Psychosozial-Verlag 2010
Koops, T.U., Wiessner, C., Briken, P. (2023). Sexual activities and experiences in women who underwent genital cosmetic surgery: a cross-sectional study using data from the German Health and Sexuality Survey (GeSiD). Int J Impot Res 35, 741–747