In wachsenden Ringen: So gelingt Älterwerden

Älterwerden ist für viele Menschen eine Herausforderung. So gelingt es! ► Drei Bücher über Babyboomer, sinnerfülltes Altern, und späte Psychotherapie

Altern ist ein vielschichtiger biologischer, gesellschaftlicher und psychologischer Prozess. Warum wir altern, ist bis heute ungeklärt. Mit dem biologischen Altern rücken Leistungsverluste und Krankheiten ins Bewusstsein, und wir werden mit unserer Endlichkeit konfrontiert. Es eröffnen sich aber auch Perspektiven. Davon handeln diese drei Bücher.

Drei Krisenlandschaften

Marie-Luise Hermann, Psychoanalytikerin in eigener Praxis in Zürich, nimmt die Babyboomer in den Blick – die Generation, die zu den Zeiten steigender Geburtenraten nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde. Erstaunlich sei, dass diese große gesellschaftliche Gruppe noch so wenig wissenschaftlich erforscht worden sei. Es sei eine pragmatisch-flexible Generation, mit weniger ideologischen Scheuklappen als die kämpferische Generation davor, die 68er.

Die Autorin hält die Lebensmitte (nach ihrer Definition das Alter zwischen 45 und 60 Jahren) für eine der anspruchsvollsten Lebensphasen, die stark unterschätzt werde. Sie bringe seelisch Neuauflagen alter ungelöster Konflikte hervor, erzwinge aber auch eine Konfrontation mit der ablaufenden Lebenszeit und den Vorboten des Altwerdens.

Die Gründe für jahrzehntelange Anpassung, Verausgabung oder Unterdrückung aggressiver Gefühle könnten in einer Therapie gut aufgearbeitet werden. Sie beschreibt drei „Krisenlandschaften“, die um die Szenarien des „Festsitzens“ (in der Familienfalle oder im Job), der Desillusionierung (geplatzte Lebensträume, verpasste Ziele) und des Zusammenbrechens kreisen. Marie-Luise Hermann gelingt eine sensible Erfassung und Analyse der Krisen dieses Lebensabschnittes.

Der letzte Reifungsring

Andreas Kruses Augenmerk liegt auf den Grenzsituationen im Alter – ein Forschungsschwerpunkt des emeritierten Professors für Gerontologie. Er legt ein philosophisch grundiertes Resümee seines beruflichen Werdegangs vor. Ausgehend von der biografischen Sinnsuche, dem „Wachsen und Reifen“, zeigt er, dass Ereignisse, Handlungen und Verhaltensweisen immer eine rückblickende Deutung und auch Bewertung erfahren.

In einem weiteren Schritt fragt er, inwieweit es im Verlauf des Alterns gelingen kann – um mit dem Buchtitel zu sprechen –, das eigene Sein in wachsenden Ringen zu leben (oder es als solches zu erleben) und sogar den letzten Ring zu vollbringen. Um diesen letzten Reifungsring zu erreichen, seien im Laufe des Lebens verfeinerte emotionale und geistige Kompetenzen und eine gewachsene Widerstandsfähigkeit ebenso gefragt wie eine Offenheit für Erfahrungen und neue Erkenntnisse und eine erfüllende Kommunikation mit nahestehenden Menschen. Dieses Ideal vom abgeklärten, weisen Altern erscheint etwas realitätsfremd. Dennoch ein erkenntnisreiches Buch über die eine Lebenszeit, die von vielen Menschen als herausfordernd erlebt wird.

Suizid ist nie nur eine demonstrative Geste

Bertram von der Stein, Lehranalytiker, Supervisor und niedergelassener Psychoanalytiker, nimmt den gesamten Lebensabschnitt „Alter“ ins Visier. Er spricht Therapeutinnen und Therapeuten, aber auch interessierte Laien an. Er sieht (wie schon Freud, auf den er verweist) die Psychotherapie grundsätzlich als ein bruchstückhaftes Unternehmen – nicht zuletzt bedingt durch die Einschränkungen des Therapeuten.

Der Autor liefert keine systematische Übersicht über die Psychotherapie im Alter, sondern die Essenz aus seiner 35-jährigen Erfahrung in der Lehre und seiner Praxis am Kölner Stadtrand, der multikulturell geprägt ist.

Von der Stein umreißt die Geschichte der Alterspsychotherapie, beschreibt häufige Krankheitsbilder – etwa psychosomatische und depressive Störungen, Sucht, Traumata, Psychosen und demente Entwicklungen – und setzt sich mit drei Tabuthemen auseinander: dem Umgang mit dem Tod, der Suizidalität und dem Scheitern einer Therapie durch Behandlungsfehler.

„Die Aussage Freuds, dass niemand so ganz an seinen Tod glaubt, gilt auch für die letzte Lebensphase.“ Die Therapeuten sollten die eigene Todesangst nicht vor den Patientinnen und Patienten verschweigen. Es sei eine bedrückende Erfahrung, dass die Zahl der vollendeten Suizide in den Industrieländern mit dem Lebensalter steige. Ein Suizid sei niemals nur eine rein demonstrative Geste. „Es gilt alles zu tun, um Alterssuizide zu vermeiden.“

Kostbarkeit des Lebens erkennen

Wenn man sich den Gründen für das Scheitern einer Therapie nähere, betrete man ein Minenfeld, „eine wissenschaftlich und systematisch zu erkundende Terra incognita“. Umso größer das Verdienst des Autors, sich aus eigener Supervisionserfahrung und anhand von Beispielen mit den tieferen Ursachen von Behandlungsfehlern auseinanderzusetzen. Einige grenzen für von der Stein auch an „grobe Fahrlässigkeit“ – so etwa Schwerhörige einer Gruppentherapie auszusetzen oder eine schwere Depression mit Demenz zu verwechseln.

Ein lehrreiches Buch und ein Beispiel dafür, wie die Kluft zwischen Theorie und Praxis überwunden werden kann.

Die Kostbarkeit des Lebens wird uns erst deutlich, wenn wir uns unserer Sterblichkeit gewahr werden. Diese nicht originelle Erkenntnis, die jedoch immer wieder aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein verdrängt wird, vermitteln alle drei Bücher.

Marie-Luise Hermann: War das schon alles? Babyboomer jenseits der Lebensmitte. Psychosozial 2023, 172 S., € 22,90

Andreas Kruse: Leben in wachsenden Ringen. Sinnerfülltes Alter. Kohlhammer 2023, 136 S., € 22,–

Bertram von der Stein: Ältere Menschen in der Psychotherapie. Chancen, Tabus und Fallstricke. Psychosozial 2023, 225 S., € 34,90

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