Ich habe fünfzehn Jahre im Versorgungsauftrag Straftäterinnen und Straftäter psychotherapeutisch behandelt. Da die Dosis das Gift macht, kündigte ich und ließ mich in der ambulanten Praxis nieder, in der Hoffnung auf Ruhe und Frieden. Nun ist Berlin bekanntlich ein Dorf und so landete irgendwann eine E-Mail in meinem Posteingang mit der Bitte, mit einer Psychiaterin am anderen Ende der Stadt zu telefonieren. Ihr Patient hatte sich ein Herz gefasst und von Fantasien erzählt, genauer gesagt sexuellen…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
telefonieren. Ihr Patient hatte sich ein Herz gefasst und von Fantasien erzählt, genauer gesagt sexuellen Gewaltfantasien – und zwar sehr blutigen. Sie hatte einen großen Schreck bekommen und war verzweifelt. Es gibt da diese Idee: Sadismus hat man nicht, Sadismus ist man.
Ach, denke ich bei mir, während ich die Mail lese, wie schön ist es doch, dass mich das nicht mehr betrifft. Schließlich muss der Seelenfrieden der Behandelnden auch eine Rolle spielen. Ich telefoniere mit der Kollegin und erzähle ihr, was ich aus meinem beruflichen Vorleben über Sadismus weiß – leise froh, dass es mich nicht erwischt hat. Und sie sagt: „Niemand will diesen Mann psychotherapeutisch behandeln.“ Ich ahne Schlimmes. „Oh nein! Hilfe! Bitte nicht!“, denke ich und sage möglichst harmlos: „Ach, wirklich?!“ Und am Ende unseres Gespräches fragt sie mich dann natürlich: „Frau Klemke, wann können Sie ihn sich ansehen?“ Ich höre mich sagen: „Freitag um zehn“ – und ärgere mich ab da über mich selbst.
Genug von Gewalt
Der junge Mann ist Anfang zwanzig*, er kommt pünktlich und ist sehr höflich. Ich stelle mich vor. Ich sage ihm, dass es mir schwerfällt, die Verantwortung für seine Behandlung zu übernehmen – und dass es deshalb ein paar Regeln gibt. Er nickt. Drogenabstinenz, Schweigepflichtentbindung, regelmäßige Therapieteilnahme, im Krisenfall Zustimmung zu Medikation und stationärer Behandlung. Was eine Krise ist, entscheide ich. Ich bin streng für meine Verhältnisse. Dann kann ich ruhiger schlafen, und das ist die Grundlage davon, dass ich tagsüber behandeln kann. Er nickt.
Sie wollen mehr Geschichten aus der Therapiestunde als Buch lesen?
Das Buch „Wenn Sie wüssten, wie ich wirklich bin“ versammelt die 50 besten „Therapiestunde“-Kolumnen, die in den letzten Jahren erschienen sind.
Ich schweige darüber, dass es einen Grund hatte, warum ich aufgehört habe. Dass ich genug von Gewalt habe, dass ich mein Soll geleistet habe. Dass es mich manchmal gequält hat. Ich sage nicht: „Herrgott, mussten Sie das denn unbedingt erzählen!? Damit erschrecken Sie doch alle!“ Stattdessen frage ich ihn aus: Substanzmittelmissbrauch? Emotionaler Zusammenbruch? Keine emotionale Unterstützung? Akute Feindseligkeit? Abwehr von Hilfe? Hohe sexuelle Befasstheit? Opferverfügbarkeit? Vielleicht, nein, nein, nein, ja, ja, ja. Schutzfaktoren: Partnerschaft, Familie, Arbeit? Ja, ja, ja. Offenheit und Therapiebereitschaft? Mehr, als mir lieb ist.
Und er erzählt seine Geschichte
Anamnesen sind bei dieser Diagnose noch nie harmlos gewesen. Ich weiß es schon, bevor ich ihn befrage. Vater drogenabhängig und gewalttätig, Mutter depressiv, ängstlich, wehrlos. Gewalterfahrung über drei Generationen hinweg. Als kleiner Junge war er eingesperrt worden. Tage- und nächtelang allein in einem kleinen Zimmer. „Der Vater hielt mich wie einen Sklaven“, sagt er. Er sitzt dort aufrecht und starr, während er seine Geschichte erzählt. Dieser muskelbepackte Mann passt kaum auf meinen Therapiesessel. Der kleine Junge ist groß geworden. Als ich ihn frage, wie er sich gerade fühlt, sagt er: „Ich fühle immer nur ein Nichts.“ Und so schneidet er in diesen Körper hinein. Lange weiße Narben überziehen seinen Oberkörper. Er verreibt mit den Händen das Blut und auf dem Foto , das er mir davon zeigt, sieht es aus, als wäre dieser ganze Mensch nur eine einzige Wunde.
Ich atme aus. Und wann fing das mit den Gewaltfantasien an, frage ich. „Ich war dreizehn, kam nach Hause, und da lag der Vater unterm Küchentisch, ich hatte Angst, dass der stirbt. Hab das Zeug zufällig gefunden, sein Laptop war noch an. Mit den Gewaltpornos, da hab ich mich mal frei gefühlt, überhaupt irgendwas gefühlt. Hab versucht, den Vater zur Suchtberatung zu kriegen, aber der wollte nicht. Der hatte keinen mehr, nur mich. Der wär gestorben, hab alles gemacht für den, geputzt, gekocht.“
Und irgendwann musste es für ihn immer mehr von diesen Gewaltpornos sein. Und der Stoff immer härter, für die gleiche Wirkung. Als 18-Jähriger zerschneidet er in seiner Fantasie andere Menschen und es passiert noch einiges Unappetitliches mehr. Er bekommt eine Erektion und einen Orgasmus. Er fühlt sich mächtig und stark und frei. Er sieht die Videos mehrmals in der Woche. Jeder Orgasmus eine Verstärkung. Sadismus als Traumafolgestörung und operant konditioniert. Er kann damit Dissoziation unterbrechen und Ohnmacht regulieren. Ich erkläre ihm den Zusammenhang. „Sie verstehen was davon!“, sagt er, und ich antworte nicht: „Mehr als mir lieb ist“, sondern: „Sie sind wirklich nicht der einzige Mensch mit diesem Problem.“ Und da weicht eine Spannung aus seinem Gesicht, nur für einen Moment.
Die Entscheidung für einen Verzicht
Wir beginnen mit Verhaltensanalysen, beobachten Auslöser, Verstärker und Hemmer. Und dann reden wir eine Weile nicht mehr über Sadismus. Wir üben atmen, den Körper wahrnehmen und Gefühle unterscheiden. Wann fühlen Sie sich in Ihrem Alltag hilflos, frage ich ihn. Wir üben, sich zu beruhigen, zu atmen und zu sagen, was man denkt. Wir üben, sich zu wehren, nein zu sagen. Wir benutzen die Vorstellungskraft, um dem ohnmächtigen inneren Kind zu helfen. Sein Körper wird weicher und er beginnt, sich wieder zu fühlen. Wir üben Akzeptanz. Und irgendwann stockt mein Atem nicht mehr, wenn er den Raum betritt. Der Panzer bricht auf. Seiner und meiner. Die sadistischen Fantasien werden seltener.
Und eines Tages erzählt er mir, dass er diese berauschende sexuelle Erregung auf anderem Weg nicht fühlen kann. Diese Spannung, diese tiefe Beruhigung danach. Und er erzählt mir von der Idee, die Fantasie in die Tat umzusetzen. Das wäre die Befreiung. Die ultimative Erlösung. Von allem Schmerz, von aller Ohnmacht.
Es gibt die Millisekunde, in der möchte ich die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und „So eine elende Scheiße!“ schreien. Was Menschen anderen Menschen antun, weil sie Erlösung suchen. Und hinterher sind überall nur Opfer. Manche tot, manche gerade noch lebendig. Es ist zum Verzweifeln.
Ich denke einen Moment nach. – „Nicht einer der sadistischen Täter, die ich behandelt habe, hat dabei Erlösung empfunden. Und alle sahen übrigens zerstört aus und keineswegs erlöst.“ Ich denke, er sieht meine Erschütterung. „Was, wenn ich es doch tue?“, antwortet er mir und in seinen hellen Augen sehe ich für einen Moment echte Angst. Ich atme ein. Noch nie habe ich diesen Satz von einem sadistischen Täter gehört. Vielleicht bin ich deshalb aus der Forensik weggegangen. Sadismus hat manchmal auch eine Suchtdynamik. Es bedeutet, die Entscheidung für einen Verzicht zu treffen. Ich höre mich sagen: „Angst warnt uns vor Gefahr. Sie ist ein Schutz!“ Wie gut, dass er hier ist. Wie gut, dass er alles erzählt hat. Wie gut, dass ich meine Gegenwehr aufgegeben habe. Wie gut, dass sich niemand quälen muss mit einer ausgeführten Tat.
* Persönliche Daten und alle Einzelheiten, die den Klienten erkennbar machen könnten, wurden verändert
Karoline Klemke, Psychologin und approbierte Psychotherapeutin, arbeitete viele Jahre in der forensischen Psychiatrie und behandelte Schwerkriminelle im Maßregelvollzug, Gefängnis und in einer Straftäterambulanz. Seit 2016 ist sie als kriminalprognostische Gutachterin tätig und führt eine eigene psychotherapeutische Praxis in Berlin. Ihr Buch Totmannalarm. Begegnungen mit Straftätern erschien 2023 bei dtv.