Psychotherapie mit Sauerkraut

Therapiestunde: Sein Hausarzt rät dem Patienten seine Reizdarmproblematik psychotherapeutisch begleiten zu lassen. Wie konnte Daniela Botz ihm helfen?

Die Illustration zeigt einen Mann der den Bauch voll mit Sauerkraut hat, und auf ein großes Einmachglas mit Sauerkraut und einer Gabel schaut
Verdauung und psychische Gesundheit sind stark vernetzt. Sauerkraut hilft dem Patienten mit seinem Reizdarm – und den Ängsten. © Michel Streich für Psychologie Heute

Stefan M.*, 41 Jahre, kommt auf Anraten seines Hausarztes in meine Praxis. Mit erkennbarer Scham bezeichnet er sich selbst als „Darmpatient“. Nachdem er aufgrund seiner wiederkehrenden Darmprobleme verschiedene Ärztinnen und Ärzte aufgesucht hat, empfiehlt ihm sein Hausarzt, die Durchfälle und „Aufregungen“ im Gastrointestinaltrakt im Kontext eines Verdachts auf Reizdarm psychotherapeutisch begleiten zu lassen, was Stefan verunsichert: „Symptome, die doch offensichtlich körperlich – riechbar! – auftreten,…

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zu lassen, was Stefan verunsichert: „Symptome, die doch offensichtlich körperlich – riechbar! – auftreten, sollen eigentlich vom Kopf kommen? Ich bin eigentlich ein großer Fan von Körper und Psyche, ehrlich! Aber im Fall von Reizdarm… Na ja!“

Stefan M. berichtet im Erstgespräch, dass ihn erstmalig auf der Fahrt zu einem externen Geschäftstermin die unangenehme Erfahrung überrascht hat, mitten im geschäftigen Berufsverkehr nicht mehr an sich halten zu können, worauf er den nächstgelegenen Seitenstreifen genutzt und sich in ein Gebüsch gerettet habe, neben der laut befahrenen Autobahn… Die Erleichterungsqualität dieser intimen Situation kann man sich vorstellen. Von da an habe er es vermieden, längere und vor allem verkehrsintensive Fahrten zu machen, und sich vorab vor jedem externen Termin abgesichert, dass eine Toi­lette in Reichweite ist. Lernpsychologisch nachvollziehbar, verhaltenstherapeutisch die perfekte Ätiologie einer spezifischen Phobie, insbesondere weil das Auftreten von starken Verdauungsbewegungen häufig ohnehin assoziiert ist mit Angstsymptomen.

Der durchlässige Darm

Zufälligerweise trifft Herr M. nun auf eine Therapeutin, die sich so manch lauen Feierabend mit der genüsslichen Schmökerei im PubMed-Archiv vertreibt. Einige der liebsten Rubriken: gut-brain axis, (gut) microbiota und probiotics/prebiotics – ein ungeahnt spannendes Forschungsgebiet, welches seit gar nicht so langer Zeit die Medizin und Psychologie überaus informationsreich miteinander verbindet.

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Ich fasse es hier in Kürze zusammen: Der Darm hat ein eigenes Nervensystem (enterisches Nervensystem, ENS) mit sehr vielen Verbindungen, das über Nervenbahnen und über das Blut mit Neurotransmittern und Hormonen mit dem zentralen Nervensystem, also dem Gehirn kommuniziert. Der Darm enthält auch eine unvorstellbar große Anzahl an verschiedenen Bakterien, gesundheitsförderliche und pathogene Mikroorganismen, die uns dabei helfen, unsere Nahrung verwertbar zu machen und wichtige Nährstoffe herzustellen. Mithilfe bestimmter Laktobazillen wird etwa das für das psychische Wohlbefinden so wichtige Serotonin in großen Mengen produziert und zum Gehirn transportiert. Serotonin fördert die Peristaltik und zudem gesunde Bakterien.

Leider wird eine Laboranalyse über die individuelle Darmgesundheit nicht von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt und sprengt mit einem Preis von etwa 150 Euro auch das Zuzahlungtoleranzfenster der meisten Klientinnen und Klienten. Ich halte diese Analyse dennoch für sinnvoll, um umfassende Informationen über die Psyche von innen zu erhalten. Der Klient Stefan M. schickt seine Probe ab und kommt nach drei Wochen mit dem Analyseergebnis zurück. Im Profil des Klienten zeichnet sich ein klares Bild von einer mangelhaften Schutzfunktion der Darmschleimhaut gegen Krankheitserreger (das sogenannte leaky gut syndrome) und einer viel zu geringen Bakterienvielfalt ab, zudem sind die Entzündungsindikatoren erhöht.

Atmung, Bewegung und einen Topf Sauerkraut

Im Fall einer Reizdarmsymptomatik und einer Mikrobiomdysbiose, also einem Ungleichgewicht von „guten“ und „schlechten“ Bakterien und anderen Mikroben, wird die Frage nach der richtigen Therapie komplizierter. Fangen wir verhaltenstherapeutisch an: Offensichtlich setzt das Thema „unkontrollierbarer Toilettengang“ den Klienten stark unter Druck. Also üben wir, den Stress über Atmung und Bewegung abzubauen und mit einer bewussten Entspannungseinheit abzuschließen. Ich bin begeistert von dem Ansatz Peter Levines, Bewegung als Antwort auf Angstzustände einzusetzen (somatic experiencing), und baue dies in die Behandlung jeder Angstsymptomatik ein.

Als Nächstes schauen wir uns die „Darmgewohnheiten“ an. Die Wissenschaft ist sich völlig einig, dass eine ballaststoffreiche und gern auch fermentierte Nahrung die Darmgesundheit unterstützt, indem sie die gesunden Bakterien füttert. Leider enthält unsere Standardnahrung davon wenig. Und wenn wir uns zu Sauerkraut bekennen, dann finden wir nur bei gezielter Suche im Kühlregal des Biofachhandels frisches milchsäurevergorenes Sauerkraut. Das Fermentieren als uralte Methode des Haltbarmachens liefert neben erhaltenen Nährstoffen nämlich ein regelrechtes Powerpaket an gesunden Mikroorganismen für den Darm und ist zudem die mitunter einzige Quelle für Vitamin K2, das von vielen Menschen nicht selbst synthetisiert werden kann.

Sogenannte Probiotika können zudem in passender Zusammensetzung, Dosierung und Darreichungsform eine Dysbiose im Mikrobiom behandeln. Eine fachärztliche Beratung ist dafür unerlässlich und auch das Aufsuchen einer Ernährungsmedizinerin ist empfehlenswert. Mit Sicherheit kann jedoch festgehalten werden: Ballaststoffreiche Nahrung, gesunde Fette, viel Wasser, Bewegung und Entspannung helfen der Darmgesundheit ungemein. Man benötigt allerdings ein wenig Geduld, denn sowohl neue Gewohnheiten als auch das Mikrobiom benötigen mehrere Monate, um sich umzustellen.

Kontrolle in der analen Phase

Im Verlauf der weiteren Gespräche taucht bei Stefan M. noch das Thema des Umgangs mit Kontrollverlust im Allgemeinen auf. Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker werden sich freuen, denn das Thema Kontrolle ist bekanntlich in der analen Phase lokalisiert. Zufall? Eher nicht. Der Vater hat die Familie verlassen, als Herr M. vier Jahre alt war, ab diesem Zeitpunkt habe sich der Klient immer sehr verantwortlich gefühlt für das Wohlergehen seiner Mutter. Es falle ihm schwer, ihr einen Wunsch abzuschlagen, auch wenn sie seine Hilfe nicht wirklich benötige.

Wir üben das innere Selbstvertrauen und Kontrollerleben durch die Fähigkeit, das eigene psychophysiologische Erregungsniveau zu regulieren und seine sozialen Beziehungen durch offene Kommunikation und Abgrenzungsfähigkeit aktiv mitzugestalten. Die interne Überzeugung, unerwarteten Situationsausgängen hilflos ausgeliefert zu sein, lässt sich auflösen durch die Fähigkeit, sich in emotional aversiven Erregungszuständen selbst zu regulieren, ein Ventil und eine adäquate Ausdrucksform für Gefühle zu finden, Spannungen abzubauen und den Zustand innerer Ruhe zu evozieren. Dabei helfen neben der Bewegung Atem-, Achtsamkeits- und Meditationstechniken, Singen, Summen, Schaukeln und häufige Aufenthalte in der Natur.

So gelingt es dem Klienten immer besser, potenzielle Gefahren nicht vermeiden zu müssen, sondern sich zuversichtlich allen Facetten des Lebens zu stellen im Sinne des full catastrophe living nach Jon Kabat-Zinn. Aus dem Wunsch, im Außen alles kontrollieren zu wollen, wird die Überzeugung, im Inneren alles im Griff zu haben, was ihm ermöglicht, im Außen auch mal loszulassen.

Nach sechs Monaten Entspannung, Bewegung, Abgrenzung und Regulation sowie einer bewussteren Ernährung und einer ärztlich abgesprochenen dreimonatigen hochdosierten Probiotikakur ist die Reizdarmsymptomatik so gut wie verschwunden. Die Mutter des Klienten habe mit 65 Jahren das erste Mal wieder einen neuen Partner und es mache ihm überraschend wenig aus, er denke sogar darüber nach, selbst zu daten, und fürchte sich nun auch nicht mehr vor „unangenehmen Überraschungen“: Den gelegentlichen Nervositätsdurchfall kann Herr M. mit einem wohlwollenden Lächeln für seinen aufgeregten und dauerwachen Darm gut verkraften. Und die neue Freundschaft mit seinem Darm bewegt ihn dazu, nun auch öfter zum Sauerkrauttopf zu greifen.

* Persönliche Daten und alle Einzelheiten, die den Klienten erkennbar machen könnten, wurden verändert.

Daniela Botz ist niedergelassene Psychotherapeutin. Vor kurzem erschien ihr zusammen mit Karolina Friese verfasstes Buch Wie der Körper die Seele heilt. Mit Körperübungen intensive Gefühle regulieren bei Junfermann.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2024: Bin ich gestresst oder habe ich ADHS?