Abenteuerromane sind nicht nur gute Urlaubslektüre, manchmal finden sich darin auch Stellen, die viel darüber sagen, wie die Menschen funktionieren. In Robert Louis Stevensons Die Schatzinsel, dem vielleicht berühmtesten Abenteuerroman der Welt, geht es viel um Kisten – und nicht nur um Schatzkisten, die dort vergraben sind, wo auf der Karte ein X zu finden ist, sondern auch um viel banalere Kisten, die für die Menschen aber fast noch wichtiger sind als Kisten voller Gold und Edelsteine.
Der Roman beginnt…
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die für die Menschen aber fast noch wichtiger sind als Kisten voller Gold und Edelsteine.
Der Roman beginnt damit, dass ein finsterer Pirat mit Augenklappe auftaucht, der dauernd betrunken ist und immer einen Säbel bei sich trägt. Er heißt Billy Bones und alle haben Angst vor ihm; als er plötzlich stirbt, gibt es ein Problem: Er hat seine Zeche im „Admiral Benbow“ nicht bezahlt und die Herberge ist kurz davor, pleite zu gehen, wenn man nicht an das Geld des Piraten rankommt. Deswegen beschließt die Wirtin, seine Seemannskiste zu öffnen, die der alte Seeräuber immer streng geheim gehalten hat.
Kleiner Einblick in die Psyche
„Ein starker Tabak- und Teergeruch schlug uns entgegen, doch war oben nichts zu sehen als ein sehr gut erhaltener Tuchanzug, sorgfältig gebürstet und zusammengelegt; meine Mutter meinte, er sei nie getragen worden. Darunter aber fing das Durcheinander an: ein Quadrant, eine Zinnbüchse, mehrere Tabakrollen, zwei Paar sehr hübsche Pistolen, ein Stück Stangensilber, eine alte spanische Uhr und einige andere Schmucksachen von geringem Wert und meist ausländischer Herkunft, ein mit Messing beschlagener Zirkel und fünf oder sechs merkwürdige Muscheln aus Westindien. Oft habe ich seitdem nachgedacht, warum er wohl diese Muscheln bei seinem schuldbeladenen und gehetzten Wanderleben mit sich geschleppt haben mag.“
Zwischen allen diesen Dingen findet sich tatsächlich ein Beutel voller Geld. Und schließlich – ganz unten am Boden der Truhe – die Schatzkarte, die die Handlung des Buches anstößt. Interessant sind aber doch auch all die anderen Gegenstände, die der Schatzkartenfund am Ende aus dem Blickfeld verbannt.
Alles in der Kiste sind Dinge, die ein Pirat braucht, das Interessanteste sind aber die schönen Muscheln, weil sie einen kleinen Einblick in die Psyche des grimmigen Seemanns geben: Warum sollte ein Seeräuber wie Billy Bones ein paar hübsche Muscheln aufbewahren? Erinnerten sie ihn an eine glückliche vergangene Zeit oder fand er sie einfach hübsch? Oder wurden sie ihm einmal von jemandem geschenkt, den er mochte? Billy Bones ist tot und kann es nicht mehr verraten.
Streng privat! Ansehen verboten!
Wir sind zwar keine Piraten, aber jede und jeder von uns kann sehr gut verstehen, dass Bones diese Muscheln aufbewahrt hat. Denn eine solche Kiste haben fast alle Menschen. Einen Ort zu haben, in dem allerlei intime Dinge aufbewahrt werden, ist eine ausgesprochen menschliche Angelegenheit, und solche Individualräume des Eigentums, wie man sie nennen könnte, sind psychologisch ausgesprochen wichtig.
Besonders Kinder pflegen solche Schachteln, Schubladen oder verschließbaren Tagebücher, und sie sind für ihre Entwicklung sehr bedeutsam, weil sie dort zum ersten Mal „Eigentum“ einüben können, Geheimnisse haben und Dingbeziehungen aufbauen können. Weil die Psychologie solche Individualräume noch nicht untersucht hat, lohnt es sich, auch in anderen Erzählungen nach ihnen zu fahnden: In Carson McCullers’ Das Herz ist ein einsamer Jäger hat die Hauptfigur Mick Kelly eine solche Schachtel, die sie unter ihrem Bett versteckt:
„In der großen Schachtel lagen die Bilder, die sie im Zeichenkurs gemalt und nun aus Bills Zimmer entfernt hatte. Außerdem enthielt die Schachtel drei Kriminalromane, die sie von ihrem Papa geerbt hatte, eine Puderdose, ein Kästchen mit allerlei Uhrenteilen, eine Halskette aus Strass, einen Hammer und einige Notenhefte. Ein Notenheft war verschnürt, darauf war in Rot geschrieben: Streng privat! Ansehen verboten! Privat!“
Schutzraum für meine Dinge
Micks Hutschachtel und Billy Bones’ Seemannskiste sind ihr eigener kleiner Raum, in dem die Dinge aufbewahrt werden, die sie zu dem machen, was sie sind. Fast jeder Mensch hat einen solchen Ort: eine Schuhschachtel, die ganz weit unter das Bett geschoben wurde, eine Schublade oder eine Handtasche, in der sich ein Sammelsurium scheinbar unnützer Dinge verbirgt, deren Wert nur diejenige kennt, der sie gehören.
Darin sind vielleicht ebenfalls Muscheln oder alte Fotos, Erinnerungsstücke, Souvenirs oder anderer Kleinkram, die alle keinen großen materiellen Wert, aber eine sehr große Bedeutung für den Menschen haben, in deren Besitz sie sind. Sie gehören auf eine besonders intensive Weise zu dieser Person und ihrer Art und Weise, in der Welt zu sein. Sie sind ein besonders persönliches Eigentum, das nur für einen einzigen Menschen und niemanden sonst bedeutsam und wichtig ist.
Primo Levi, der das Konzentrationslager Auschwitz überlebt hatte, sprach davon, wie wichtig es für die Gefangenen war, einen Nagel über der Pritsche zu haben, um nachts die Schuhe daran aufhängen und darin vielleicht noch anderes über die Nacht aufbewahren zu können: „Die Fähigkeit des Menschen, sich auch in offenbar verzweifelten Situationen einen Schlupfwinkel zu schaffen, sich abzukapseln, eine dünne Schutzwand rings um sich zu errichten, ist erstaunlich groß und verdiente eine eingehende Untersuchung“, schrieb Levi.
Menschen versuchen, für sich und für ihre Dinge kleine Schutzräume zu bauen, in denen sie sich selbst und die Gegenstände aufbewahren können, die auf eine fast organische Weise zu ihnen selbst gehören. Wir sind, wie Levi es nannte, „Behälterwesen“: Wir tragen jeden Tag Taschen oder Rucksäcke mit uns herum, wir haben Hosentaschen und Beutel, in denen oftmals wiederum andere Täschchen oder Dosen sind. Wir haben Jacken und Pullover an, die Behälter für unseren Körper sind und sogar unsere Wohnungen sind letztlich nichts anderes als Behälter für uns selbst, die wir mit anderen Behältern – Schränken, Kisten, Schubladen, Betten – vollgestellt haben.
Das erste bedeutsame Werkzeug
Es gibt eine lange Debatte in der wissenschaftlichen Anthropologie, was das erste Werkzeug war, das die Menschheit erfunden hat. Aus der Frühzeit des Menschen sind nur wenige Dinge erhalten, das meiste aus sehr harten, dauerhaften Materialien: Messer, Beilköpfe, Speer- oder Pfeilspitzen. Aber sind das wirklich die ersten Werkzeuge der Menschheit gewesen? Sind sie vielleicht nur übriggeblieben, weil sie härter und haltbarer sind als andere Werkzeuge, die aus Rinde oder Gräsern gemacht wurden? War das erste Werkzeug vielleicht eine kleine Schale aus Holz oder Rinde, die zufällig im Wald gefunden wurde und in der der Neandertaler oder der Pithecanthropus Beeren und Wurzeln sammeln konnte?
Ursula Le Guin, eine wegweisende Autorin in der Science-Fiction-Literatur, hatte dazu eine sehr klare Meinung: Ihr zufolge waren die ersten Werkzeuge genau solche Behälter. Ihr waren die Gewaltwerkzeuge zum Werfen, Stechen oder Schneiden unsympathisch, weil die Geschichten, die wir von ihnen ausgehend erzählen können, stets patriarchale Heldengeschichten sind. Sie schrieb:
„Wenn es menschlich ist, eine nützliche, essbare oder schöne und deshalb erstrebte Sache in eine Tasche zu legen oder in einen Korb oder ein Stück gerollte Rinde oder ein Blatt oder ein aus den eigenen Haaren gewobenes Netz oder was auch immer und sie nach Hause mitzunehmen, in ein Zuhause, das nur ein größeres Gefäß oder eine Tasche ist, ein Behälter für Menschen; und wenn man diese Sache dann später wieder herausnimmt und sie isst, teilt oder zerstört oder sie für den Winter in einem stabileren Behältnis unterbringt oder sie in den Medizinbeutel, den Schrein oder das Museum packt, den heiligen Ort, den Bereich, der das beinhaltet, was heilig ist; und wenn man am nächsten Tag mehr oder weniger dasselbe tut – wenn das menschlich ist, wenn das dafür entscheidend ist, dann bin ich wirklich ein menschliches Wesen.“
Was den Menschen zum Menschen machte
Erst Behälter haben den Menschen zum Menschen gemacht. Die anthropologische Forschung ist dabei auf Le Guins Seite: In der Steinzeit lebten die Menschen zum allergrößten Teil vom Sammeln, für das es irgendeine Art von Behältern brauchte. Beeren, Wurzeln, Körner, Blätter und Kleinwild wie Nagetiere oder Fische machen auch bei den heute noch existierenden Jägerinnen- und Sammlergemeinschaften etwa 80 Prozent der Ernährung aus, und das legt nahe, dass Behälter wichtigere Werkzeuge sind als Waffen. Letztere mögen zwar Stoff für spannende Geschichten hergeben, wenn man vom Mammut oder von dem Leoparden erzählen kann, den man erlegt hat.
Doch zur Ernährung hat die Jagd mit Waffen tatsächlich relativ wenig beigetragen. Für Ursula Le Guin und Primo Levi sind wir Behälterwesen, und die ganz persönlichen Container für uns und unsere Dinge haben eine sehr alte und große Bedeutung für die menschliche Psyche. Gleichwohl sind diese kleinen Räume, die Dinge von hohem persönlichem Wert enthalten, bis heute ein weitgehend übersehener Teil unserer Alltagskultur.
Eingebettet in Austausch
Die Gegenstände, die wir auf diese Weise bewahren, implizieren eine Form von persönlichem Besitz, die die bei uns vorherrschende Vorstellung von Eigentum außer Acht lässt: Seit der Aufklärung ist die wichtigste Eigentumsform das „Privateigentum“. Wer sich umsieht, wird kaum etwas finden, das nicht in irgendeiner abstrakten Weise Eigentum oder Besitz einer Person oder Institution ist, auch wenn der genaue Eigentümer unbekannt ist.
Es ist fast so, als ob in unserer Kultur jeder einzelne Gegenstand unsichtbar mit dem Namen seines Besitzers versehen ist: Ganz gleich ob es sich um einen Baum oder ein Straßenschild handelt oder um das Auto, das danebensteht, oder um die Süßigkeiten auf dem Armaturenbrett oder um die Aktien des Unternehmens, das das Auto gebaut hat – all das ist privates Eigentum, und oftmals ist es das auf eine distanzierte, abstrakte Weise. Es ist Eigentum, weil Menschen es gekauft, hergestellt oder geschenkt bekommen haben, das heißt, es ist eingebettet in ein System des Austauschs zwischen den Eigentümerinnen und Eigentümern.
Daneben gibt es aber eben unser personales Eigentum, das wir in unseren Taschen und Schachteln aufbewahren: Wir tauschen es kaum je mit anderen, es hat oft keinen materiellen Wert, ist sehr eng mit unserer Körperlichkeit verbunden und psychologisch von größter Bedeutung. Ohne unsere Container und die Dinge darin würden wir uns unvollständig fühlen.
Diktatur des Privateigentums
In den USA gibt es die christliche Gemeinde der Hutterer, eine alte Täufergemeinschaft, die ähnlich wie die bekannteren Amish in einer landwirtschaftlich orientierten Gütergemeinschaft lebt und die einen altdeutschen Dialekt spricht. Diese Gemeinschaft tradiert eine Lebensform, die solche persönlichen Räume besonders pflegt und schützt. Zwar gehört im Großen alles allen gemeinsam, eine Art Kommunismus, in der aber jeder Mensch eine sogenannte „Kischte“ hat. Diese Kischte ist tatsächlich eine verschließbare Holzkiste, in der die Hutterer zum Beispiel die Zahnbürste oder andere Hygieneartikel aufbewahren.
Es ist selbstverständlich nicht leicht herauszufinden, was sonst noch in den Kischten ist, aber es heißt, dass darin auch andere Dinge aufbewahrt sind: Ein Bericht erzählt von Büstenhaltern, Cowboystiefeln oder sogar einer Ausgabe des Playboy – alles Dinge, die in der sehr strengen christlichen Gemeinschaft eigentlich nicht geduldet werden. Nur in der Kischte dürfen sie sein. Diese Kischten sind der kleine Ort der Freiheit, wo man sich selbst ausprobieren kann, wo man anders fühlen kann, als die Gesellschaft es verlangt – ganz genauso wie Billy Bones die hübschen Muscheln hatte, mit denen er sich als jemand erleben konnte, der nicht nur ein finsterer Pirat, sondern ein empfindsames ästhetisches Wesen war.
Vielleicht könnten uns die Kischten sogar einen Weg weisen, der Diktatur des Privateigentums zu entkommen. Der reichste und der ärmste Mensch teilen die Tatsache, dass sie nur in einem Bett schlafen können, nur eine dicke Jacke anhaben können und nur eine schwere Tasche tragen; sie teilen auch, dass sie kleine Dinge haben, die ihnen besonders wichtig sind, auch wenn sie nicht viel wert sind. Wir alle haben unsere Kischte – und vielleicht brauchen wir auch gar nicht viel mehr als das.
Andreas Gehrlach ist Kulturwissenschaftler und Programmdirektor am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien.
Quellen
Andreas Gehrlach: Das verschachtelte Ich. Individualräume des Eigentums. Matthes und Seitz 2020
Carson McCullers: Das Herz ist ein einsamer Jäger. Übers. v. Susanna Rademacher. Zürich 2013
Primo Levi: Eine Flasche voll Sonne. In: Die dritte Seite. ‚Liebe aus dem Baukasten‘ und andere Erzählungen und Essays. Übersetzt von Hubert Thüring und Michael Kohlenbach. Basel 1992, S. 101–105
Ursula Le Guin: The Carrier Bag Theory of Fiction. In: Dancing at the Edge of the World. Thoughts on Words, Women, Places. New York 1988, S. 165–170
Robert Louis Stevenson: Die Schatzinsel. Übersetzt von Ferdinand Ginzel und Hans Seiffert. Berlin 1956