Gibt es jetzt etwa Chips und Popcorn?“ Johannes Müller (Name geändert), der zu einem gemütlichen Afterworkplausch bei Freunden eingeladen ist, greift zur Jacke und geht. Für ihn ist es unerträglich, neben essenden Menschen zu sitzen, es macht ihn wütend, regelrecht aggressiv. Er kennt diese Abneigung seit seiner Kindheit, doch mit den Jahren wurde es immer schlimmer.
Anfangs fand er Menschen, die neben ihm einen Apfel aßen, unerträglich, später verließ er sogar Familienfeiern grußlos, wenn seine Mutter mit…
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sogar Familienfeiern grußlos, wenn seine Mutter mit ihrem typischen Husten anfing. Als Misophonie bezeichnen Psychologen diese Störung, die von den beiden Neurowissenschaftlern Pawel und Margaret Jastreboff 2001 erstmals beschrieben wurde. Sie bezeichneten Misophonie als einen „Hass“ auf bestimmte Geräusche wie Kauen, Schmatzen, Husten oder lauteres Atmen.
So wie Johannes Müller geht es etwas mehr als drei Prozent der deutschen Bevölkerung, bei Tinnitusbetroffenen kennen etwa 60 Prozent diese Beschwerden, die mit hoher Aggression bis hin zum Kontrollverlust einhergehen können. Jeder von uns empfindet manche Geräusche als lästig – zum Beispiel Kaugummikauen oder geräuschvolles Atemholen –, für manche Menschen bedeuten sie jedoch ungeahntes Leiden.
Für Johannes Müller ist es schwierig, seine Aggression zu erklären. Als Musiker hat er ein feines Gehör, und dieses reagiert sensibel auf „Störungen“. Dass er in Esssituationen mitunter ausrasten könnte, nimmt er als gegeben hin, aber er wünschte, diese Sensibilität nicht zu haben, weil sie Konflikte in der Familie und in Beziehungen schürt.
Das furchtbare Knacken des Kiefers
Auch die Psychotherapeutin Claudia Stark (Name geändert) kennt derartige Situationen. „Das Gefühl, wenn jemand neben mir isst, ruft bei mir Ekel und Abscheu hervor und ich kann mich auf nichts anderes mehr konzentrieren, spüre nur, wie in Millisekunden eine große körperliche Anspannung in mir aufkommt“, erzählt die 30-Jährige.
Aufgrund dieser Reaktion hat sie schon in ihrer Studienzeit Klausuren verlassen: „Ich konnte es nicht ertragen, wenn jemand im Raum isst.“ Freilich hat dieses Verhalten massive Probleme in partnerschaftlichen Beziehungen gebracht, denn für einen Partner ist es anstrengend, einen Misophoniker zu verstehen.
Für Claudia Stark ist eine Essenssituation generell schlimm, denn immer wieder schmatzt jemand bei der Tischgesellschaft, der eine oder die andere beißt unabsichtlich auf das Besteck oder knackt unbewusst mit dem Kiefer. „Ich denke mir dann: Das muss doch nicht sein, ist dieser Mensch so rücksichtslos, dass er nicht merkt, wie eklig sein Verhalten ist?“
Freilich weiß Stark auch, dass diese Annahme völlig irrational ist und dass sie damit Nahestehende extrem verletzt. Auch das ist charakteristisch bei Misophonikern: dass sich die Wut gegen Menschen richtet, die sie eigentlich schätzen und lieben.
„Auf die Qualität der Beziehung hat dieses Verhalten keinen Einfluss, denn ich verstehe mich mit den Menschen, die ich in Esssituationen anfeinde, ja grundsätzlich sehr gut – und genau das macht mir auch ein schlechtes Gewissen.“ Daher versucht Claudia Stark ihre Aggression zu verbergen, und nur ihr Nahestehende wissen, wie empfindlich sie reagiert.
In Gruppen zieht sie sich zurück und vermeidet die Situation. „Ich weiß, in fünf Minuten ist wieder alles okay, das Gefühl hat mich noch nie bis zum Kontrollverlust gebracht“, so die Betroffene. Denn wenn der Trigger zum Beispiel im Kino beim Chipsessen erfolgt, verlässt sie schnell den Ort. Wie Claudia Stark und Johannes Müller haben Misophoniker einen enormen Leidensdruck, denn sie befürchten, dass andere sie für verrückt halten.
Gehirn oder Psyche?
Der niederländische Psychiater Damiaan Denys vom Academisch Medisch Centrum (AMC) in Amsterdam begegnete 2005 in seiner Praxis erstmals diesem Phänomen, dessen Beschreibung ihm durch Pawel und Margaret Jastreboff bekannt war. Er wollte mehr darüber herausfinden. Eine Patientin ekelte sich vor niesenden Menschen und entwickelte Wut und Aggression.
In den nächsten Jahren stellten sich viele weitere Betroffene mit ähnlichen Symptomen bei Damiaan Denys vor und er begann mit seinem Team, akribisch zu forschen. „Wir fragten uns, ob wir die Symptome beschreiben könnten und wie dies zu einer echten Diagnose führen würde. Wenn das möglich wäre, könnten wir vielleicht auch eine Behandlung dafür entwickeln.“
Es war der Beginn eines Forschungsprojekts, in dem Praktiker, Wissenschaftler und Patienten sehr eng zusammenarbeiteten. Die AMC-Forscher verglichen Misophoniesymptome mit bestehenden psychiatrischen Störungen. „Es sah ein wenig nach einer posttraumatischen Belastungsstörung aus – aber ohne ein echtes Trauma. Es sah auch ein wenig wie eine Phobie aus, nur ohne Angstgefühle. Es gab sogar eine Ähnlichkeit mit Autismus – aber dann könnte man oft viele Arten von Reizen nicht aushalten.“
Nach zahlreichen Studien in Amerika und Europa manifestierten sich zwei Lehrmeinungen: Europäische Forscher wie Damian Denys gehen heute davon aus, dass Misophonie eine psychologische Störung ist, amerikanische Forscher sind der Ansicht, dass veränderte neurologische Abläufe die Ursache sind. Im Jahr 2017 legte Sukhbinder Kumar von der Universität in Newcastle eine Studie an 42 Probanden vor, die zu dem Ergebnis kam, dass das Problem in der vorderen Inselrinde im Gehirn liege und damit neurologische Ursachen habe.
Überstimulation
Kumar hatte an Patienten eine Magnetresonanztomografie vorgenommen, die zeigte, dass in besagten Situationen diese Region eine hohe Aktivität entwickelt. Kritiker monierten, die Studie sei zu klein, um die nötige Evidenz zu erbringen, und erkläre nichts: Reagiert das Gehirn auf ein erlerntes Verhalten oder ist das Verhalten aufgrund einer Fehlsteuerung im Gehirn da? Weitere psychologische Studien ergaben, dass Angststörungen, Zwangsstörungen oder schizoide Persönlichkeitsstrukturen mit einer Misophonie in Zusammenhang stehen könnten.
Für das AMC-Team stellte sich daher erstens die Frage, welche Kriterien erfüllt sein müssten, ehe ein Mensch mit Misophonie diagnostiziert wird, und zweitens, ob die Krankheit auch im Gehirn sichtbar ist. „Zuerst haben wir in den auditorischen Teil des Gehirns geschaut, um herauszufinden, ob Misophonie etwas mit einer Hörschädigung zu tun hat“, sagt Damiaan Denys. Dies war nicht der Fall.
Es zeigte sich jedoch, dass die automatische Klangreizverarbeitung nicht normal abläuft, was durch eine EEG-Studie belegt werden konnte. „Tatsache ist, dass die Verarbeitung von Schallreizen bei Misophonikern nicht die gleiche ist wie in der gesunden Kontrollgruppe“, so der Wissenschaftler. Dies könne zu einer Überstimulation und starken Emotionen führen, sagt Denys.
Beginn in der Pubertät
Claudia Stark erinnert sich, dass es bei ihr in der Pubertät anfing. Das ist aber auch schon der kleinste gemeinsame Nenner, der der Forschung zugrunde liegen dürfte, wie auch Hanna Kley, die geschäftsführende Leiterin der Psychotherapie-Ambulanz an der Universität Bielefeld, bestätigt.
Die Wissenschaftlerin: „Wir nehmen an, dass es sich um eine zweite Konditionierung handelt, die das Verhalten oder die Reaktion steuert. Bei einigen Probanden hat sich gezeigt, dass der Trigger auf einzelne Personen zurückzuführen ist, andere wieder reagieren auf ein bestimmtes Geräusch. Über die Entstehung wissen wir sehr wenig, wir haben kein Muster, das dieses Phänomen erklären kann. Möglicherweise liegt dem auch eine genetische Komponente zugrunde. Wir arbeiten daran.“
Auffällig ist, dass sich die Aggressionen durchweg gegen Menschen richten, die im nahen Umfeld sind. „Dieser Aggression liegt jedoch nur in den seltensten Fällen eine konfliktbehaftete Beziehung zugrunde“, erklärt Hanna Kley, „und das ist auch eines der größten Probleme für Betroffene: Sie lieben diese Menschen, gegen die sie im Handumdrehen eine blinde Aggression entwickeln, wenn ein bestimmter Geräuschtrigger von ihnen ausgeht, also etwa der Biss in einen Apfel oder das Kaugeräusch beim Essen von Chips.“
Ein Umstand, der für Betroffene noch mehr Probleme bringt, denn wenn die an sich geliebte Mutter, Freundin, der Freund den Trigger auslöst, ist das Geräusch für Betroffene zwar unerträglich, doch sie wissen genau, dass ihr Verhalten eine Überreaktion ist. Sie schämen sich und es tut ihnen leid, gegen diese Menschen Aggressionen zu entwickeln. Dennoch sind Wut und Aggression für Betroffene weitgehend unkontrollierbar.
Der familiäre Esstisch
Für Misophoniker und andere geräuschempfindliche Menschen sind die Entwicklungen der Forschung allerdings vielversprechend. „Wenn Betroffene wissen, dass sie darüber reden können, ohne für verrückt erklärt zu werden, und sich nicht verstecken müssen, mindert das schon den Leidensdruck“, so Hanna Kley.
Der Psychotherapeutin ist es ein Anliegen, herauszufinden, was die Lebensführung der Menschen beeinträchtigt und was man tun kann, damit sie sich weniger verrückt fühlen. Die Wissenschaftlerin und ihr Team haben 109 freiwillige Probanden für eine Studie gewonnen, die das Phänomen Misophonie ergründen soll. Sie hoffen nun, nähere Erklärungen für die Ursachen der Störung zu finden.
Psychiater Damiaan Denys weiß, dass vieles an dieser Störung mit dem Umgang mit Wut zu tun hat. Oftmals beginnt eine Misophonie am Familientisch. „Kinder oder Jugendliche entwickeln Hass gegen Essgeräusche eines Elternteils, möglicherweise auch deshalb, weil gerade in diesen Situationen unangenehme Gespräche geführt werden.“ Das prägt sich bei Kindern ein, diese Wut ist demnach ein erlerntes Verhalten. Eine andere Erklärung betrifft die Aggressionsbewältigung, die Kinder und Jugendliche üblicherweise in der Pubertät erlernen.
„In Familien, in denen es nicht probat ist, Wut rauszulassen, um zugleich auch Bewältigungsstrategien zu erlernen, brauchen Jugendliche ein Ventil. Und in vielen Familien muss die Wut kontrolliert bleiben, Jugendliche müssen diese Spannungen erdulden und dürfen keine Probleme machen. Klar, dass sich in diesem Lebensalter Aggressionen anstauen. Und wer keine Bewältigungsstrategien gelernt hat, sucht nach einem anderen Ventil“, sagt Damiaan Denys.
Wege aus dem Leiden
Mittlerweile haben unterschiedliche medizinische Fachrichtungen wie HNO, Audiologie und Neurologie begonnen, sich mit dem Phänomen auseinanderzusetzen. Ziel ist, die Misophonie von anderen Erkrankungen wie etwa Tinnitus, Traumafolgen oder Ängsten abzugrenzen. „Es gibt Menschen, die Angst vor Geräuschen haben, so etwa wenn ein Missbrauchstäter geschmatzt hat. Das Opfer entwickelt dann Angst vor diesem Geräusch, hier handelt es sich aber nicht um Misophonie, sondern um eine Angststörung infolge eines erlittenen Traumas.
Heute wissen wir somit, dass die Misophonie sowohl eine psychische Erkrankung begleiten kann als auch mit einer Tinnitus-Erkrankung Hand in Hand gehen oder als eigenständiges Phänomen auftreten kann“, sagt Hanna Kley. An ihren Patienten untersucht sie, wie häufig das Phänomen auftritt und in welcher Weise es deren Lebensführung beeinträchtigt.
Inzwischen ist es Damiaan Denys gelungen, ein Behandlungskonzept zu entwickeln und zu evaluieren. Basis ist die kognitive Verhaltenstherapie. Das Ziel ist, den Negativkreislauf von „Irritation und Vermeidung oder Vermeidung und Irritation“ zu durchbrechen.
„Wir zeigen Videoclips, in denen wir die verhassten Geräusche nachstellen. So etwa klingt das Gehen in knirschendem Schnee ähnlich wie das Essen von Chips, wir mischen diese Geräusche und zeigen den Betroffenen schöne Bilder, wie etwa das Gehen im Schnee mit schöner Musik. Betroffene lernen dabei, die verhassten Geräusche mit einer positiven Konnotation zu besetzen“, so Damiaan Denys.
Die Therapie dauert acht Wochen, einen Tag in der Woche verbringen die Patienten im AMC und erhalten Aufgaben, die sie zu Hause erledigen müssen, wie etwa Situationen aufzeichnen, Spannungszustände dokumentieren, ihr eigenes Verhalten reflektieren.
In den letzten fünf Jahren haben sich etwa 2000 Betroffene im AMC vorgestellt und die Methode funktionierte bei etwa 60 bis 70 Prozent von ihnen. Bislang ist die Psychiatrieabteilung des AMC die einzige europaweit, die diese Behandlung anbietet. Damiaan Denys: „Tausende von Patienten mit einer Misophonie benötigen eine adäquate Diagnose und eine gezielte Behandlung.“
Arjan Schröder u. a.: Diagnostische Kriterien für eine neue psychiatrische Störung. PLOS, 8/1, 2013. DOI 10.1371/journal.pone.0054706
Arjan Schröder u. a.: Die kognitive Verhaltenstherapie ist bei Misophonie wirksam: Eine offene Studie. Journal of Affective Disorders, 1, 2017:289-294. PubMed. DOI 10.1016/j.jad.2017.04.017
Jennifer Jo Brout: Investigating Misophonia: A Review of the Empirical Literature, Clinical Implications, and a Research Agenda. Frontiers in Neuroscience, 12, 2018. DOI 10.3389/fnins.2018.00036